30 Juni 2021

Beobachtungen: Joachim Löw und die Frage: Was bleibt?

Mit der Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen England am 29. Juni in Wembley (0:2) endet die Ära Joachim Löws als Bundestrainer. Was bleibt von ihm? - Neben der Rekordzahl von 113 Debütanten in seiner Amtszeit (2006-2021), sind dies vor allem eine vielfältige Nationalmannschaft und der Respekt seiner Spieler für ihn. Und natürlich: Fünf Turnierteilnahmen als Cheftrainer, die die Mannschaft mindestens bis ins Halbfinale trugen, der WM-Titel 2014 und der Confed-Cup-Triumph 2017.

Die deutsche Nationalmannschaft ist nach 2018 abermals früh bei einem großen Turnier ausgeschieden. Das Achtelfinale der nachgeholten Europameisterschaft (EURO 2020) ging mit 0:2 gegen England im prestigeträchtigen Wembley-Stadion verloren. Trainer der Nationalmannschaft damals wie heute: Joachim Löw.
Schon seit dem Vorrunden-Aus der Nationalmannschaft bei der WM in Russland gilt Löw seinen Kritikern als angezählt. In bunten Variationen las man davon, dass er „die Mannschaft nicht mehr erreiche“, die falschen Spieler daheim gelassen habe (2018 traf dies Leroy Sané – der bei dieser EM medial übrigens heftig kritisiert wurde) oder zunächst zu spät den Umbruch eingeleitet habe (im Anschluss kritisierte man die „Ausbootung“ von Mats Hummels, Jérome Boateng und Thomas Müller und forderte, Löw müsse die Spieler zurückholen).

Es war klar, dass Löw nach der  Europameisterschaft den Staffelstab weiterreichen würde. Sein Nachfolger ist sein ehemaliger Co-Trainer Hansi Flick, der beim FC Bayern in der Corona-Saison 2019/20 alle Titel eingesammelt hat, die es im Vereinsfußball zu gewinnen gibt. Doch bevor Flick übernimmt, wird Joachim Löws Amtszeit von 82 Millionen Bundestrainerinnen und -trainern beurteilt werden – ebenso wie von der Sportpresse des Landes. Schon heute Morgen (30.06.) schrieb die ZEIT davon, dass nun „bleierne Jahre“ enden würden – der „kicker“ vermisste ein „schlüssiges Konzept“ für die Einwechselspieler gegen England und zitierte ehemalige Nationalspieler wie Michael Ballack, die den Aufritt der Nationalelf kritisierten.

Können wir es uns wirklich so einfach machen?

Sicher: Joachim Löw hat in seiner Amtszeit Fehler gemacht. Wie jeder große Fußballtrainer. Man denke nur an den allseits verehrten Pep Guardiola, der sowohl mit dem FC Bayern als auch (bisher) mit Manchester City  daran scheiterte, die Champions League zu gewinnen.

Vielleicht hätte Löw auf dem Höhepunkt des Erfolges – also nach dem WM-Titel 2014 – seine Karriere als Bundestrainer glanzvoll beenden können. Aber er war sich sicher, dass er den deutschen Fußball noch einmal neu denken und prägen könnte – für ihn stand die Mannschaft nicht am Ende eines langen Weges, sondern befand sich noch mitten auf ihm. In einem notorisch unruhigen Deutschen Fußballverband waren Löw, seine Co-Trainer und auch der viel kritisierte Oliver Bierhoff (Direktor Nationalmannschaften und Akademie) Ruhepole, die der Nationalmannschaft einen Weg wiesen. Lange Zeit war dieser geprägt von großen Erfolgen und denkwürdigen Spielen. Falls jemand einen Beweis dafür sucht, dass Löw auch nach 2014 und der EM 2016 noch einen klaren Plan hatte und eine Mannschaft anzuleiten wusste, schaue er noch einmal den Confed-Cup aus dem Jahr 2017 an. Mit einem Kader, dem viele damalige Stammspieler fehlten und der die Besetzung der heutigen Nationalmannschaft auf einigen Positionen erstaunlich präzise vorzeichnet, gewann Löw das Turnier.

