07 Juli 2022

Stabilität und Utopia. – Die Vielzahl gegenwärtiger Krisen und einige subjektive Voraussetzungen für Visionen.

"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Dieses Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (1918-2015) wird immer wieder dann gerne hervorgeholt, wenn die ausgetretenen Pfade der Realpolitik verlassen werden. Doch welche Antworten auf die multiplen Krisen, die wir derzeit erleben, kann die Realpolitik geben? Und welche Rolle könnten Visionen dabei spielen, diese zu überwinden? Ein Essay über Stabilität und Utopie.

"Was hat dich bloß so ruiniert?", fragen die "Sterne" in ihrem 1996 erschienenen, gleichnamigen Song auf dem Album "Posen". Manchmal möchte man ob der gegenwärtigen Ereignisse aus dem "dich" ein "uns" machen. Egal, ob es um den Klimawandel, den Krieg in der Ukraine, eine dräuende Wirtschaftskrise oder die Beschneidung elementarer Rechte der Selbstbestimmung von Frauen über ihren eigenen Körper geht (Supreme Court-Entscheidung gegen das "Roe vs. Wade"-Urteil, welches Frauen in den Vereinigten Staaten das grundsätzliche Recht auf eine Abtreibung gab). Es scheint allzu leicht, am gegenwärtigen Zustand der Welt zu verzweifeln. Klug ist es nicht. 

Ohne Zweifel sehen wir uns derzeit mit einer neuen Phase der Instabilität konfrontiert. Der (noch nie selbstverständliche) Zuwachs eines immer mehr an Rechten für immer mehr Menschen ist ins Stocken geraten, die Zukunft liegt nicht mehr vor uns wie eine Verheißung - manche empfinden sie gar als bedrohlich. Ähnlich wie jemand, der sich unbemerkt von hinten anschleicht und uns plötzlich an der Schulter packt, erschrecken wir, fahren zusammen. Dabei blicken wir auf das Gewesene, das uns nun - denn wir bewegen uns ja doch Schritt für Schritt - je weiter wir uns davon entfernen, so vertraut vorkommt: Augenblick: Verweile doch! Du bist so schön! 

Es ist wie in Georgi Gospodinovs Buch "Zeitzuflucht", in dem er von einem Glauben in den Anden berichtet, der annimmt, die Zukunft läge hinter-, das Vergangene vor uns. Er schreibt: "Sie [die Zukunft, TL] kommt überraschend und unvohersehbar hinter deinem Rücken hervor, doch die Vergangenheit hast du immer vor Augen, sie ist schon geschehen" (Gospodinov, 2022, S. 316f.). 

Es ist dieses Spannungsverhältnis von einer uns stabil erscheinenden Vergangenheit und einem brüchigen Zukunftsversprechen, das uns vor der Vielzahl gegenwärtiger Krisen so starr und matt erscheinen lässt. Stabilität und Utopia stehen in einem Missverhältnis. - Eine derzeit häufig gegebene Antwort in der Politik ist, dass es nun pragmatische, "realpolitische" Lösungen brauche. Es wäre falsch, dies einfach abzutun. Denn selbstverständlich bedarf es bei gegenwärtigen Bedrohungen wie einer steigenden Inflation, dem durch Russland vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Ukraine, der grassierenden Waffengewalt in den Vereinigten Staaten oder einer sich verschärfenden globalen Hungerkrise schneller und "zielgerichteter" Lösungen. Aber allein mit der Eindämmung dieser Krisen ist es nicht getan. Denn je mannigfaltiger diese werden und auf je mehr Lebensbereiche sie abstrahlen, desto unwahrscheinlicher wird es, allein mit dem "Instrumentenkasten" (ein häufig gehörtes Wort unserer Zeit) der Realpolitik erfolgreich zu sein. Wir brauchen den Mut, uns umzudrehen, uns der Zukunft zuzuwenden und sie mit Visionen bewohnbar zu machen. 

Drei subjektive Voraussetzungen, die allein der Illustration dienen mögen, wie wir zu diesen Visionen kommen können, möchte ich exemplarisch skizzieren:

(1) Zusammendenken, was zusammengehört

Vor unser aller Augen breitet sich ein Panorama an Problemlagen aus. Diese könnten - alle für sich genommen - bearbeitet werden. Allerdings verkennt das einzelne Abarbeiten von Problemen (ausgelegt auf eine kurzfristige Lösung) seine Grenzen. Je mehr Probleme auftauchen, desto schwieriger wird es, sie auch für sich genommen zu lösen. Die Gründe hierfür liegen in ihrer jeweiligen Komplexität, dem monetären und personellen Aufwand (der sich vergrößert, je mehr Einzelprobleme vorliegen) und teils gegenläufigen gesetzlichen Regelungen, die zur Lösung der in Rede stehenden Themen getroffen werden. Konkurrierende Politikfelder und die manchmal unklare Zuständigkeit der jeweiligen politischen Ebenen (Kommune, Land, Bund) runden das Bild ab. Ein - allzu banal klingender - Lösungsansatz lässt sich unter dem Stichwort "Bündelung" zusammenfassen. Die Sammlung einer Reihe von ähnlich gelagerten Einzelproblemen und ihre gemeinsame Lösung setzt Kapazitäten und monetäre Mittel frei, um weitere Problembündel anzugehen. Zusammendenken, was zusammengehört heißt, mutig sein, Menschen mit unterschiedlichen Expertisen zusammenzubringen und diese gemeinsame Leitlinien für Problemkomplexe erarbeiten zu lassen. Dabei ist es lohnend, auch "fachfremde" Menschen in spezifische Themen einzubinden. Auch, wenn es zunächst seltsam anmutet: Es kann durchaus lohnend sein, einen Dichter und eine Finanzexpertin miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn die Kraft der Poesie liegt darin, mit Worten neue Türen zu öffnen. 

(2) Sagen, was ist

Demokratien leben vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Für eine umfassende Meinungsbildung bedarf es verlässlicher und vertrauenswürdiger Informationen durch Medien und Politikerinnen und Politiker, die in verständlichen Worten erklären, wie und warum sie bestimmte Themen bearbeiten. Darüber hinaus braucht es auch Foren der Verständigung: Regelmäßige Bürgerversammlungen und Konsultationsprozesse mögen hier ein Ansatz sein, um den Austausch zwischen Politik und Gesellschaft zu fördern. - Engagement benötigt zudem Vorbilder. Daher ist es wichtig, nicht nur die komplexen Problemlagen zu beschreiben, mit denen wir uns konfrontiert sehen, sondern auch "Geschichten des Gelingens" zu erzählen. Exemplarisch hierfür dienen Reportagen wie die von Deborah und James Fallows, die für das US-Magazin "The Atlantic" kleine Städte in den USA (fernab der überregionalen Berichterstattung) besucht haben, um sich ein Bild davon zu machen, wie fernab einer paralysierten Politik auf Bundesebene, kleine Ortschaften zu gemeinsamen kommunalen Lösungen finden. Trotz all der Probleme, mit denen sich auch diese Dörfer und Städte konfrontiert sehen, beschreiben die Fallows, wie viele Menschen in ihren "Communities" dafür arbeiten, das Leben vor Ort besser zu machen. Auch für andere Länder wären solche Reisen und Berichte sicherlich lohnend. Die Artikelsammlung lässt sich hier abrufen: https://www.theatlantic.com/our-towns/

(3) Erforschen, was war

Es gab Zeiten, in denen sich die Vorstellung davon, was in Zukunft möglich wäre, geradezu überschlugen. Die Visionen in der Mitte des 20. Jahrhunderts beispielsweise reichten von Kolonien auf dem Mars (eine in unserer Zeit wieder recyclete Vorstellung) bis hin zu Atomantrieben für Autos. Ford hatte dafür schon 1958 ein Konzeptfahrzeug mit dem Namen "Nucleon" vorgestellt. Aber natürlich reicht das utopische Denken viele Jahrhunderte weiter zurück und lässt sich in den Konstruktionen eines Leonardo da Vinci oder der Vorstellung von Maschinen im Zeitalter der Aufklärung (Stichwort: "mechanische Ente" von Jacques de Vaucanson im Jahre 1738) erkennen. 

Auch politische Utopien wurden in den vergangenen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden immer wieder entworfen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" zu lesen, in dem er - wenn auch mit deutlich marxistischem Blick - eine Entdeckungsreise durch politische Utopien der vergangenen Jahrhunderte (beispielsweise eines Solon oder Thomas Morus) unternimmt. Gleich in seiner Einleitung schreibt er treffend: "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen" (Bloch, 1973, S. 1). 

Zu erforschen, was war, indem wir persönliche Streifzüge durch Literatur und Politik, durch Naturwissenschaften und Vergangenheit unternehmen, schult den eigenen Blick auf die Gegenwart. Wir erkennen Muster, wir entdecken neues. Und wir lernen zu hoffen, indem wir wagen zu träumen. 

Abschluss

Diese drei sehr subjektiven Voraussetzungen, um zu neuen Visionen zu kommen, mögen nicht für jede oder jeden hilfreich sein. Sie mögen sogar Widerspruch anregen. Doch gerade das macht sie produktiv. Sie befreien uns aus der Bängnis, die uns alle beim Blick auf die Krisen dieser Welt befallen mag. Utopia heißt so viel wie "Nicht-Ort". Machen wir daraus einen "Noch-Nicht-Ort" und zeigen wir uns offen gegenüber Lösungsansätzen, die wir routinemäßig vielleicht als Tagträumerei abgetan hätten.

 


03 Mai 2022

Essay: Der Mensch und die Digitalisierung. Eine phänomenologische Abschweifung.

Philosophieren heißt das Offensichtliche in Frage stellen, das Unausgesprochene in Worte fassen, das Denken entdecken. Was passiert also, wenn wir uns fragend der "Digitalisierung" nähern, die sich in immenser Geschwindigkeit vollzieht und (beinahe) alle Lebensbereiche beeinflusst? Welchen Einfluss hat sie darauf, was wir unter Menschsein verstehen? Dieser Text versucht eine Annäherung in Form einer Abschweifung.

Der Begründer der "Neuen Phänomenologie", Hermann Schmitz (1928-2021), hat Philosophie einmal als ein "Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung" definiert. Philosophie ist danach eine Methode, eine Antwort darauf zu geben, was der Mensch sei. Schmitz hat sich dieser Frage im Anschluss an Edmund Husserl über die "Sachen selbst" als Phänomene genähert. Abschließende Antworten auf die Frage, was der Mensch sei, gibt es nicht. Die Frage stellt sich immer wieder neu. Und vielleicht drängt sie gerade in einer Zeit, die so reich ist an Umwälzungen und Umwertungen, mit neuer Macht in unser Bewusstsein. Viel ist darüber geschrieben worden, wie allumfassend die Digitalisierung unser aller Leben verändere, welche Verheißungen, welche Gefahren damit verbunden seien. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob die Digitalisierung unseren Blick darauf, was der Mensch sei, wandelt.

(1) Digitalisierung ist Verlagerung. Nach und nach wandern Tätigkeiten, Gegenstände oder Emotionen, gar Menschen aus dem analogen in den digitalen Raum ab. Raum meint hier schlicht den "Ort, an dem das Digitale sich abspielt". Raum heißt: die Möglichkeit haben, Dinge in Beziehung zueinander zu setzen. Wenn der physisch vorhandene Raum sich auf ein Rechenzentrum verengt, kommt unser Wahrnehmung von Raum eine andere Bedeutung zu. Es stellen sich Fragen wie: Was verbindet uns im digitalen Raum? Wie nehmen wir das Internet als "Ort" wahr? Welche Bedeutung hat unser physischer Standort für unsere Wahrnehmung des Internets als Ort?

(2) Digitalisierung bedeutet Entkörperlichung und Ent-grenzung. Was vorher einen festen, einen physischen Ort hatte, ist nun dem Anschein nach ortlos. Oder schwächer formuliert: örtlich verlagert. Ein Livekonzert in New York City lässt sich - bei stabiler Internetverbindung - ohne Schwierigkeiten und mit kaum vernehmbarer zeitlicher Verzögerung irgendwo in der norddeutschen Tiefebene empfangen (Entkörperlichung). Erforderte die Teilnahme an einem Konzert in "Big Apple" für einen Menschen aus Norddeutschland früher einen Interkontinentalflug, den Übertritt einer Landesgrenze, ein Visum, eine Anpassung an die Zeitverschiebung, lässt sich diese Erfahrung nun anders machen (Ent-grenzung). Doch fragt sich z.B. wie diese Möglichkeit unser Erleben eines solchen Ereignisses verändert und welche neuen Grenzen diese Ent-grenzung setzt.

(3) Digitalisierung heißt Vereinzelung. Ein virtuell empfangener Kuss als "Emoji" ist nicht auf den Lippen oder der Haut spürbar. Auch die Wärme, die das Gesicht des Gegenübers abstrahlt, der Duft eines Parfums, das Flirren und Beben, lassen sich virtuell nicht übertragen. Der virtuelle Kuss bleibt in seiner Bedeutung gleich. Er ist Ausdruck von Zuneigung; und diese ist im Inneren des den Kuss Empfangenden wahrnehmbar. Er oder sie ist jedoch auf sich selbst zurückgeworfen. Zuneigung findet somit in Abwesenheit der Person statt, der die Zuneigung gilt bzw. die diese zeigt. Welche Bedeutung hat ein Gefühl, dass erst über einen Intermediär (in diesem Fall das Emoji) vermittelt werden muss, statt aktiv erlebt zu werden?

