08 Juli 2020

Essay: No Future? – Politische Rhetorik nach der Corona-Pandemie.

Die Corona-Pandemie hat Staaten rund um den Globus getroffen. In einigen Ländern sind die Zahlen der Neuinfektionen mittlerweile rückläufig, in anderen - wie den Vereinigten Staaten von Amerika - werden seit einigen Tagen wieder deutlich steigende Fallzahlen gemeldet. Klar ist: Die Pandemie ist nicht vorüber und zeigt die Fragilität dessen, was wir als "normales" Leben ansehen. Wie wird die Politik reagieren? 

Das Jahr 1977 gilt als Geburtsstunde des Schlagwortes "No Future". Die britische Punk-Band "Sex Pistols" hatte es in ihrem bekannten Song "God Save the Queen" geprägt. Seither gab es reihenweise Interpretationen dieses Slogans und popkulturelle Referenzen. Eine besonders im deutschsprachigen Raum bekannte dürfte noch immer Falcos "Helden von heute" (1982) sein. Er singt darin: "Brot und Spiele san gefragt/ "No future" extrem angesagt". 

Das Schlagwort "No Future" charakterisierte den drastischen, sehr allgemein formulierten Wunsch, dass "System zu zerstören" (so hat es "Sex Pistols"-Sänger Johnny Rotten in seiner Autobiografie formuliert), aber auch die Verzweiflung vieler Menschen angesichts der realen Bedrohung durch einen Atomkrieg im Kontext des Kalten Krieges oder des immer weiter in den Blick tretenden Ausmaßes an Umweltzerstörung. Zur Erinnerung: Der "Club of Rome"-Bericht "Die Grenzen des Wachstums" war 1972 erschienen. Ölteppiche auf den Weltmeeren, kahle und verdorrte Bäume oder Betonwüsten wurden zu Vanitas-Gemälden, die den Menschen ihre eigene Vergänglichkeit bewusst machten. Politisches Handeln wurde von einigen als nicht ausreichend beschrieben - die Zukunft stand aus ihrer Sicht auf dem Spiel.

Der Reflex die Zukunft abzuschreiben und von einer "verlorenen Generation" zu sprechen, zeigt sich auch während der Corona-Pandemie. Auf verschiedenen Ebenen wird die Systemfrage gestellt, werden Strukturen und Institutionen hinterfragt und angezählt. Gleichzeitig zeigen sich verloren geglaubte Reflexe (Stichwort: Solidarität) und Zukunftsoptimismus (viel wird von der "Krise als Chance" oder der sich beschleunigenden Digitalisierung als "Hoffnungsschimmer" gesprochen). Unabhängig davon, wie man jene Reaktionen des Menschen auf die gegenwärtige Krise bewertet, so ist zu konstatieren, dass darin Unmut mit der gegenwärtigen Lage zum Ausdruck kommt. Weder in Bezug auf Fragen der Globalisierung oder Digitalisierung, noch in Bezug auf angemessene Reaktionen auf den Klimawandel oder gesellschaftliche Herausforderungen wie Ungleichheit auf verschiedenen Ebenen, passiert den sich in ihren Forderungen und Interessen mal mehr, mal weniger überschneidenden Akteuren genug. Darüber hinaus offenbart die Corona-Pandemie, wo genau Menschen Probleme am eigenen Leibe erfahren oder Herausforderungen vermuten.
Die Analyse einzelner Probleme würde den Rahmen dieses Essays sprengen - sie ist an anderer Stelle bereits voll im Gange. Jutta Allmendinger hat in der "ZEIT" vor einer "entsetzlichen Retraditionalisierung" von Frauenrollen gewarnt, Heinz Bude im "NDR" - die Pandemie als "weltgeschichtliche Zäsur" bezeichnend - die wiedererstarkende Rolle des Staates betont. Jürgen Habermas, der wichtigste deutsche Philosoph nach Ende des Zweiten Weltkrieges, hat in der "Frankfurter Rundschau" wiederum herausgestellt, dass es noch nie so viel "Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen" gab. Viele andere Felder - Bildungs- und Sozialpolitik, ökonomische Folgen für Einzelpersonen, Familien, Berufsgruppen oder Staaten sowie multilaterale Entwicklungen - werden ebenfalls aus einer "Corona-Perspektive" betrachtet.