Löw hat eine Ära geprägt und den deutschen Fußball vorangebracht. Immerhin ist er einer von nur vier Weltmeistertrainern. Herberger (1954), Schön (1974), Beckenbauer (1990), Löw (2014) – das ist die Reihe.

Die einzelnen Stationen von Löws Wirken nachzuzeichnen, übersteigt die Länge dieses Gedankenabrisses. Wer einen Eindruck von der Ära Löw gewinnen will, findet mit "Joachim Löw - Die Story: Aus dem Breisgau zum Bundes-Jogi" einen ersten Überblick in der ARD-Mediathek.
Von meiner Seite nur so viel: Unter Löw (ab 2004 als Co-Trainer, ab 2006 dann als Cheftrainer) ist die Nationalmannschaft viel mehr zu einem Abbild unserer bunten Nation geworden, als sie es vorher noch gewesen war. Die Zeit des „Rumpelfußballs“, die noch unter Klinsmanns und Löws Vorgängern dominiert hatte, ist endgültig überwunden - dass sie wiederkommen wird, ist nahezu ausgeschlossen. Und auch das Talentförderungssystem und das Vertrauen in junge Spieler hat vor allem Löw maßgeblich mitgeprägt. In seiner Ära haben 113 Spieler bei der Nationalmannschaft debütiert. Der Letzte war Jamal Musiala vom FC Bayern München, den Löw somit für den DFB „gesichert“ hat. Denn Musiala hätte auch für die englische Nationalmannschaft spielen können. In 198 Spielen unter Löw errang die Nationalmannschaft 124 Siege (40 Unentschieden, 34 Niederlagen). Das entspricht 2,09 Punkten pro Spiel. – Allein diese Zahlen beeindrucken.

Neben dem Platz hat Löw es (fast) immer geschafft, seine Spieler von seinem Weg zu überzeugen – viele haben über die Jahre sehr beeindruckt von ihm gesprochen (auch hier ist Musiala als Letzter zu nennen, der sich – nach meiner Erinnerung – nach einem Gespräch mit Löw für den DFB entschieden hat). Und auch langjährige Nationalspieler wie Philipp Lahm, Per Mertesacker, Bastian Schweinsteiger oder Lukas Podolski sprechen bis heute voller Respekt von Löw.

Von der Fußballnation Deutschland wurde Löw nie geliebt – so stand es heute Morgen aller Orten zu lesen. Man habe ihn lange respektiert, doch das sei nach der WM 2018 auch ein wenig abgeebt. Wir machen es uns aber zu leicht, wenn wir Joachim Löw nur an den letzten beiden Turnieren messen und an ein paar schmerzhaften Niederlagen.

In den besten Momenten spielte Löws Nationalmannschaft begeisternden Hurra-Fußball, war getragen von ausgezeichneter Team-Chemie und einem entspannten und doch akribischen Trainer. In den schwächsten Momenten unter Löw hat die Nationalmannschaft zu wenig Dynamik nach vorne entwickelt und die zweifellos vorhandenen Spielideen nicht auf den Platz bringen können. Doch blickt man zurück auf Löws lange Jahre bei der Nationalmannschaft, überwiegen die positiven, die glanzvollen Momente. Nun davon zu sprechen, dass „bleierne Jahre“ enden würden, greift viel zu kurz. Es ist ungerecht und es verkennt die Leistungen, die Joachim Löw und sein Team in den letzten 15 Jahren vollbracht haben.

 


21 Mai 2021

Essay: Gesellschaftliche Spaltung. – Warum Demokratie Nähe braucht.

