11 März 2020

Essay: Norm und Wirklichkeit. – Versuch über eine "Ethik des Verbindenden".

Oft genug wird unter Einsatz des Begriffs "Moral" derzeit das Handeln einer Person, die gegenläufige Meinungen zu denen einer anderen vertritt, abqualifiziert. Eine mögliche Begründung für dieses vertraute Muster gegenwärtiger Debatten ist die Absolutsetzung reaktionärer wie progressiver Normen. Dieser Text plädiert für eine in drei Bausteinen (Kriterien) beschriebene "Ethik des Verbindenden", die das Ringen um einen Minimal-Konsens wieder in den Mittelpunkt stellt.   

Betrachtet man die gegenwärtig in der Öffentlichkeit und auch im Privaten ausgetragenen Gespräche, so fällt auf, dass wir häufig davon sprechen, dass diese "moralisch aufgeladen" seien. Es gibt Ewiggestrige, die jedwede Form von Veränderung mit wüsten Anwürfen zurückweisen und sich in ein non-existentes "Damals" oder "Früher" zurückwünschen, und es gibt jene, denen der Wandel gar nicht schnell genug gehen kann und die das Hinterfragen bestimmter Ideen schon als Affront interpretieren und sich den Kritikern gegenüber unversöhnlich bis unbarmherzig zeigen. Was beide Seiten eint, ist ein Hang dazu, ihre jeweiligen handlungsleitenden Prinzipien absolut zu setzen. Mir ist wichtig, dass es in diesem Text weder um die Bewertung der Qualität der reaktionären, noch der progressiven Normen geht, ebenso wie es mir notwendig erscheint klar zu machen, dass der Ausgangspunkt meines Denkens von jeher die Unantastbarkeit der Würde jedes und jeder Einzelnen war und mir die Menschenrechte als Orientierung in der Welt dienen. 
Was mich in diesem Text interessiert, ist die Frage, wie wir mit "Leidenschaft und Augenmaß" (Max Weber) zu einer (normativen) Ethik des Verbindenden kommen können. Meine These ist hierbei, dass bei all der Relevanz, die Moral (zumindest als Begriff) in unseren gegenwärtigen Debatten zu spielen scheint, ihr Ausgangspunkt (eine ihr zugrunde liegende Ethik also, die ein bestimmtes Verständnis von Moral begründet) vollkommen unklar ist. Eine seit jeher in diesem Zusammenhang gestellte Frage lautet: Was soll ich tun? (siehe z.B. die Kantischen Fragen).

Christoph Möllers hat in seinem luziden Buch "Die Möglichkeit der Normen" (2015) Normen als "positiv markierte Möglichkeiten" charakterisiert, die "auf einen möglichen Zustand oder ein mögliches Ereignis" verweisen.  Er sieht in ihnen die Möglichkeit "Distanz von der Welt" zu nehmen, ohne dass man sich zu früh "dem Problem der Rechtfertigung" (der Normen) zuwendet. - Diese Möglichkeit Distanz von der Welt zu nehmen und sich somit die Frage zu stellen wie sie sein könnte, ist in meinen Augen der erste Baustein einer Ethik des Verbindenden. Jeder konkreten Verhaltensregel und dem Handeln danach liegt ein Nachdenken darüber zugrunde. Dabei mündet das Nachdenken über die Möglichkeiten einer Norm noch nicht zwangsläufig in Appellative. Diese entfalten sich erst auf Basis der Zusammenschau verschiedener Normen zu einer bestimmten Vorstellung von Moral. - Die Frage wie etwas sein könnte, ist grundsätzlich eine produktive. Sie weist in die Zukunft und eröffnet neben einer von Grund auf neu gedachten Idee wie Welt zu organisieren sei, auch die Möglichkeit diese Zukunft nach einem bereits bestehenden (oder gar vergangenen) Modell zu entwickeln. Wichtig ist, dass all diese Ideen eine Unsicherheit in sich tragen, weil sie die Stabilität der gegenwärtig existenten, in Frage stehenden Norm (und daran angeschlossener Verhaltensweisen o.ä.) erst einmal erodieren. Dies zu begreifen, ist wichtig, um den Wandel anderen, die sich unterscheidende Vorstellungen haben, nachvollziehbar machen zu können. Dieser Umstand weist auf die Relevanz von Verständigung zwischen unterschiedlichen Interpretationen von Welt hin, die der zweite Baustein aufgreift.