Die Chance all dieser Perspektiven besteht darin, dass die Politik sich nun noch einmal neu ausrichten kann. Viele Probleme (seien es soziale Ungleichheit, die noch immer bestehende Verbindung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, der Klimawandel oder die (gesetzliche) Regulierung des Internets) sind bereits seit langer Zeit bekannt. Viele empfanden die Politik in diesen Bereichen in den letzten Jahren als zu zaghaft.
Die Corona-Pandemie gibt der Politik jedoch nun ein einfaches Mittel sich eingehender mit den als drängend empfundenen Problemen zu beschäftigen: Rhetorisch lässt sich sehr einfach behaupten, dass diese Krise gezeigt habe, dass auf dem Politikfeld x und in Bezug auf Gesetz oder Verordnung y noch dringender Handlungsbedarf besteht. Die Politik kann hier also auf vorher weniger bestellten Politikfeldern an (Output)-Legitimität gewinnen, wenn sie rhetorisch plötzlich die Verbindung zwischen einem schon länger bestehenden Problem und der Pandemie herstellt.

Zugegeben: Diese Form der politischen Rhetorik verschweigt den Umstand, dass einige Probleme von den unterschiedlichen Parteien mal mehr, mal weniger vernachlässigt wurden. Sie birgt auch die Gefahr, dass Wählerinnen und Wähler die entsprechenden Parteien an der Urne abstrafen, weil sie dieser Rhetorik nicht auf den Leim gehen. Klar ist jedoch, dass Politik in allen Feldern lange "in Bezug auf Corona" stattfinden wird und es daher sehr wahrscheinlich ist, dass sich diese Form der politischen Rhetorik häufiger zeigen wird. Wenn das am Ende dazu führt, dass demokratische Politikerinnen und Politiker ihr Handeln neu ausrichten und die in vielen Bereichen seit Jahren bekannten Probleme neu bewerten, so ist dies ein Hebel für den notwendigen politischen Wettbewerb in einer Demokratie. Wettbewerb zwischen den demokratischen Parteien bestünde dann nicht im Umstand, ob eine Partei ein bestimmtes Problem als solches erkannt habe, sondern welche Lösung sie dafür vorbrächte.
Denn Demokratie ist auch und vor allem ein Wettstreit der Ideen. Politik ist nie ein in sich geschlossener Kosmos mit Patentlösungen für jede unvorhergesehene Wendung. Die politische Rhetorik hilft dabei, die Verbindung zwischen hinlänglich bekannten Missständen und geänderten Rahmenbedingungen herzustellen.

11 März 2020

Essay: Norm und Wirklichkeit. – Versuch über eine "Ethik des Verbindenden".

Oft genug wird unter Einsatz des Begriffs "Moral" derzeit das Handeln einer Person, die gegenläufige Meinungen zu denen einer anderen vertritt, abqualifiziert. Eine mögliche Begründung für dieses vertraute Muster gegenwärtiger Debatten ist die Absolutsetzung reaktionärer wie progressiver Normen. Dieser Text plädiert für eine in drei Bausteinen (Kriterien) beschriebene "Ethik des Verbindenden", die das Ringen um einen Minimal-Konsens wieder in den Mittelpunkt stellt.   

Betrachtet man die gegenwärtig in der Öffentlichkeit und auch im Privaten ausgetragenen Gespräche, so fällt auf, dass wir häufig davon sprechen, dass diese "moralisch aufgeladen" seien. Es gibt Ewiggestrige, die jedwede Form von Veränderung mit wüsten Anwürfen zurückweisen und sich in ein non-existentes "Damals" oder "Früher" zurückwünschen, und es gibt jene, denen der Wandel gar nicht schnell genug gehen kann und die das Hinterfragen bestimmter Ideen schon als Affront interpretieren und sich den Kritikern gegenüber unversöhnlich bis unbarmherzig zeigen. Was beide Seiten eint, ist ein Hang dazu, ihre jeweiligen handlungsleitenden Prinzipien absolut zu setzen. Mir ist wichtig, dass es in diesem Text weder um die Bewertung der Qualität der reaktionären, noch der progressiven Normen geht, ebenso wie es mir notwendig erscheint klar zu machen, dass der Ausgangspunkt meines Denkens von jeher die Unantastbarkeit der Würde jedes und jeder Einzelnen war und mir die Menschenrechte als Orientierung in der Welt dienen. 
Was mich in diesem Text interessiert, ist die Frage, wie wir mit "Leidenschaft und Augenmaß" (Max Weber) zu einer (normativen) Ethik des Verbindenden kommen können. Meine These ist hierbei, dass bei all der Relevanz, die Moral (zumindest als Begriff) in unseren gegenwärtigen Debatten zu spielen scheint, ihr Ausgangspunkt (eine ihr zugrunde liegende Ethik also, die ein bestimmtes Verständnis von Moral begründet) vollkommen unklar ist. Eine seit jeher in diesem Zusammenhang gestellte Frage lautet: Was soll ich tun? (siehe z.B. die Kantischen Fragen).

Christoph Möllers hat in seinem luziden Buch "Die Möglichkeit der Normen" (2015) Normen als "positiv markierte Möglichkeiten" charakterisiert, die "auf einen möglichen Zustand oder ein mögliches Ereignis" verweisen.  Er sieht in ihnen die Möglichkeit "Distanz von der Welt" zu nehmen, ohne dass man sich zu früh "dem Problem der Rechtfertigung" (der Normen) zuwendet. - Diese Möglichkeit Distanz von der Welt zu nehmen und sich somit die Frage zu stellen wie sie sein könnte, ist in meinen Augen der erste Baustein einer Ethik des Verbindenden. Jeder konkreten Verhaltensregel und dem Handeln danach liegt ein Nachdenken darüber zugrunde. Dabei mündet das Nachdenken über die Möglichkeiten einer Norm noch nicht zwangsläufig in Appellative. Diese entfalten sich erst auf Basis der Zusammenschau verschiedener Normen zu einer bestimmten Vorstellung von Moral. - Die Frage wie etwas sein könnte, ist grundsätzlich eine produktive. Sie weist in die Zukunft und eröffnet neben einer von Grund auf neu gedachten Idee wie Welt zu organisieren sei, auch die Möglichkeit diese Zukunft nach einem bereits bestehenden (oder gar vergangenen) Modell zu entwickeln. Wichtig ist, dass all diese Ideen eine Unsicherheit in sich tragen, weil sie die Stabilität der gegenwärtig existenten, in Frage stehenden Norm (und daran angeschlossener Verhaltensweisen o.ä.) erst einmal erodieren. Dies zu begreifen, ist wichtig, um den Wandel anderen, die sich unterscheidende Vorstellungen haben, nachvollziehbar machen zu können. Dieser Umstand weist auf die Relevanz von Verständigung zwischen unterschiedlichen Interpretationen von Welt hin, die der zweite Baustein aufgreift.

Dieser zweite Baustein einer Ethik des Verbindenden muss die - kaum überraschende - Einsicht beinhalten, dass nichts im Leben eines Menschen so stetig ist wie der Wandel. Einen Anspruch auf dauerhaft gültige Normen und ewig bestehende Moralvorstellungen gibt es daher nicht. Weiter oben habe ich darauf verwiesen, dass gerade dieser Absolutheitsanspruch derzeit jedoch sowohl im reaktionären wie auch im progressiven Lager verfängt. Dabei müsste statt einer Absolut-Setzung die Fähigkeit zur Aushandlung eines Minimal-Konsenses stehen, ebenso wie ein stärkerer Fokus auf der Begründung der jeweiligen Vorstellungen. Nur so bleiben unterschiedliche Interpretationen der Welt und dessen, was und wie sie sein könnte, miteinander vereinbar (um nicht zu sagen: möglich). Der Raum dessen was möglich wäre, entfaltet sich erst da, wo Welt unterschiedlich ausgedeutet werden kann. Die Schwierigkeit besteht darin, auch bei diametral gegenläufigen Interpretationen von Welt untereinander sprachfähig zu bleiben. Mit anderen Worten: Es bedarf gewisser Grundkonzepte, auf die man sich in ihrer Bedeutung einigen können muss, um dann um ihre genaue Umsetzung (Konzeption) zu ringen (concept/conception-Unterscheidung nach Rawls).
Für den Begriff der Gerechtigkeit, beispielsweise, gilt laut der Stanford Encyclopedia of Philosophy die Beschreibung des Begriffs der Gerechtigkeit in den Institutiones Iustiniani als plausibelste Grunddefinition des Konzepts. Hierbei wird Gerechtigkeit als "beständiger und andauernder Wille jedem das Seine zukommen zu lassen" definiert (Lateinisches Original: "iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens", I. 1.1). Basierend auf diesem Grundverständnis kann nun um die daraus folgenden Normen oder Handlungsanweisungen gerungen werden.
Zur Erzielung eines Minimal-Konsenses erscheint es grundsätzlich sinnvoll, die Geschichte von Begriffen und die Bedeutung einzelner Normen und Moralvorstellungen nachzuvollziehen. Sie alle nehmen zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext ihren Ausgang und vollziehen im Laufe der Jahrhunderte mehr oder weniger große Wandlungen. Eine möglichst schlüssige Herleitung der eigenen Überzeugung, was die Möglichkeit einer bestimmten Norm sei, macht eine Verständigung über gemeinsame Grundüberzeugungen wesentlich leichter. Zugleich fördert sie offensichtlich unvereinbare Ideen zutage. Hier muss nun der Wille das Verbindende zu suchen, einsetzen. Präzise Nachzeichnungen der Begriffsgeschichte bedeutender Grundkonzepte der Philosophie (z.B. Gerechtigkeit, Freiheit, Wille) könnten hier einen großen Beitrag leisten.

Neben den zwei zuvor genannten Bausteinen (Kriterien) einer Ethik des Verbindenden - Normen als Möglichkeit Distanz von der Welt zu nehmen (1) und die Suche nach einem Minimal-Konsens zwischen unterschiedlichen Interpretationen von Welt (2) - muss ein dritter Baustein die grundsätzliche Rahmung des Nachdenkens über eine bestimmte Moral und ihre Begründung (Ethik) bilden. Meines Erachtens nach bilden die Menschenrechte in ihrer Unveräußerlichkeit eben diesen Rahmen.

Der US-amerikanische Rechtshistoriker Samuel Moyn nennt sie "das letzte Utopia" (The Last Utopia, 2010). Eine tiefgreifende Bedeutung bekommen die Menschenrechte laut Moyn erst in den 1970er-Jahren; in dem Moment, als andere Utopien für eine bessere Zukunft - er nennt hier beispielsweise den Kommunismus - ihre Strahlkraft verlieren oder in sich zusammenfallen. Was die Menschenrechte zu einer solch überzeugenden Utopie macht, so meine ich, ist die Gedoppeltheit ihrer Vision. Zum einen versprechen die Menschenrechte jedem und jeder Einzelnen eine Welt in der ihm oder ihr das gleiche Maß an Würde und Respekt zuteil wird, jeder also in seiner Individualität anerkannt wird. Zum anderen verweisen die Menschenrechte auf eine universelle Gültigkeit, die alle Menschen als Gleiche unter Gleichen betrachtet. In der Verbindung zwischen individueller Anerkennung und universeller Gültigkeit zeigt sich die herausgehobene Stellung der Menschenrechte als Basis einer Ethik des Verbindenden.
Thomas Pogge hat die besondere Bedeutung der Menschenrechte in ihrer Unveräußerlichkeit wie folgt definiert: "(...) das Recht selbst verankert die Menschenrechte in einer Weise, die über das Recht hinausweist: In Form einer Normativität nämlich, die in ihrer Existenz nicht vom Recht abhängt und nicht durch eine gesetzliche oder juristische Anordnung bzw. durch andere Mechanismen der Gesetzgebung wie Verträge oder internationale Bräuche verändert oder aufgehoben werden kann (...) Ein unveräußerliches Recht ist ein Recht, welches seine Besitzer nicht verlieren können; durch nichts was sie selbst tun (Verzichtserklärung oder Verwirkung), noch durch irgendetwas was andere z.B. durch Veränderung des Rechts tun" (Pogge 2019 [Englisches Original: 2011]).

Eine Ethik des Verbindenden besteht aus ebenso abstrakten wie konkreten Elementen. Während ihre Basis das Nachdenken über Normen auf Basis der Menschenrechte in Anerkennung der Wandelbarkeit von Begriffen ist, sind einmal gesetzte Normen unmittelbar. Sie wirken sich auf das Handeln und Denken von Menschen aus und dienen als Orientierung in der Welt.
Ziel dieses kurzen Textes war es, ein paar Grundüberlegungen zu einem neuen Nachdenken über eine Ethik anzustellen, die es ermöglicht, sich unversöhnlich gegenüberstehende Gruppen wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Konkrete Fallbeispiele, detaillierte Begründungen der Notwendigkeit einer neuen Ethik und ihre Ausgestaltung, sind im Rahmen dieses Textes nicht möglich. Möge er anderen eine Inspiration für genau diese Überlegungen sein. 

06 Februar 2020

Essay: Wie Wandel gelingen kann. – Zwei Miniaturen.

Die 2010er-Jahre haben uns eine Reihe drängender Fragen hinterlassen. In zwei kurzen Miniaturen versuche ich zu zeigen, was uns dabei helfen kann, zu einem gelingenden Wandel beizutragen.

Wer in den letzten Wochen durch Magazine oder Zeitungen geblättert hat, auf Instagram oder Twitter aktiv war oder Websites quergelesen hat, wurde immer wieder mit groß angelegten Bilanzen der 2010er-Jahre konfrontiert. Der "Sound" vieler Artikel lag irgendwo zwischen Ernüchterung und Krisenmodus, zwischen sehr leisem Optimismus und lähmender Verzagtheit. Am Ende eines Jahrzehnts Bilanz ziehen, heißt auch aus der gegenwärtigen Gemütsverfassung der jeweiligen Autorin oder des jeweiligen Autors heraus abzurechnen. Die Bewertung der vergangenen Jahre erfolgt aus der "breiten Gegenwart" (Hans Ulrich Gumbrecht) heraus, oft beeinflusst durch Heuristiken wie den "availability bias", der uns eindrückliche Ereignisse wie Terroranschläge, Flugzeugabstürze oder ähnliches wahrscheinlicher erscheinen lässt, als sie es statistisch sind. Bewertungen der vergangenen Dekade sind also mindestens mit Vorsicht zu genießen - eine gewisse Distanz wird Ereignisse der 2010er-Jahre noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lassen.  

Klar ist: Die 2010er-Jahre haben uns eine ganze Menge Fragen hinterlassen. Diese reichen vom Klimawandel und all seinen nachgelagerten Herausforderungen über die Digitalisierung, die neben Fragen der Privatsphäre auch Fragen nach Arbeitsplatzschaffung und -rationalisierung aufwirft, Migration und Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften sowie die Bedrohung konsolidierter Demokratien durch Populisten.
Es ist leicht angesichts der Herausforderungen, die die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten begleiten werden, zu verzagen. Ratsam ist es nicht. Eine der zentralen Aufgaben der 2020er-Jahre wird es sein, mit den teils überlebensgroßen Herausforderungen umgehen zu lernen. Zwei Dinge können uns hierbei in meinen Augen helfen:

(1) Die Wiederbelebung der Öffentlichkeit in Politik und Gesellschaft oder: Über Kompromisse.

Der Begriff Öffentlichkeit kennt eine ganze Reihe von Definitionen. Ex negativo umreißt er das Nicht-Private. Schon diese Definition und ihre Auslegung könnten Gegenstand eines langen Exkurses sein. Um diesen abzukürzen, erlaube ich mir an dieser Stelle eine Setzung: Ganz im Sinne Seyla Benhabibs möchte ich Öffentlichkeit im Raum des Politischen verorten. In meinen Augen entfaltet sich der Raum des Politischen zwischen dem Staat mit all seinen Institutionen und Amtsträgern und der Gesellschaft, die sich aus Individuen und ihren je eigenen Bezügen aufeinander zusammensetzt. Öffentlichkeit verweist auf den Aushandlungsprozess politischer Fragen zwischen Staat und Gesellschaft. Außerdem bildet sie das Forum für neue Ideen, die einer der vorgenannten Akteure in den politischen Raum einbringt.
Allerorten wird beklagt, dass staatliches Handeln und gesellschaftliche Realität derzeit viel zu oft getrennt voneinander zu sein scheinen. Ich denke, dass Staat und Gesellschaft schon immer in einer Art und Weise voneinander getrennt waren; sie sind nicht deckungsgleich. Zwar ist der Souverän in einer Demokratie das Volk, welches verfassungsgebend ist und von dem alle Staatsgewalt ausgeht (Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 2). Jedoch ist damit meines Erachtens nicht gemeint, dass staatliches Handeln und gesellschaftliche Realität bzw. Wünsche Einzelner an den Staat von vornherein deckungsgleich sein müssen.
Von entscheidender Bedeutung ist hierbei der (politische) Aushandlungsprozess, die Suche nach Kompromissen. Gegenwärtig wird dieser Prozess kaum wertgeschätzt. - Eine mündige Bürgerin bzw. ein mündiger Bürger zu sein heißt, sich seiner je eigenen Verantwortung für politische Entscheidungen bewusst zu sein und diese - beharrlich und ohne den Einsatz von Drohungen oder physischer Gewalt - im öffentlichen Raum zu vertreten. Die Politik muss den Vorstellungen und Wünschen der Bürger Rechnung tragen, indem sie diese anhört, aufnimmt und in den politischen Prozess einfließen lässt.
Auch in einer repräsentativen Demokratie gibt es viele Möglichkeiten, sich zu engagieren, seine Meinung in den Prozess der Aushandlung einzubringen oder - und vielleicht gar vor allem - selbst Verantwortung zu übernehmen. Wichtig dabei ist, dass das Vertreten seiner eigenen Interessen niemals nur Selbstzweck sein darf und nicht von egoistischen Motiven geleitet sein sollte. Eine liberale Gesellschaft anerkennt die Freiheit jedes Einzelnen, misst ihm daher aber auch Verantwortung für sein Handeln zu. Dieses Leitmotiv erkennt in dieser Verantwortung auch die Notwendigkeit an, andere in den eigenen Vorschlägen mitzudenken, sie einzubeziehen oder sich einer Gruppe anzuschließen, die für die eigenen Überzeugungen einsteht. Ebenso bedeutet Verantwortung aber auch, duldsam und tolerant gegenüber anderen Gesellschaftsentwürfen zu sein - so sie denn auf dem Boden unserer Verfassung stehen. Schlussendlich bedeutet sie auch, kompromissbereit zu sein. Denn ohne Kompromisse, werden Aushandlungsprozesse allzu schnell zu Schaukämpfen ohne Ergebnis.


(2) Das Prinzip Hoffnung oder: Die Rolle des Pragmatismus. 