Immer wieder lässt sich lesen, dass unsere Gesellschaft sich zunehmend spalte oder schon gespalten sei und es nur noch darum gehen könne die Tiefe der Gräben zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen (und innerhalb derselben) zu ermitteln und die entstandenen Klüfte wieder zuzuschütten. Wo fängt man da bloß an? - Ein Debattenbeitrag.

Einer Gesellschaft zu attestieren, dass sie gespalten sei oder zu zerbrechen drohe, ist kein neues Phänomen. Mit großer Zuverlässigkeit wird alle paar Jahre darüber geschrieben oder debattiert, geklagt oder davor gewarnt. 
Viel Lärm um Nichts also? - Nicht ganz. Denn das Warnen vor gesellschaftlicher Spaltung ist immer Ausdruck einer Unwucht innerhalb derselben. Am Anfang mag man sie kaum bemerken. Allenfalls jene, die ein besonders feines Gespür dafür haben, erfühlen eine Veränderung. Je stärker die Unwucht wird, desto manifester wird sie aber: Es ruckelt. Es wird ungemütlich. 
Oftmals geht diesem Phänomen eine Veränderung voraus, die das bisherige "Gleichgewicht" einer Gesellschaft verändert. Uns allen fallen Ereignisse der letzten Jahre ein, die als unabhängige Variablen oder Erklärungsansätze untersucht werden könnten.
Die Corona-Pandemie, die reale Sorge vor irreversiblen - durch den Menschen verursachten - Veränderungen des Klimas, die von bisher marginalisierten Gruppen öffentliche geäußerte Einforderung der ihnen zustehenden Rechte und ihr Wunsch nach Anerkennung oder durch Kriege oder klimatische Veränderungen angetriebene Migrationsbewegungen, sind nur einige dieser Ereignisse. 
 
Um eines gleich vorweg zu nehmen: Die Komplexität jedes einzelnen dieser Ereignisse macht es unmöglich, das eine Phänomen zu identifizieren, dass verantwortlich dafür ist, dass Wissenschaft und Politik, Journalistinnen oder Intellektuelle vor einer (zunehmenden) gesellschaftlichen Spaltung warnen. Und um noch eines ganz klar zu formulieren: Die eine Erklärung gibt es ohnehin nicht. Und es soll hier auch nicht darum gehen, diese Phänomene zu analysieren. Sie sind vielmehr Beispiele dafür, entlang welcher Linien sich Konflikte in den letzten Jahren entzündet haben. 

Für gewöhnlich haben Gesellschaften recht lange Kontinuitätslinien. Das heißt, dass etwa bestimmte  Muster oder für gesellschaftsprägend erachtete Normen oder Praktiken entlang der Generationen weitergegeben werden. Mal wirken die Rituale und Praktiken, Normen oder Werte stärker, mal weniger stark. Und natürlich gibt es Brüche mit Traditionen, Wiederentdeckungen von Ritualen oder die Entwicklung neuer Perspektiven auf die jeweils in Frage stehenden Aspekte, die eine Gesellschaft formen. 

Die Tatsache, dass wir gegenwärtig in so vielen Lebensbereichen miteinander darum ringen, was die "richtige" Haltung, was die "richtigen" Werte oder Überzeugungen seien, ist ein Hinweis darauf, dass wir das Ende einer Kontinuitätslinie erreicht haben könnten. In vielen Bereichen unseres Zusammenlebens stellen wir zurecht unser Handeln auf den Prüfstand. Wir diskutieren Machtfragen, Begriffe, Beurteilungen. 
 
In einer offenen Gesellschaft sollte es selbstverständlich sein, das Miteinander beständig zu reflektieren. Das sollte nicht dazu beitragen, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen auseinanderzutreiben. 

