Christoph Möllers, 1969 in Bochum geboren, hat seit 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie inne. Außerdem ist er seit 2012 Permanent Fellow des Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sein Buch "Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik" erschien 2020 und wurde im Jahr darauf u.a. mit dem renommierten Tractatus-Preis des Philosophicum Lech ausgezeichnet. Am Morgen des 1. September 2023 treffen wir uns zu einem anderthalbstündigen Gespräch in den Räumlichkeiten des Wissenschaftskollegs. Es geht neben dem vorgenannten Buch auch um Christoph Möllers biographische Prägung und sein Verständnis der Rolle von Intellektuellen.
Tobias Lentzler: Lieber Herr Möllers, ich habe in einem Artikel über Sie gelesen, dass Sie bereits mit 20 Jahren den Wunsch hatten, Professor für Öffentliches Recht zu werden. Woher kam diese frühe Zielstrebigkeit?
Christoph Möllers: Ich habe sehr früh gemerkt, dass ich gerne schreibe und auch, dass ich – bei Referaten etwa – gerne vor einer Klasse stehe. Eine weitere Prägung habe ich sicher durch meinen Vater erhalten, der in seiner Jugend auch einmal die Ambition hatte, als Professor an eine Universität zu gehen. – Ich hätte gerne Physik und Volkswirtschaftslehre studiert, habe aber früh festgestelltt, dass ich naturwissenschaftlich zu unbegabt bin, um das ernsthaft zu betreiben. Ich habe mir dann überlegt, dass ich etwas studieren möchte, was zum einen politisch, zum anderen aber auch theoriefähig ist. Dass es am Ende Verfassungsrecht geworden ist, kann ich am ehesten mit Intuition begründen. Denn in meinem familiären Umfeld kannte ich niemanden, der Jura studiert hatte. Verfassungsrecht liegt ja in der Mitte zwischen praktischer bzw. politischer Philosophie und etwas sehr Handfestem, Handwerklichem.
Tobias Lentzler: Welche beruflichen Alternativen hätte es sonst für Sie gegeben?
Christoph Möllers: Ich hätte auf jeden Fall gründlicher Philosophie studieren wollen, als ich es gemacht habe – dann hätte ich mir auch eine ganze Menge an Literaturwissenschafts-Vorlesungen sparen können, die ich besucht habe (lacht). Aber auch rückblickend war es für mich die richtige Entscheidung bei Jura zu bleiben. Zwischen 19 und 34 Jahren habe ich das eigentlich sehr konsequent durchgezogen und fühle mich dort immer noch gut aufgehoben.
Tobias Lentzler: Diese Konsequenz Ihres Handelns finde ich sehr beeindruckend. Denn gerade in jungen Jahren verändern sich der Fokus und die Interessen ja doch immer mal wieder.
Christoph Möllers: Ich wundere mich manchmal selbst darüber. Am Ende hatte ich Glück, dass ich mich aus den eigentlich falschen Gründen für das Richtige entschieden habe. Denn eine genaue Vorstellung davon, was Jura sei, hatte ich natürlich nicht.
Tobias Lentzler: Sie sind 1969 im Ruhrgebiet geboren. Wie hat Sie Ihr Aufwachsen dort geprägt? Sind Sie mit der viel gerühmten "Malochermentalität" groß geworden?
Christoph Möllers: Ich glaube, ich weiß überhaupt nicht, was eine "Malochermentalität" ist. Meine Eltern sind Mittelschichtsbürger mit unterschiedlich stark ausgeprägten Verwachsungen im Ruhrgebiet. Für mich war es ein Ort, an dem ich machen konnte, was ich wollte. Ich war viel im Theater – damals war am Bochumer Schauspielhaus noch Claus Peymann Intendant; auch in die Essener Philharmonie bin ich viel gegangen. Mit dieser Ruhrgebietsmentalität, die Sie erwähnen, habe ich eigentlich nicht wirklich etwas anfangen können. Der Historiker Ulrich Herbert, der im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, hat mal einen sehr schönen Aufsatz darüber geschrieben, in dem er festhält, dass das Ruhrgebiet eigentlich eine Konstruktion ist, die es so nie gegeben hat. – Aus heutiger Sicht habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Region. Wenn ich dort hinkomme, habe ich das Gefühl, dass eine gewisse Tristesse und auch ein gewisser Fatalismus hindurch wehen. Die Region befindet sich mitten in einem lange andauernden Umbauprozess, die Armutsquote ist höher als im Bundesdurchschnitt. Andererseits finde ich es als jemand, der in Berlin lebt, sehr schön von irgendwo anders zu kommen.
Tobias Lentzler: Kommen wir vom Biographischen auf Ihre wissenschaftliche Arbeit zu sprechen. In einem alten "ZEIT Magazin"-Portrait von Heinrich Wefing habe ich gelesen, dass Wissenschaft für Sie ein "Ruheraum für Reflexion" sei. Sinngemäß haben Sie dort auch gesagt, dass es möglich sein müsse, Gesellschaften so zu analysieren, dass sich die Ergebnisse auch einmal gegen die Erwartungen einer Gesellschaft stellen. Diese beiden Äußerungen stehen exemplarisch für die Idealtypen des unabhängigen Wissenschaftlers, aber auch des öffentlichen Intellektuellen. Wenn ich versuche, diese Idealtypen mit unserer Gegenwart übereinzubringen, in der das Uneindeutige ein Opfer geworden zu sein scheint, dann frage ich mich zweierlei. Zum einen: Ist die Figur des public intellectual aus Ihrer Sicht tot oder quicklebendig? Und zweitens: Wie begreifen Sie diese Figur selbst?
Christoph Möllers: Ich habe mich nie rollentheoretisch verstanden, sondern immer von meinen Interessen aus gedacht. In die Figur des öffentlichen Intellektuellen bin ich ein bisschen hineingeraten und ich frage mich manchmal, ob ich dieser auch wieder entschlüpfen könnte. Um das Ganze vielleicht doch noch einmal biographisch zu wenden: Bis ich 35 war, habe ich gedacht, ich würde einfach Theorie treiben, doch dann bin ich, u.a. durch das Schreiben von Artikeln, auch in die Praxis hineingeraten. Seitdem jongliere ich beständig zwischen beidem. Als das Portrait von mir im "ZEIT Magazin" erschien, waren die Erwartungen an öffentliche Äußerungen noch deutlich weniger normativ aufgeladen. Man kann auch sagen: Es war wesentlich idyllischer. Natürlich ist es Unsinn zu behaupten, die Meinungsfreiheit sei heute unter Druck. Aber was sich schon feststellen lässt, ist dass es wesentlich mehr vorformatierte Diskurse zu geben scheint. Ich glaube aber nicht, dass dadurch die Figur des öffentlichen Intellektuellen stirbt. Der ist schon häufig genug totgesagt worden. Man muss für sich persönlich die Entscheidung treffen, wie sehr man sich am öffentlichen Diskurs beteiligen will. Ich habe das Privileg, dass ich mich auch auf meine akademische Laufbahn zurückziehen und nur noch Dinge tun könnte, die gesellschaftlich vielleicht als irrelevant angesehen werden. Das ist gewissermaßen sehr tröstlich für mich.
Tobias Lentzler: Nun haben Sie ja durch Ihre öffentlichen Auftritte, Zeitungsartikel o.ä. aber auf jeden Fall einen Äußerungstrieb. Gibt es irgendwelche Debatten, die Sie gerne anstoßen oder stimulieren würden?
Christoph Möllers: Ich muss noch mal einen Schritt zurückgehen und reflektieren, woher dieser Äußerungstrieb kommt. Ich bin das Kind eines Erwachsenenbildners. Verfassungsrecht hat eine sehr theoretische, sehr abstrakte Ebene; zugleich ist die Verfassung ja aber für uns alle da. Das zu erklären – auch ganz basal oder naiv – scheint mir wichtig. Daher habe ich mit erklärenden Sachbüchern angefangen. Das Teilnehmen an öffentlichen Debatten ist nicht unbedingt mein erster Reflex. Ich bin also eher an die Öffentlichkeit getreten, um komplexe Themen erklärbar zu machen. Gerade Juristinnen und Juristen neigen dazu, sich unerklärbar zu machen und damit Herrschaftswissen an sich zu reißen. Zugespitzt könnte man sagen: Mein Gegenimpuls, die Dinge verständlich zu machen, war sozialdemokratisch-aufklärerisch geprägt. Natürlich ist das aber nicht durchhaltbar. Epistemologisch ist es sogar naiv. Denn durch das Erklären verformt man natürlich die Dinge, die in Rede stehen. Um nun zu Ihrer Frage zu kommen: Es gibt sicher verschiedene Debatten, die aus meiner Sicht in unterschiedlichen Ländern schräg laufen und zu denen ich etwas beitragen könnte. Aber so zu tun, als hätte ich einen kompletten Überblick über alle möglichen laufenden Debatten, ist mir fremd. Wenn ich mich irgendwo einschalte, versuche ich, das Ganze auf mein Fach zurück zu beziehen.