Jüngst hat Jonathan Franzen mit seinem Essay "What if We Stopped Pretending?" (The New Yorker, 08. September 2019) ein auf den ersten Blick sehr düsteres Bild für die Zukunft gezeichnet. Er schreibt, es gäbe zwei Möglichkeiten über den Klimawandel und seine Folgen nachzudenken, wenn man sich um den Planeten sowie die Menschen und Tiere auf der Erde sorge. Entweder, man hoffe, dass die Katastrophe noch abwendbar sei und würde von der Tatenlosigkeit der Welt von Tag zu Tag frustrierter oder wütender, oder man akzeptiere, dass ein "Desaster" eintrete und begönne von Neuem darüber nachzudenken, was es heiße Hoffnung zu haben.
Wie so oft in unserer (in vielerlei Hinsicht) überhitzten Zeit der unausweichlich unmittelbaren Reaktionen, wurde Franzens Essay als Nackenschlag für all jene interpretiert, die sich gegen den Klimawandel stemmen oder auf die Straße gehen, um der Öffentlichkeit immer wieder die Notwendigkeit zu handeln vorzuhalten. Man warf Franzen vor ein Pessimist zu sein, ein Zyniker gar. Zynismus gibt der Essay jedoch nicht her - vor allem dann nicht, wenn man die Definition dieses Wortes noch einmal genau studiert. Im "Großen Wörterbuch der deutschen Sprache" findet man das Wort "zynisch" unter anderem definiert als "eine gefühllose, mitleidlose, menschenverachtende Haltung zum Ausdruck bringend (...)". Wenn Franzens Essay eines nicht ist, dann menschenverachtend. Ganz im Gegenteil: Er ist getragen von einer humanistischen (auch kommunitaristischen) Grundhaltung, welche angesichts der dräuenden Katastrophe, die es zu akzeptieren gelte, die Bedeutung kleiner Schritte hervorhebt. In Franzens eigenen Worten klingt dies so: "Keep doing the right thing for the planet (...) but also keep trying to save what you love specifically - a community, an institution, a wild place, a species that's in trouble - and take heart in your small success".
Natürlich kann man Franzen Resignation vorwerfen; man kann der Meinung sein, dass seine Vorstellung davon, wie die Zukunft sich gestalten werde, zu düster sei. Jedoch erscheint diese Reaktion zu kurz gedacht - zu unmittelbar. - Denn welch produktive Gedanken beinhaltet Franzens Essay?
Wenn man seinen Text bloß überfliegt, kann man ihn als Entlastung lesen. Getreu dem Motto: "Wir können eh nichts tun, deshalb können wir uns der Katastrophe auch ergeben". Das genau sagt Franzen jedoch nicht. Er will, dass wir handeln - gemeinsam und jeder für sich. Er strukturiert jedoch unsere Erwartungen neu; er lässt uns eine neue Form des Pragmatischen erkennen. Wir können nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass wir das Unter-Zwei-Grad-Ziel (noch) erreichen werden, daher müssen wir einen neuen Umgang mit dem Klimawandel finden. Wir müssen uns ambitionierte, aber realistische Ziele setzen, den Fokus auf die Prävention vor Feuern und Fluten legen, Strategien zum Umgang mit vom Klimawandel bedrohten Staaten und Menschen finden sowie unsere Demokratien stärken, um zu verhindern, dass sie in Zeiten größten Drucks zusammenbrechen. All diese Punkte nennt Franzen - und er nennt sie zurecht. Was auf dem Spiel steht, was zu bewältigen wäre, ist immer noch gewaltig, aber es ist zweifelsohne leichter beispielsweise Vorkehrungen gegen massive Überschwemmungen zu treffen, als die weltweiten Emissionen auf Null zu senken. Noch einmal: All das entbindet uns nicht von der Verantwortung alle Anstrengungen für die Erreichung des Unter-Zwei-Grad-Zieles zu bündeln, aber es zeigt uns eine "second best option" auf, die uns immer noch in die Pflicht nimmt. Unmittelbarer sogar als es das erste Ziel tut. Ein Feld kann ich alleine bestellen und darauf für gute, ökologische Bedingungen sorgen - das kann ein Signal für andere sein, sich auch für eine bessere Landwirtschaft, ein nachhaltigeres Denken und Handeln einzusetzen.

Was diese beiden Miniaturen exemplarisch zeigen ist, dass die großen und zum Teil bedrohlichen Fragen unserer Zeit nicht gelöst werden können, wenn wir vor ihrer schieren Größe verzagen. Sie verlangen von uns, sie anders und neu zu stellen - sie darauf zu prüfen, ob sie uns vielleicht schon Wege vorgeben (ob alt und lange nicht mehr betreten oder neu und erst Stein für Stein gebaut) und sie weisen Kompromiss und Pragmatismus - zwei derzeit nicht sehr beliebten Kategorien des Politischen - eine entscheidende Rolle zu.
Wie sich unser Zusammenleben in Zukunft gestaltet, entscheidet sich in der Rolle, die wir der Öffentlichkeit beimessen und darin, wie wir lernen, scheinbar ausweglose Situationen so zu rahmen, dass unser Handeln die Hoffnung auf Veränderung erhält.