(4) Digitalisierung ist die Simulation von Realität, die zugleich Realität formt. Eine im Netz ausgesprochene Drohung von einiger Schwere kann strafrechtliche Konsequenzen haben. Nicht nur droht die Verbannung von einer bestimmten Plattform, sondern auch eine in der analogen Welt eingeleitete Ermittlung, an deren Ende ein Verfahren und eine Verurteilung stehen können. Wie, also, wirkt der digitale Raum zurück in die physische, in die analoge Welt? Und umgekehrt: Welche Konsequenzen haben Handlungen im Analogen im digitalen Raum?

Schon diese vier Miniaturen und die Fragen, die sie abschließen, zeigen, dass die Digitalisierung keinesfalls bloß ein technischer Prozess ist. Sie macht auch nicht schlagartig das Leben aller Menschen "einfacher", wie gerne verkündet wird. Obgleich wir alle uns zunächst freiwillig dazu entschieden haben "ins Netz zu gehen", ist die Wahrnehmung desjenigen, der sich dort tummelt doch, dass aus einem einst grobmaschig geknüpften Gebilde nun ein feinporiges geworden ist, das nur noch weniges "durchlässt". Das heißt zum einen, dass es enorme Kraft kostet, sich aus diesem Netz zu befreien, zum anderen, dass es kaum etwas gibt, dass nicht schon davon "eingeholt" worden wäre.    

Für Immanuel Kant ließ sich das Feld der Philosophie auf vier Fragen bringen, auf welche diese Antworten geben könne. Sie lauten: "Was kann ich wissen?"; "Was soll ich tun?"; "Was darf ich hoffen?" und (wen wundert es): "Was ist der Mensch?" Kant selbst stellte einen unmittelbaren Bezug zwischen den ersten drei Fragen zur letzten her und es erscheint sinnvoll, sie vor dem Hintergrund des digitalen Wandels wieder einmal neu zu stellen. Meine Abschweifungen sind nicht mehr als eine Probebohrung. Sie können im Idealfall Hinweise für mögliche Forschungsfragen geben oder Anstoß für andere sein, sich mit der Frage zu beschäftigen. 

Es ist jedenfalls eine der erschütterndsten und zugleich beglückendsten Erfahrungen desjenigen, der Philosophie treibt, dass Begriffe, die man zumeist nur achtlos oder wenigstens gedankenlos im Munde führt, zu flirren beginnen, unscharf oder uneindeutig werden, wenn man sie befragt. Im Falle der Digitalisierung scheint mir die zentrale Erkenntnis, dass - solange wir unsere physische Existenz nicht aufgeben (können) - eine Wechselbeziehung zwischen dem Analogen und dem Digitalen besteht. Der Mensch macht das Digitale, doch das Digitale macht auch ihn. Die Frage, was der Mensch sei, muss heute zwangsläufig auch über eine Annäherung an das Digitale stattfinden.



05 Februar 2022

Von glücklichen Zufällen. – Eine Begegnung mit Wolfgang Schivelbusch.

Es ist ein kühler Tag Ende Januar als Wolfgang Schivelbusch und ich uns in seiner Berliner Wohnung im Westend treffen. Über mehrere Stunden werden wir sprechen und dabei nicht nur sein Leben als Lesender und Forschender, sondern auch die Zeitläufte streifen. Von der griechischen Mythologie, über die amerikanische Flagge bis hin zu Schivelbuschs Refugium in Brandenburg und den Begriff der Nostalgie als analytische Kategorie – nichts bleibt unberührt. Schivelbusch nennt diese Form des Gesprächs treffend „Spekulieren“. 

Glaubt man dem „Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung“ (ZfL), an dem Wolfgang Schivelbusch seit 2014 als Senior Fellow tätig ist, zählt dieser seit den 1970er-Jahren zu einem der „international meistgelesenen deutschen Historiker“. Schon vor unserem Treffen in Berlin frage ich mich, ob Historiker wohl die treffende Bezeichnung für ihn ist. Sicher, Schivelbusch hat mit seiner bis heute als Standardwerk geltenden „Geschichte der Eisenbahnreise“ (1977) oder seiner Geschichte der Genussmittel „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ (1980) Material- und Kulturgeschichte getrieben. Doch viel eher charakterisiert ihn aus meiner Sicht der etwas altmodische und zugleich so treffende Begriff eines Privatgelehrten. Schivelbusch selbst verwendet diesen Begriff für sich auch – allerdings immer in Anführungszeichen.  