Tobias Lentzler: Exemplarisch für Ihr Verständnis des Eingreifens in die öffentliche Debatte scheint mir Ihr Aufsatz "Wir, die Bürger(lichen)" von 2017, den Sie im "Merkur" veröffentlicht haben. Er beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Autoritarismus und Demokratie und der Frage, wie Menschen, die sich selbst als "Mitte" begreifen, sich in dieser Debatte positionieren oder eben auch nicht. Der Essay wendet sich natürlich an ein intellektuelles Publikum, ist aber zugleich sehr zugänglich. Sätze wie "Niemand mag politische Parteien, und das ist nichts Neues" haben eine gewisse Flapsigkeit, treiben das Argument des Essays aber auch voran. In der Einleitung Ihres Buches "Freiheitsgrade" (2020) nennen Sie den Aufsatz zudem explizit eine Vorüberlegung des Buches. An einer Stelle Ihres Essays schreiben Sie von der "bürgerlichen Verachtung" gegenüber demokratischen Prozessen. Was genau meinen Sie damit?
Christoph Möllers: Viele Menschen meinen, dass ihre Teilnahme an der bürgerlichen Gesellschaft und auch alle Phänomene des bürgerlichen Erfolgs sich keinen politischen Prozessen verdanken würden. Das ist eine sehr verführerische, aber bei näherem Hinsehen sofort falsche Annahme. Denn alles hat einen bestimmten politischen Prozess durchlaufen. In aller Regel war dieser nicht egalitär. Die Selbstaufklärung, dass man nichts, was man hat, verdient, würde nach meiner Ansicht dazu führen, dass ein bürgerliches Publikum ein demokratisches Politikverständnis entwickelt. Natürlich heißt das nicht, dass all diese Menschen autoritär denken – es heißt eher, dass viele den letzten Schritt dessen, was Politik bedeutet nicht gehen können oder wollen. Denn wenn man der Überzeugung ist, dass alles, was man besitzt auf dem eigenen Verdienst beruht, fühlt man sich von dieser Erkenntnis vielleicht entwertet.
Tobias Lentzler: Sie illustrieren dies in Ihrem Essay mit der quasi vorauseilenden Entschuldigung vieler Bürger, dass sie sich ja im Privaten engagieren würden – sei es für Flüchtlingsinitativen, als Nachhilfelehrer oder Tafel-Mitarbeiter. Die Mühen der Ebene, die Kärrnerarbeit des Parteidaseins lernt man so natürlich nicht kennen. Zugleich muss man jedoch konstatieren, dass ziviles Engagement in die Politik hineinwirkt. – Wenn wir einmal Ihren Befund ernstnehmen, dass politische Prozesse vor allem durch das Engagement in Parteien beeinflusst werden können, sieht es nicht gerade gut aus. Bis auf Bündnis 90/Grüne und die AfD, und in den letzten zwei Jahren auch die FDP, verlieren vor allem die Volksparteien seit vielen Jahren Mitglieder – durch Austritt, aber auch durch Tod. Von einem Wachstum politischen Engagements kann man also nicht sprechen.
Christoph Möllers: Der Fall der AfD ist interessant. Ich habe das Gefühl, dass diese feste Verwurzelung im Osten Deutschlands für diese Partei eine große Stärke ist. Denn die Menschen im Osten haben die Erfahrung gemacht, dass man Regierungen stürzen kann, dass alles endlich ist. Völlig unabhängig davon, was man von der Partei politisch hält, kann man hier eine gewisse Politikfähigkeit konstatieren. Die kann ich in den Gebieten der alten Bundesrepublik so nicht erkennen. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Die AfD ist Ausdruck eines Zutrauens in Politik. Auch, wenn wir uns vielleicht eine andere Form derselben wünschen würden. Diese Stärke müssen wir verstehen lernen und uns im Anschluss fragen, was man daraus auch für andere Formen der Politik machen kann. Mir erscheint vor allem das Zutrauen darin, dass man mit einer Mischung aus Kampagnen- und Parteiarbeit etwas erreichen und Menschen mobilisieren kann, das zu sein, was allen anderen Parteien zurzeit fehlt.