Dass uns dies nicht besonders gut gelingt, sich - im Gegenteil - die Anzahl an blindwütig geführten Twitter-Debatten, hämisch bis strafrechtlich relevanten Kommentaren unter Youtube-Videos, Facebook-Posts oder in Zeitungsforen zu erhöhen scheint, es also regelmäßig zu "Filter-Clashs" (Bernhard Pörksen) zwischen sich diametral gegenüberstehenden Ansichten kommt, macht darauf aufmerksam, dass die Form der Auseinandersetzung ungenügend ist. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei in meinen Augen das heute häufig bevorzugte (oder zumindest das meist rezipierte) Medium der Auseinandersetzung: Das, was wir "Social Media" nennen. 

Demokratie lebt von ihrer physischen Komponente. Für Hannah Arendt ist gerade das (politische) Handeln eng mit dem öffentlichen Raum verknüpft. Demokratie lebt von Begegnung und Konfrontation, dem Austausch von Argumenten, dem Gespräch zwischen Menschen in einer Bürgerversammlung, der Gemeinderatssitzung, beim Museumsbesuch oder am Rande der Theatervorstellung. Der Umgang mit Vielfalt und Komplexität, auch der Gemeinsinn lassen sich am besten vor Ort einüben. 

Diese physische Komponente fehlt den digitalen Medien und macht sie damit untauglich, gesellschaftliche Spannungen zu überwinden. Natürlich können sie ein wichtiger Seismograph dafür sein, welche Themen Menschen "in dieser Sekunde" bewegen und welche Themen Menschen auseinandertreiben. Zugleich sind sie aber auch trügerisch, da Menschen hier nicht vor allem aus innerem Antrieb chatten oder posten, sondern auch aufgrund der aufmerksamkeitsökonomischen Logiken der jeweiligen Netzwerke. Es geht den Netzwerkbetreibern nicht so sehr darum, was unter einen Beitrag kommentiert wird, es geht darum das etwas gepostet wird. In dem Strom aus missliebigen Kommentaren, interessanten Artikeln und unterstützenswerten Petitionen nicht unterzugehen, verlangt Menschen andere Kompetenzen ab, als wenn es darum geht, sich aktiv in eine politische Debatte einzubringen.

Demokratie wird dort lebendig, d.h. physisch erlebbar, wo ein Mensch das "Wagnis der Öffentlichkeit" (Karl Jaspers) sucht. Dies geschieht nur dann, wenn es der Bürgerin geboten erscheint. Die Konfrontation oder Debatte sucht, wer aus innerer Überzeugung handelt. Einem inneren Impuls folgt sodann ein externes Feedback.
Digital finden all diese Prozesse laufend und jeweils ausschließlich im Inneren eines einzelnen Menschen statt. Der Wunsch sich zu äußern, der Gedanke wie etwas zu formulieren sei, die Gedanken zu den Reaktionen Einzelner auf den jeweiligen Beitrag. Das sorgt nicht unbedingt dafür, dass ein Mensch die Position eines Anderen besser nachvollziehen kann, da er kein unmittelbares Feedback eines Gegenübers erhält. Natürlich entstehen extern zum Beispiel optische Reize - aber alle anderen Sinne - der Gehörsinn oder der Geruchssinn beispielsweise - werden nicht im gleichen Maße stimuliert wie wenn eine Person ihre Äußerungen in einem zu kleinen und überhitzten Gemeindesaal an einem kalten Winterabend in der Uckermark tätigt. Es öffnet sich der Person ein anderer Erfahrungsraum, der Verständnis für einem entgegenstehende Positionen ermöglicht. 

Darüber hinaus sind "soziale Netzwerke" geschlossene Systeme. Sie sind in einer gewissen Weise exklusiv, da sie zum Beispiel erfordern, dass Menschen sich in ihnen anmelden und damit den AGBs oder Regeln der Netzwerkbetreiber zustimmen oder sie eine eigene Form der Sprache (Codes) erlernen müssen, um sich zu verständigen (z.B. TL;DR - "too long, didn't read" auf Plattformen wie Twitter).
Natürlich hat auch der öffentliche Raum  damit zu kämpfen, dass er nicht überall barrierefrei oder inklusiv ist und somit die gesellschaftliche Teilhabe für Mitglieder unserer Gesellschaft erschwert - im Gegensatz zu digitalen Plattformen jedoch, können wir die Spielregeln einer Gesellschaft unmittelbar mitgestalten. So können wir auch hier gesellschaftliche Spaltung überwinden, indem wir uns auf die "kleinste gemeinsame Wirklichkeit" (Mai Thi Nguyen-Kim) verständigen.  

