Der
anregende Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch ist am 26. März 2023
im Alter von 81 Jahren gestorben. Dieser Text ist eine persönliche
Erinnerung und Würdigung. Zugleich führt er knapp in einen – aus meiner
Sicht zentralen – Gedanken in Schivelbuschs Werk ein, der hilft, es zu systematisieren.
„Erlösung im Zurück“, das war Wolfgang Schivelbuschs letztes, unvollendet gebliebenes Projekt, das er seit 2020 am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Eigenregie verfolgte. In kondensierter Form ruft er in der Beschreibung des Forschungsvorhabens noch einmal einige jener Gegenstände und Studien in Erinnerung, die ihn in den vergangenen vier Jahrzehnten beschäftigt und zu einem der interessantesten Gelehrten der Kultur- und Geschichtswissenschaften gemacht haben. So nennt er die Untersuchung von Verlusterfahrungen oder die geänderten Raum-, Zeit- und Lebensformen durch technologische Durchbrüche wie die Eisenbahn.
Mit einer „Geschichte der Eisenbahnreise“ trat Wolfgang Schivelbusch 1977 an die Öffentlichkeit; ein Buch, das noch heute als stilbildend gilt und sich der Frühphase der industriellen Revolution annäherte, in der Menschen die Eisenbahn als „Vernichtung von Raum und Zeit“ (Schivelbusch 2007 [1977], S. 35) wahrnahmen. Wenige Jahre später bearbeitete er in „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ (1980) die große Frage, welche Rolle Genussmittel in der Entwicklung der Geschichte des neuzeitlichen Menschen gespielt hätten. Anhand des schlichten sprachlichen Hinweises auf die leicht verschobene Bedeutung des Wortes „stimulants“ in englischer wie französischer Sprache im Gegensatz zu ihrem deutschen Pandant "Genussmittel", kommt er zu einer seiner Ausgangsthesen: „(…) nicht nur zum reinen paradiesischen Genuß haben diese Stoffe gedient. Sie haben immer auch gleichzeitig »Arbeit« geleistet. (…) Die Vorgänge, die die Genußmittel im menschlichen Organismus bewirken, vollenden sozusagen chemisch, was geistig, kulturell und politisch schon vorher angelegt war“ (Schivelbusch 1980, S. 11f.).
Nach den frühen Studien, die sich der Stofflichkeit von Gegenständen und ihrer Wirkung auf den Menschen verschrieben sahen, vollzog Schivelbusch Anfang der 1980er-Jahre einen ersten Wechsel der Blickrichtung. Er wandte sich der geistigen Arbeit zu, schrieb eine Intellectual History über die Frankfurter Intelligenz der 1920er Jahre, arbeitete später an einer Geschichte über das Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit („Intellektuellendämmerung“, 1982 und „Vor dem Vorhang“, 1995). In den letzten zwanzig Jahren setzte er sich dann intensiv mit der „Kultur der Niederlage“ (2001) oder dem militärischen „Rückzug“ (2019) auseinander oder stellte die Frage, ob eine „Entfernte Verwandtschaft“ zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal vorläge (2005). Weitere Bücher schrieb Schivelbusch z.B. über die Geschichte der künstlichen Helligkeit (1983) oder zur Bibliothek von Löwen, die sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach wieder aufgebaut worden war (1988).
Scheinbar abseitige Themen, kühne Gedankensprünge, meisterhafte Synthesen aus einer unermesslichen Fülle an Material, gesammelt über Monate in Archiven und Bibliotheken dies- und jenseits des Atlantiks – das zeichnete Schivelbusch aus.
Geboren wurde Wolfgang Schivelbusch am 26. November 1941 in Berlin, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte nach einem Volontariat beim „Wiesbadener Kurier“ Literaturwissenschaften, Philosophie und Soziologie – zunächst für ein Semester an der FU Berlin, dann an der Goethe-Universität in Frankfurt und später wiederum in Berlin. Er schloss sein Studium Anfang der 1970er-Jahre mit einer Promotion bei Hans Mayer ab. Während seiner Studienzeit besuchte er unter anderem die Vorlesungen oder Seminare von Theodor W. Adorno und Peter Szondi. In seiner glänzenden Autobiographie „Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin“ (2021) schilderte er seine Erlebnisse in den Vorlesungen und Seminaren Adornos so: „«Erleben» hieß (…) in meinem Fall: andächtig zuhören, ohne selber ein Wort zu sagen. Nicht als Lehrfach hatte ich mir die Philosophie vorgestellt, sondern als Selber Philosophieren. Also das, was mir später unter der Bezeichnung «Spekulation» bekannt wurde“ (Schivelbusch 2021, S. 30).
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Das „freie Spekulieren“ brachte mich und Wolfgang Schivelbusch Anfang 2022 zusammen, nachdem wir Ende 2021 im Zuge der Veröffentlichung seiner Autobiographie schriftlich miteinander in Kontakt gekommen waren. Ich traf ihn in seiner Wohnung im Berliner Westend mit dem festen Ziel, ein Interview für meinen Blog zu führen. Am Ende saßen wir über drei Stunden zusammen und bewegten uns frei von Gegenstand zu Gegenstand – ein klassisches Interview war das nicht mehr. Dies ist eine Erfahrung, die Menschen offenbar häufig machten, wenn sie Wolfgang Schivelbusch begegneten. Peter Richter schreibt in seinem Nachruf für die „SZ“ treffend: „Er wollte die ganze Zeit viel lieber selber lernen, im Austausch mit dem Gegenüber die eigenen Gedanken entwickeln, manchmal verwickeln, und dann wieder aufrauen und stachlig machen“.
„Erzählen Sie“, sagte er also, kaum das wir uns mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Kaffee in sein Arbeitszimmer zurückgezogen oder ein Café betreten hatten. Und so begann ich, begannen wir. Alltagsbeobachtungen, Lektüreerlebnisse, Erkenntnisse aus meiner Archivarbeit für meine Dissertation über die Kritiker der Gruppe 47. In unserem gedanklichen Spaziergang passierten wir geschwungene Autokarosserien (ein mir völlig unvertrautes Gebiet), die Eigenarten der first name basis in den Vereinigten Staaten und wie deutsche Professoren sich Schivelbuschs Erinnerung nach damit schwertaten: „Die redeten sich auf Englisch mit ihren Vornamen an und sagten dann am Rande der Konferenz `Nachher sind wir wieder bei ‚Sie‘, Herr Kollege‘“.
Vor allem das große, sperrige, weil mit Bedeutung aufgeladene Wort „Nostalgie“ umkreisten wir in unseren Treffen immer wieder. Kein anderes Konzept (ich nutze dieses Wort in Ermangelung eines treffenderen und bin nicht sicher ob es Wolfgang Schivelbusch gefallen hätte) hat uns beide in unseren Gesprächen mehr interessiert. In ihm drücken sich Sehnsucht und Schmerz aus, Verlust und die Unmöglichkeit zurückzukehren. Gleichzeitig – und hier wird es dialektisch – ist diese spezifische Erfahrung (und vermutlich ist dies das Wort, das Schivelbusch weit passender gefunden hätte) ohne den Fortschritt nicht denkbar. So ist denn die Erforschung des (technologischen) Fortschritts, gestützt jedoch auf historische Quellen, auf Augenzeugenberichte, Studien, Aufsätze einer längst vergangenen Zeit, eines der Hauptthemen in Schivelbuschs Werk gewesen. Er betrachtete den Fortschritt also quasi im Rückblick. Somit erweiterte er den Erfahrungsraum der Gegenwart.
Schivelbuschs Arbeiten waren empirischer Natur, entsprangen der intensiven, monate- oft jahrelangen Beschäftigung mit dem „Material“ (ein von ihm häufig gebrauchtes Wort, dessen Betonung mir beim Niederschreiben vertraut in den Ohren klingt) und folgten zugleich keinem klaren bis zum Ende durchdachten Konzept. Sie waren geprägt von „glücklichen Zufällen“, wie er in unserem ersten Gespräch im Januar 2022 berichtete und nahmen den Gegenstand, dessen Aufmerksamkeit Schivelbuschs jeweiliges Werk gerade galt, als für sich genommen ernst.
Dass diese Hingabe an einen Gegenstand nicht ohne eine Wirkung auf den sich mit ihm beschäftigenden Menschen abgeht, hat Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch „Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion“ (2015) festgestellt. Wenn man nach einer Systematik hinter Schivelbuschs Büchern sucht, so wird man hier am ehesten fündig. Zentral für Schivelbusch ist in diesem schmalen Band der Begriff der „Konsumtion“, den er Marx entlehnt. Ebenso steht einmal mehr der Begriff der Arbeit im Fokus, der bereits frühere seiner Bücher durchzog.
Es ist die Leistung dieses Textes, den Prozess der Konsumtion – dessen physischen Vorgang er auch Assimilation nennt – genau nachzuvollziehen und festzuhalten, dass Gegenstand und Mensch einander wechselseitig beeinflussen: „Bildlich kann man sich den Vorgang vorstellen als ein Hinüberfließen des personalen Fluidums des Trägers auf den Gegenstand. Gleichzeitig verläuft der Strom jedoch in der umgekehrten Richtung“ (Schivelbusch 2015, S. 24). In den (mechanisch) verfertigten Gegenständen, seien es z.B. Schuhe, stecke immer auch etwas von ihrem jeweiligen Produzenten. So wie sich ein Schuh bei der Benutzung (ihrem Verbrauch) nach und nach dem Besitzer anpasst, passt auch der Besitzer oder dessen Körper sich dem Schuh an. Es mag sich Hornhaut ausbilden, eine bestimmte Fußstellung einüben o.ä.
Im Verlauf seines Textes reflektiert Schivelbusch, wie die Umstellung von der mechanischen auf die industrielle Produktion von Gütern das Verhältnis zwischen Mensch und Gegenstand verändert hat, spielt die Beziehung entlang des technischen Fortschritts durch bis in die nähere und nahe Vergangenheit, in der die hergestellten Produkte ihre Gestalt wandeln und zu Abbildungen im Bereich Fotografie, Fernsehen, Film werden. Es ließe sich hieran anschließend sehr gut fragen, ob die zunehmende Entfernung zwischen Produzent und Gut einen Einfluss auf deren Beziehung hat – gerade, wenn wir z.B. an Umweltzerstörung und Klimawandel denken, die Schivelbusch auf der letzten Seite des Textes benennt.
Den Verlust, der sich im Zuge eines jeden Fortschritts zwangsläufig ergibt, beschreibt Schivelbusch in seinen Büchern immer wieder. Sein letztes Projekt hätte den daraus resultierenden Blick zurück („Goldene Vergangenheit“) genauer untersuchen sollen, ebenso wie dessen ins Futur gewendetes Gegenbild „Goldene Zukunft“. Man hätte diese Arbeit gerne gelesen; gerade unter dem Eindruck aktueller politischer oder gesellschaftlicher Entwicklungen.
Leider wird seine letzte Arbeit unvollendet bleiben. Der inspirierende Denker und wache Beobachter Wolfgang Schivelbusch ist am 26. März 2023 mit 81 Jahren in Berlin gestorben.