Dieser zweite Baustein einer Ethik des Verbindenden muss die - kaum überraschende - Einsicht beinhalten, dass nichts im Leben eines Menschen so stetig ist wie der Wandel. Einen Anspruch auf dauerhaft gültige Normen und ewig bestehende Moralvorstellungen gibt es daher nicht. Weiter oben habe ich darauf verwiesen, dass gerade dieser Absolutheitsanspruch derzeit jedoch sowohl im reaktionären wie auch im progressiven Lager verfängt. Dabei müsste statt einer Absolut-Setzung die Fähigkeit zur Aushandlung eines Minimal-Konsenses stehen, ebenso wie ein stärkerer Fokus auf der Begründung der jeweiligen Vorstellungen. Nur so bleiben unterschiedliche Interpretationen der Welt und dessen, was und wie sie sein könnte, miteinander vereinbar (um nicht zu sagen: möglich). Der Raum dessen was möglich wäre, entfaltet sich erst da, wo Welt unterschiedlich ausgedeutet werden kann. Die Schwierigkeit besteht darin, auch bei diametral gegenläufigen Interpretationen von Welt untereinander sprachfähig zu bleiben. Mit anderen Worten: Es bedarf gewisser Grundkonzepte, auf die man sich in ihrer Bedeutung einigen können muss, um dann um ihre genaue Umsetzung (Konzeption) zu ringen (concept/conception-Unterscheidung nach Rawls).
Für den Begriff der Gerechtigkeit, beispielsweise, gilt laut der Stanford Encyclopedia of Philosophy die Beschreibung des Begriffs der Gerechtigkeit in den Institutiones Iustiniani als plausibelste Grunddefinition des Konzepts. Hierbei wird Gerechtigkeit als "beständiger und andauernder Wille jedem das Seine zukommen zu lassen" definiert (Lateinisches Original: "iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens", I. 1.1). Basierend auf diesem Grundverständnis kann nun um die daraus folgenden Normen oder Handlungsanweisungen gerungen werden.
Zur Erzielung eines Minimal-Konsenses erscheint es grundsätzlich sinnvoll, die Geschichte von Begriffen und die Bedeutung einzelner Normen und Moralvorstellungen nachzuvollziehen. Sie alle nehmen zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext ihren Ausgang und vollziehen im Laufe der Jahrhunderte mehr oder weniger große Wandlungen. Eine möglichst schlüssige Herleitung der eigenen Überzeugung, was die Möglichkeit einer bestimmten Norm sei, macht eine Verständigung über gemeinsame Grundüberzeugungen wesentlich leichter. Zugleich fördert sie offensichtlich unvereinbare Ideen zutage. Hier muss nun der Wille das Verbindende zu suchen, einsetzen. Präzise Nachzeichnungen der Begriffsgeschichte bedeutender Grundkonzepte der Philosophie (z.B. Gerechtigkeit, Freiheit, Wille) könnten hier einen großen Beitrag leisten.

Neben den zwei zuvor genannten Bausteinen (Kriterien) einer Ethik des Verbindenden - Normen als Möglichkeit Distanz von der Welt zu nehmen (1) und die Suche nach einem Minimal-Konsens zwischen unterschiedlichen Interpretationen von Welt (2) - muss ein dritter Baustein die grundsätzliche Rahmung des Nachdenkens über eine bestimmte Moral und ihre Begründung (Ethik) bilden. Meines Erachtens nach bilden die Menschenrechte in ihrer Unveräußerlichkeit eben diesen Rahmen.

Der US-amerikanische Rechtshistoriker Samuel Moyn nennt sie "das letzte Utopia" (The Last Utopia, 2010). Eine tiefgreifende Bedeutung bekommen die Menschenrechte laut Moyn erst in den 1970er-Jahren; in dem Moment, als andere Utopien für eine bessere Zukunft - er nennt hier beispielsweise den Kommunismus - ihre Strahlkraft verlieren oder in sich zusammenfallen. Was die Menschenrechte zu einer solch überzeugenden Utopie macht, so meine ich, ist die Gedoppeltheit ihrer Vision. Zum einen versprechen die Menschenrechte jedem und jeder Einzelnen eine Welt in der ihm oder ihr das gleiche Maß an Würde und Respekt zuteil wird, jeder also in seiner Individualität anerkannt wird. Zum anderen verweisen die Menschenrechte auf eine universelle Gültigkeit, die alle Menschen als Gleiche unter Gleichen betrachtet. In der Verbindung zwischen individueller Anerkennung und universeller Gültigkeit zeigt sich die herausgehobene Stellung der Menschenrechte als Basis einer Ethik des Verbindenden.
Thomas Pogge hat die besondere Bedeutung der Menschenrechte in ihrer Unveräußerlichkeit wie folgt definiert: "(...) das Recht selbst verankert die Menschenrechte in einer Weise, die über das Recht hinausweist: In Form einer Normativität nämlich, die in ihrer Existenz nicht vom Recht abhängt und nicht durch eine gesetzliche oder juristische Anordnung bzw. durch andere Mechanismen der Gesetzgebung wie Verträge oder internationale Bräuche verändert oder aufgehoben werden kann (...) Ein unveräußerliches Recht ist ein Recht, welches seine Besitzer nicht verlieren können; durch nichts was sie selbst tun (Verzichtserklärung oder Verwirkung), noch durch irgendetwas was andere z.B. durch Veränderung des Rechts tun" (Pogge 2019 [Englisches Original: 2011]).

Eine Ethik des Verbindenden besteht aus ebenso abstrakten wie konkreten Elementen. Während ihre Basis das Nachdenken über Normen auf Basis der Menschenrechte in Anerkennung der Wandelbarkeit von Begriffen ist, sind einmal gesetzte Normen unmittelbar. Sie wirken sich auf das Handeln und Denken von Menschen aus und dienen als Orientierung in der Welt.
Ziel dieses kurzen Textes war es, ein paar Grundüberlegungen zu einem neuen Nachdenken über eine Ethik anzustellen, die es ermöglicht, sich unversöhnlich gegenüberstehende Gruppen wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Konkrete Fallbeispiele, detaillierte Begründungen der Notwendigkeit einer neuen Ethik und ihre Ausgestaltung, sind im Rahmen dieses Textes nicht möglich. Möge er anderen eine Inspiration für genau diese Überlegungen sein.