Fern vom akademischen Betrieb hat er sich einem Leser- und Forscherleben hingegeben, welches er in dem exzellenten Gesprächsband „Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin“ (2021) noch einmal Revue passieren lässt. Das Ideal an zwei Orten heimisch zu sein, in der alten und der neuen Welt, die Welt also immer aus der Perspektive eines Menschen zu sehen, der im Aufbruch begriffen ist oder, um in einem Reisebild zu bleiben, auf gepackten Koffern sitzt, hat Schivelbusch zu einem sehr originellen Beobachter gemacht.

In unserem Gespräch scheint diese Beobachtungsgabe zusammen mit seiner Lust am Unkonventionellen immer wieder durch. So schildert er, wie ihm die amerikanische Flagge über viele Jahre als ein Symbol weltweiter Geltung erschienen sei. Für ihn ließen sich auf die „stars and stripes“ alle positiven Bilder, die man von den USA haben konnte, projizieren. Er nennt sie eine „menschenfreundliche Fahne“. Eines Tages – in Livorno oder irgendeinem anderen italienischen Hafen – sieht Schivelbusch eine Yacht unter amerikanischer Beflaggung. Er sagt: „Ich weiß, es gab keinen Anlass. Aber plötzlich hatte ich ein Gefühl, von dem ich denken würde, dass so ein Christdemokrat in den Zeiten des Kalten Krieges die Flagge der Sowjetunion oder der DDR betrachtet hätte. Nämlich als das absolut Fremde, gar Feindliche. Ohne, dass ich sagen könnte, wie diese Wende in mir herangereift ist, hat sich mir dieses Bild stark eingebrannt“. Schivelbusch ist ein Meister starker Bilder und Worte. Vielleicht ist es seine geistige Unabhängigkeit, die manch einem unbequem sein mag, die ihn bis heute als einen (ehemals) klassischen Linken ausweist. Zugleich ist diese Schilderung Ausdruck eines Denkens, dass als mehrdimensional beschrieben werden könnte. Schivelbusch blickt nicht nur auf einen Gegenstand – er hebt ihn auch an oder schaut dahinter. Der Titel seines jüngsten Buches „Die andere Seite“, ist hier also durchaus programmatisch zu verstehen.

Ebenso wichtig für das Verständnis seines Gesamtwerkes ist jedoch der Zufall – noch treffender wäre der englische Begriff der serendipity, des glücklichen Zufalls oder des Findens von etwas, dass man nicht gesucht hat. In unserem Gespräch und seinem jüngsten Buch beschreibt Schivelbusch, wie seine Arbeit im Archiv – das „Hineinschaufeln“ an Unmengen von Material – zunächst nicht zielgerichtet gewesen sei. Eher habe sich aus dem Gelesenen ein Bild gefügt oder eine Frage ergeben, der er dann näher nachgegangen sei. Ein Grund für dieses Vorgehen mag gewesen sein, dass Schivelbusch sich nie als großen Theoretiker verstanden hat. In der Rückschau lässt sich jedoch zumindest eine „Methode“ (und ich verwende hier bewusst Anführungszeichen, da dies reine Spekulation meinerseits ist) erkennen. Man könnte sie Schivelbuschs persönliches e pluribus unum nennen. Aus vielem – oder besser – einer Fülle an Material, leitet er eine Fragestellung ab, die er dann durch die Jahrhunderte verfolgt. Seine Liebe zu kleinen Details, die das „große Ganze“ zu charakterisieren im Stande sind und seine Sprache, die aus der Gegenüberstellung von Gegensätzlichkeiten Verbindungen herzustellen vermag, sprechen dafür.

Für mich hat Wolfgang Schivelbusch eine Sprache gefunden, die es ermöglicht, hinter den Dingen eine weitere Sinnebene wahrzunehmen. Diese geht quasi natürlich von Gegenständen aus – sie ist sogar körperlich spürbar. Doch muss erst jemand kommen, der diese Geschichten zu erzählen vermag. Wolfgang Schivelbusch tut dies seit vielen Jahrzehnten und es ist uns zu wünschen, dass er dies weiterhin tun möge. Denn Schivelbusch lesen heißt Staunen lernen.