Tobias Lentzler: In den Debatten der Gegenwart, in denen interessanterweise die beiden wachsenden Parteien an den entgegengesetzten Enden ihre Positionen beziehen, sprechen wir derzeit häufig davon, dass das "Moralische" (was auch immer das im Einzelnen sein soll), das Politische ablöse. Häufig geht es in Diskussionen als nicht mehr vordergründig um politische Entscheidungen, sondern moralische Abwägungen. Wie kommen wir da wieder heraus?
Christoph Möllers: Jedenfalls nicht damit, dass die Mehrheitsparteien ein schlechtes Gewissen haben. Die Ausstrahlung der Politik in Bezug auf das Erstarken der AfD wirkt sehr defensiv. Häufig hat man das Gefühl, dass Politiker dieser Parteien annehmen, sie seien tatsächlich Schuld am Aufstieg der AfD. Uns fehlt ein republikanisches Selbstbewusstsein. – Es kommt hinzu, dass man als in der alten Bundesrepublik Geborener überhaupt keine Erfahrung mit politischen Auseinandersetzungen hat. Der Betrieb wird in gewisser Weise "durchverwaltet". Eine Form offensiven Bundesrepublikanismus gibt es nicht. Vielleicht wäre es gut, sich in dieser Hinsicht zu schulen. Die Bundeszentrale für politische Bildung kann dabei sicher nicht die einzige Lösung sein.
Tobias Lentzler: Jan-Werner Müller hat in diesem Zusammenhang jüngst in der "ZEIT" davon gesprochen, dass Demokratien die Bereitschaft bräuchten, konstruktiv zu streiten. Es wirkt derzeit so, als versuche die Politik verzweifelt, aufreißende Gräben zuzuschütten. Aber wenn ein Graben geschlossen ist, tut sich kurz darauf ein neuer auf. Vielleicht müssen wir diese Konflikte für den Moment aushalten und austragen.
Christoph Möllers: Vor allem muss man den Leuten jeweils klar sagen, dass sie unrecht haben. Es wirkt paternalistisch, wenn zunächst Verständnis geheuchelt wird: "Ihr habt ja recht" und im nächsten Satz heißt es: "Politisch habt ihr euch aber verirrt". Entscheidend ist, konfliktbehaftete Themen – seien es zum Beispiel die Klimapolitik oder auch die Flüchtlingspolitik – offen zu problematisieren. Nehmen wir das Beispiel Migration: Diese ist objektiv betrachtet eine Herausforderung. Vor dieser stehen wir aber als Deutschland nicht alleine. Auch andere europäische Länder, ebenso die USA, müssen sich damit auseinandersetzen. Wir müssen klar benennen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, damit umzugehen. Keine wird alle zufriedenstellen. Dass man politisch Verfolgten Asyl gewährt, sollte in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein. Aber die Politik muss ihre Abwägungsprozesse besser erklären – auch, wenn das angesichts einer zunehmend fragmentierten Medienlandschaft schwierig ist.
Tobias Lentzler: Das Stichwort Medienlandschaft möchte ich gerne aufgreifen. Sie haben im April 2023 der "taz" ein Interview gegeben, in dem Sie einen Gedanken aus "Freiheitsgrade" ausführen. Dieser lautet, dass Freiheit, aber auch Demokratie eine körperliche Komponente haben. Die Digitalisierung hat ja zweifelsohne dazu geführt, dass unser Leben sich stark verändert hat. Kaum ein Prozess ist davon nicht betroffen. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung Ihrer Meinung nach auf das Politische?
Christoph Möllers: Ich bin ehrlich gesagt immer weniger zufrieden damit, die Digitalisierung als Erklärung für irgendetwas gelten zu lassen. Wir wissen mittlerweile zum Beispiel ja, dass die Filterblasen-Theorie nicht stimmt. Der Rückzug politischer Parteien oder gesellschaftlicher Akteure auf ihr Stammpublikum ist sicher real, aber ein Digitalisierungsphänomen ist das nicht. Denken Sie an die Fragmentierung der Gesellschaft des Kaiserreichs oder die Entstehung der Arbeiterbewegung. Das sind Phänomene, die man unter diesem Gesichtspunkt analysieren müsste. Der Rückzug auf Teilöffentlichkeiten, den man beispielsweise auch bei Zeitungen beobachten kann, lässt sich aus meiner Sicht nicht rein technisch begründen. – Ich bin kein Medientheoretiker, aber ich fände es interessant, statt von der Digitalisierung einmal von der Körperlichkeit her zu denken. Wenn wir uns fragen, was in den letzten Jahrzehnten anders geworden ist, so ist das selbstverständlich die Möglichkeit, jeden sofort ohne irgendwelche materiellen Schwellen erreichen zu können. Wenn ich früher einen Brief geschrieben habe, habe ich ihn vorher natürlich noch einmal durchgelesen. Ich musste ihn adressieren, eine Briefmarke draufkleben und dann zur Post bringen. Dabei konnte ich mir mehrfach überlegen, ob ich den Brief wirklich abschicken will. Diese Schwelle der unterlassenen Kommunikation ist eingerissen. Vielleicht fehlt uns diese Möglichkeit heute. Wenn wir dafür aber allein die Digitalisierung verantwortlich machen, schreiben wir die Geschichte der großen Digitalunternehmen mit und überhöhen ihre Bedeutung. Diese Unternehmen erschaffen die Illusion eines Zugriffs auf die Welt, der uns aber in keiner Weise dabei hilft, Probleme wie den Klimawandel in den Griff zu bekommen.