Demokratie braucht Nähe und physische Präsenz. Bei all den Debattenanstößen und heiteren Kleinigkeiten, die die "sozialen Medien" uns geschenkt haben, können sie das nicht ersetzen. Wollen wir gesellschaftliche Spaltung überwinden, müssen wir als Bürgerinnen und Bürger von unserem Recht Gebrauch machen, uns in politische Debatten über Grundüberzeugungen, Werte, Normen oder auch "nur" die Frage, ob in der Kommune ein neues Schwimmbad entstehen sollte, einzubringen - und zwar vor Ort.

 

Hinweis: Die oben stehenden Überlegungen setzen natürlich voraus, dass wir die Corona-Pandemie überwunden haben.

01 Februar 2021

Gesellschaften lesen lernen. – Eine digitale Begegnung mit Insa Wilke.

Seit Februar 2020 planen Insa Wilke und ich ein Gespräch in Berlin. Dann kommt Corona. Mehrere Versuche, uns persönlich zu treffen scheitern am Lockdown oder an einer vorsorglichen Quarantäne auf meiner Seite. Schlussendlich verlegen wir unser Gespräch ins Digitale, treffen uns im November 2020 zum Interview. - Es wird ein Gespräch über Insa Wilkes Vita, Kultur in Zeiten von Corona, das Lesen und Schreiben - und darüber, was es heißt, eine Intellektuelle zu sein.

Die Frage, was ein Intellektueller sei, lässt sich wohl am besten beantworten, wenn man Intellektuelle nach einer Selbstverortung fragt. Denn folgt man Alex Demirović, so ist die „Bestimmung des Intellektuellen (…) eine Selbstbestimmung“. Als ich Insa Wilke frage, was es für sie heiße, eine Intellektuelle zu sein, antwortet sie treffend: „Eine intellektuelle Person ist eine, die lesen kann. Lesen meine ich hier ganz allgemein: Es geht um das Lesen von Situationen oder der Gesellschaft und das Herstellen von Zusammenhängen“. Insa Wilkes Vita ist geprägt davon, eben jene Zusammenhänge durch verschiedene Medien hindurch herzustellen.

Ausgangspunkt ihrer Faszination für das Lesen ist ihre Mutter, die Insa Wilke und ihrer Schwester abends vorgelesen hat. In ihrem Zuhause gab es viele Bücher, was dazu führte, dass sie diese früh als etwas Wertvolles und das Lesen als etwas Wichtiges verstanden hat.
In ihrer Jugend liest sie viel, zum Beispiel Fantasyromane wie die von Wolfgang und Heike Hohlbein. Die Klassiker – Goethe oder Kleist in etwa – lernt sie erst in ihrem Studium der Germanistik kennen, dass sie aufnimmt, weil ihr ein Psychologie-Studium ausgeredet wird. „Naja, Literatur ist ja wie Psychologie“, sagt sie mir lachend. Sie lernt in Göttingen, Rom und Berlin. Ein studienbegleitendes Volontariat am Literarischen Zentrum in Göttingen ab 2004 bringt sie mit der Gegenwartsliteratur in Berührung; ebenso wie mit dem Schreiben erster Literaturkritiken für die „Frankfurter Rundschau“. Wie kam es dazu? Insa Wilkes Antwort: „Hauke Hückstädt hat damals das Literarische Zentrum geleitet. Einmal hatte er plötzlich keine Zeit, eine mit der FR vereinbarte Rezension zu schreiben und fragte mich, seine Volontärin, ob ich einspringen wolle. Das habe ich dann gemacht und Ina Hartwig, die damals Literaturredakteurin bei der FR war und die mir viel beigebracht hat, war einverstanden es mit einer Anfängerin zu probieren. Daraus hat sich in gewisser Weise ein Schneeballsystem ergeben. Eines ergab das andere – richtig geplant war das nicht“.

