"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Dieses Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (1918-2015) wird immer wieder dann gerne hervorgeholt, wenn die ausgetretenen Pfade der Realpolitik verlassen werden. Doch welche Antworten auf die multiplen Krisen, die wir derzeit erleben, kann die Realpolitik geben? Und welche Rolle könnten Visionen dabei spielen, diese zu überwinden? Ein Essay über Stabilität und Utopie.
"Was hat dich bloß so ruiniert?", fragen die "Sterne" in ihrem 1996 erschienenen, gleichnamigen Song auf dem Album "Posen". Manchmal möchte man ob der gegenwärtigen Ereignisse aus dem "dich" ein "uns" machen. Egal, ob es um den Klimawandel, den Krieg in der Ukraine, eine dräuende Wirtschaftskrise oder die Beschneidung elementarer Rechte der Selbstbestimmung von Frauen über ihren eigenen Körper geht (Supreme Court-Entscheidung gegen das "Roe vs. Wade"-Urteil, welches Frauen in den Vereinigten Staaten das grundsätzliche Recht auf eine Abtreibung gab). Es scheint allzu leicht, am gegenwärtigen Zustand der Welt zu verzweifeln. Klug ist es nicht.
Ohne Zweifel sehen wir uns derzeit mit einer neuen Phase der Instabilität konfrontiert. Der (noch nie selbstverständliche) Zuwachs eines immer mehr an Rechten für immer mehr Menschen ist ins Stocken geraten, die Zukunft liegt nicht mehr vor uns wie eine Verheißung - manche empfinden sie gar als bedrohlich. Ähnlich wie jemand, der sich unbemerkt von hinten anschleicht und uns plötzlich an der Schulter packt, erschrecken wir, fahren zusammen. Dabei blicken wir auf das Gewesene, das uns nun - denn wir bewegen uns ja doch Schritt für Schritt - je weiter wir uns davon entfernen, so vertraut vorkommt: Augenblick: Verweile doch! Du bist so schön!
Es ist wie in Georgi Gospodinovs Buch "Zeitzuflucht", in dem er von
einem Glauben in den Anden berichtet, der annimmt, die Zukunft läge
hinter-, das Vergangene vor uns. Er schreibt: "Sie [die Zukunft, TL]
kommt überraschend und unvohersehbar hinter deinem Rücken hervor, doch
die Vergangenheit hast du immer vor Augen, sie ist schon geschehen"
(Gospodinov, 2022, S. 316f.).
Es ist dieses Spannungsverhältnis von einer uns stabil erscheinenden Vergangenheit und einem brüchigen Zukunftsversprechen, das uns vor der Vielzahl gegenwärtiger Krisen so starr und matt erscheinen lässt. Stabilität und Utopia stehen in einem Missverhältnis. - Eine derzeit häufig gegebene Antwort in der Politik ist, dass es nun pragmatische, "realpolitische" Lösungen brauche. Es wäre falsch, dies einfach abzutun. Denn selbstverständlich bedarf es bei gegenwärtigen Bedrohungen wie einer steigenden Inflation, dem durch Russland vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Ukraine, der grassierenden Waffengewalt in den Vereinigten Staaten oder einer sich verschärfenden globalen Hungerkrise schneller und "zielgerichteter" Lösungen. Aber allein mit der Eindämmung dieser Krisen ist es nicht getan. Denn je mannigfaltiger diese werden und auf je mehr Lebensbereiche sie abstrahlen, desto unwahrscheinlicher wird es, allein mit dem "Instrumentenkasten" (ein häufig gehörtes Wort unserer Zeit) der Realpolitik erfolgreich zu sein. Wir brauchen den Mut, uns umzudrehen, uns der Zukunft zuzuwenden und sie mit Visionen bewohnbar zu machen.
Drei subjektive Voraussetzungen, die allein der Illustration dienen mögen, wie wir zu diesen Visionen kommen können, möchte ich exemplarisch skizzieren:
(1) