04 Januar 2018

Essay: Jenseits von Tempo und Flexibilität. – Digitales Denken und Bildung.

Deutschland braucht ein neues Bildungssystem; besser heute als morgen! - So fordern es Journalisten, Politiker und Unternehmer gleichermaßen. Getrieben wird diese Forderung nach einer umfassenden Reform von zwei entgegengesetzten Polen. Einer erstaunlichen Digitalisierungseuphorie einerseits und der Angst vor Robotern, die unterschiedlichen Schätzungen nach zufolge zu mehr oder minder massiven Arbeitsplatzeinbußen führen könnten, andererseits. Erstaunlich dabei: Ein Großteil der Forderungen verlangt nach Flexibilität und Tempo. Kaum einmal steht Bildung an sich im Mittelpunkt. 

Erst kürzlich kommentierte Alexander Hagelüken in der SZ: "Arbeitnehmer (...) müssen Fähigkeiten erwerben, die sie ganz allgemein beruflich mobiler werden lassen, für den Wechsel in eine andere Stelle oder Firma. (...) Die Digitalisierung verlangt nach Tempo." 
Selbst wenn Hagelükens Kommentar viele kluge Gedanken enthielt - die Warnung beispielsweise, dass ob des Hypes um die so genannte "Industrie 4.0" viele wichtige Fragen, die Arbeitnehmer betreffen, ausgeblendet würden - stimmt er doch ein in den vielstimmigen Chor derer, die den  mannigfaltigen Veränderungen unserer Lebenswelt durch die Digitalisierung mit Tempo und Flexibilität begegnen wollen. Stichworte hierbei sind oftmals "Weiterbildung", "lebenslanges Lernen" oder der Erwerb von bestimmten Fähigkeiten, die Schülern oder Studenten auf dem Arbeitsmarkt weiterhelfen sollen.
Selten steht Bildung selbst im Mittelpunkt des Interesses der Reformvorschläge. Welch ein Fehler! - Es bedarf - bevor Politiker, Journalisten oder Unternehmer mit unausgegorenen Ideen vorpreschen - neben einer Annäherung an den Begriff der Bildung, einer Charakterisierung des Einflusses der Digitalisierung auf unser Denken. Daraus lassen sich für eine Bildungssystem-Reform einige grundlegende Einsichten ableiten.

Andreas Rödder schreibt in seinem Buch "21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart": "(...) wer einen Text im Internet liest, neigt dazu, über die Hyperlinks den Querverweisen zu folgen - zu "surfen" -, statt ihn linear von vorn nach hinten zu erfassen". - Prägten "(...) Hierarchisierung und Priorisierung, Ursache und Folge, Kausalität und Genealogie" unser Denken in der Moderne seit der Aufklärung, könnte die Digitalisierung dazu führen, dass sich unsere Art zu denken grundlegend wandelt. 

Nehmen wir Rödders These ernst, so muss unser Bildungssystem uns dazu befähigen beide Arten des Denkens nachzuvollziehen und sich in ihnen zu bewegen. Nur weil Online-Lexika wie Wikipedia oder Suchmaschinen immer in greifbarer Nähe sind, verlieren Fakten- sowie Allgemeinwissen nicht zwangsläufig an Bedeutung. Ohne diese Arten von Wissen herrschten Orientierungs- und Rastlosigkeit vor. Beständig würden wir die einfachsten Kausalzusammenhänge nachprüfen, kurz registrieren und in der nächsten Sekunde wieder vergessen.
Gleichzeitig sollten wir schon in der Schule durch den Ausbau von Fächern oder Übungen wie Kreatives Schreiben lernen unseren Gedanken freien Lauf zu lassen und sie schriftlich niederzulegen. Diese Übungen würden dazu beitragen der Linearität des Denkens der Moderne eine neue Art des Denkens hinzuzufügen.

Neben der Befähigung zum Denken, sollten Bildungssysteme dazu beitragen, dass Schüler und Studenten in der Lage sind einen Wahrheitsbegriff zu bilden. Sie müssen in Zeiten ständig expandierender, immer griffbereiter Informationen in der Lage sein Fakten zu prüfen und Falschmeldungen erkennen zu können. Quellen einordnen und bewerten zu können, erscheint heute besonders wichtig. 

Darüber hinaus erscheint es - auch wenn dies anachronistisch klingen mag - wichtig, Schülern und Studenten Freude an Bildung und am gebildet sein mitzugeben. Ganz ohne Hintergedanken an den Arbeitsmarkt oder zukünftige Jobaussichten.
Bloß Fähigkeiten ("skills") zu vermitteln, erscheint angesichts der Digitalisierung, die viele als eine grundlegende Umwälzung begreifen, allzu kurz gegriffen.