2009 wird sie an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über den Dichter Thomas Brasch promoviert, übernimmt in dieser Zeit auch Lehraufträge an der FU im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Nach und nach kommen immer neue Medien hinzu, die sie bespielt. Zunächst ist es das Radio. „Mir wurde zu Beginn von meinem Kollegen Michael Kohtes gesagt, dass sich im Radio die Dinge anders vermitteln als über einen Text – nämlich über Atmosphäre“, erklärt Insa Wilke mir. Basis sei für sie allerdings immer das Schreiben geblieben: „Da muss man sich präzise Gedanken darüber machen wie man formuliert und was genau in Texten man analysieren möchte. Ohne das zu tun, bestünde aus meiner Sicht die Gefahr, oberflächlich zu werden“. Dies gilt umso mehr, seit das Fernsehen hinzugekommen ist. Neben Ijoma Mangold (DIE ZEIT) und Denis Scheck ist sie festes Mitglied des „lesenswert“-Quartetts im SWR: „Im Fernsehen spricht man lockerer und ist weniger eng am Text. Wenn man da nicht die Rückbindung hat, zum Beispiel genau die Form zu analysieren, dann fehlt einem da etwas“.

Liest man Insa Wilkes Rezensionen, so fällt auf, dass sich in ihnen häufig ein Leitmotiv findet. Früh im jeweiligen Text wird ein Satz vorangestellt, ein Bild aufgegriffen, ein zentrales Wort eingeführt. Egal, ob es sich um Reiseliteratur, literaturhistorische Betrachtungen oder feministische Lyrik handelt. Wilke schafft es so, ihren Leserinnen und Lesern eine Brille für einen Text zu leihen, der sie Werke anders entdecken lässt als ohne diesen geliehenen Blick. Literaturkritik ist also nicht bloß Urteil, sondern auch eine Einladung, Autorinnen und Autoren zu entdecken. Es scheint daher treffend, wenn Insa Wilke ihr Verständnis von ihrer Rolle als Moderatorin beschreibt: „Das Moderieren ermöglicht mir einen anderen Zugang zu Autorinnen und Autoren. Da geht es nicht primär um ein Urteil, sondern um die Frage: ‚Was ist das Interessante an einem Werk?‘ oder ‚Worum kreist es?‘“

Eine Grundhaltung ihres Verständnisses von Literaturkritik und dem Literaturbetrieb, schimmert durch diese Antwort hindurch. Auf meine Frage, was sie an ihrem Beruf störe, antwortet sie in Bezug auf den Literaturbetrieb: „Vieles daran ist Show, man selbst läuft Gefahr in Routinen zu geraten oder sich selbst zu wichtig zu nehmen. Das ist manchmal für mich frustrierend, manchmal macht es mir auch Angst, weil ich es wichtig finde, dass man die Sachen ernst nimmt. Literatur ist ja zumeist etwas Ernstes. Denn viele Leute haben da viel Lebenszeit reingesteckt. – Kurz gesagt: Die Rückbindung an Lebenswirklichkeiten ist mir wichtig“. In diesem Zusammenhang kommt sie auch auf Clemens Setz‘ Rede beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2019 zu sprechen. Er verglich dort den Literaturbetrieb mit Wrestling, was Insa Wilke nach eigener Aussage sehr eingeleuchtet habe. Die oberste Regel beim Wrestling sei es, so Setz, nicht aus der Rolle zu fallen (Kayfabe). Den versammelten Kandidatinnen und Kandidaten im Wettbewerb gab er mit, die Regeln (und somit wohl auch Rollen) der deutschsprachigen Literatur zu kennen und diese zugleich dringend zu meiden.