Tobias Lentzler: Die Welt zu beklagen, ist laut Wolf Lepenies seit jeher ein Topos der Intellektuellen. Liest man seine Dissertation "Melancholie und Gesellschaft" (1969), hält er an einer frühen Stelle fest, dass aus dieser Form des Beklagens utopisches Denken entstehen kann – frei paraphrasiert heißt es dort: Der Intellektuelle leidet an der Welt und erfindet eine bessere, die die Melancholie vertreiben soll. Wenn man diesen Ansatz mit Ihrem Buch "Die Möglichkeit der Normen" (2015) verbindet, in dem Sie Normen als "positiv markierte Möglichkeiten" begreifen, stellt sich für mich die Frage, welche Rolle Intellektuelle bei der Schaffung von Normen spielen.
Christoph Möllers: Das Buch hat ja einen analytischen Zugriff. Es ist sein Anspruch, den Normenbegriff zu entmoralisieren. Als Agenda für öffentliche Intellektuelle erscheint es mir daher nicht brauchbar. Denn wenn wir uns die Figur einmal anschauen, stellen wir fest, dass wir sie über viele Jahrzehnte stark normativ aufgeladen haben. Vielleicht sollte es aber eher darum gehen, den Intellektuellen als Mittler zu verstehen; als jemanden, der Erklärungen für bestimmte gesellschaftliche Phänomene anbietet. In einem Satz: Intellektuelle sollten nicht sagen, was sein soll, sondern warum etwas aus etwas anderem folgt.
Tobias Lentzler: Trotzdem lässt sich aus meiner Sicht eine Verbindung zwischen der als "positiv markierter Möglichkeit" definierten Norm und der Figur des Intellektuellen ziehen – gerade, wenn man sie mit dem von Lepenies entwickelten utopischen Denken verknüpft.
Christoph Möllers: Wenn man sich auf diese Verknüpfung einlässt, dann könnte man sagen, dass es in dem Buch darum geht, Pfadabhängigkeiten zu beschreiben, die auch verlassen werden können. Allerdings ohne den normativen Überschuss, den Intellektuelle häufig produzieren.
Tobias Lentzler: Die Welt ist also nicht nur alles, was der Fall ist, um Wittgenstein einmal abzuwandeln.
Christoph Möllers: Genau. Aber natürlich benötigen alle anderen möglichen Pfade ebenfalls einer Rechtfertigung. Das unterscheidet die Argumentation im Buch übrigens in meinen Augen vom utopischen Denken, dass ja eher als Fluchtpunkt gedacht wird.
Tobias Lentzler: Richten wir den Blick zum Schluss noch einmal auf die Zukunft – ganz ohne utopische Gedanken. Welche Themen treiben Sie aktuell in Ihrer Arbeit um?
Christoph Möllers: Ich glaube, meine Existenz rechtfertigt sich vor allem darüber, dass ich neben dem Exoterischen auch Fachliteratur schreibe. Es wäre unglücklich, wenn das nicht mehr funktionieren würde (lacht). Gerade sitze ich an einem rechtsphilosophischen Buch, in dem es darum geht, die Ambivalenz der Rechtsformen klarzumachen. Denn auf der einen Seite wünschen sich Menschen Verrechtlichung; auf der anderen Seite ist das zunächst ein leeres Instrument. Alle Ordnungen – auch autoritäre – haben Recht. Diese Ambivalenz theoretisch zu beschreiben, ist das Oberthema des nächsten Buches.
Tobias Lentzler: Herr Möllers, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.