Insa Wilke beweist während unseres Gesprächs, dass sie diese Rollen gut kennt – ebenso wie sie die Bedeutung der Kultur im Allgemeinen als Herstellungsleistung von Gemeinschaftlichkeit zu würdigen weiß. In Bezug auf die schwierige Zeit, die Solokünstlerinnen, Veranstalterinnen oder Freiberufler im Kulturbereich in der Corona-Pandemie durchmachen, sagt sie: „Natürlich ist die Tätigkeit einer Ärztin oder eines Krankenpflegers unmittelbar erst einmal wichtiger. Aber gerade Lesungen oder regionale Literaturfestivals tragen auch bei zur Herstellung oder Aktivierung einer politischen Öffentlichkeit“. Zugleich stört Wilke in der Kulturszene eine gewisse Larmoyanz. Es wäre gut, meint sie, aus einer Haltung der Stärke zu argumentieren und auch zu sehen, welche Möglichkeiten die Kultur – im Gegensatz zu einer 400-Euro-Fußpflegerin oder einer nicht festangestellten Reinigungskraft hat – Öffentlichkeit für sich herzustellen. Es werde viel zu häufig aus einer Position der Schwäche Kritik an Benachteiligungen geübt. Wobei Öffentlichkeit eben manchmal weniger nütze als die Verhandlungen in Hinterzimmern, in denen die Chefs von Banken, Auto- und Stromkonzernen ein und aus gehen. Und sie weist darauf hin, dass es eine ganze Reihe von Behörden gibt, denen möglicherweise das Verständnis dafür fehle, warum Kultur auch und gerade in Krisenzeiten wichtig und auch ein Standortfaktor sei. „Es ist in Krisensituationen wie dieser wahrscheinlich wirklich ein Problem, dass es in der Kulturszene keine Gewerkschaft gibt. Klar, es gibt den Kulturrat, aber nicht wirklich eine organisierte Institution. In den zuständigen politischen Institutionen wiederum arbeiten zu wenig Menschen, die wissen wie eine selbständige Künstlerin lebt, wie ihr Alltag aussieht, was sie verdient und wie. Dann ist man eben allein von der Selbstorganisation abhängig“, stellt Wilke fest.


Die Corona-Krise hat die bunte Kulturszene ihrer Präsenzkomponente beraubt. Lesungen finden, wenn überhaupt, nur digital statt, Literaturfestivals müssen ebenso im Netz ausgestrahlt werden wie Konzerte; die Museen sind geschlossen. Umso wichtiger ist es, dass Intellektuelle wie Insa Wilke unser aller Leben unter geänderten Vorzeichen lesen lernen, ihre Weltsichten entwerfen und diese mit der Öffentlichkeit teilen: „Ich merke im Moment tatsächlich, dass wir in einer Situation sind, die einem Angst machen kann – ebenso wie die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre. Egal an welchem politischen Pol man sitzt. Als Gegenpol braucht man ganz dringend Lebensfreude“. Gerade hierbei müsse sie oft an Roger Willemsen denken, dessen Nachlassverwalterin Wilke ist. Willemsen habe exemplarisch bewiesen, wie man Gesellschaft lesen könne, ebenso wie er Lebensfreude verkörpert habe. Zugleich schimmere in Willemsens Werk eine Melancholie hindurch, die vielleicht erst eine jüngere Generation entdecken könne.

Insa Wilke und ich sprechen in diesem Zusammenhang über die nachgelassene Rede „Wer wir waren“, die auf der einen Seite Sorgen vor der Zukunft formuliere, diesen auf der anderen jedoch eine produktive Lesart entgegenstelle. Die Idee, dass man aus der Zukunft auf die Gegenwart schaue, berge ja eben die Hoffnung, dass es eine Zukunft gäbe, stellen wir fest.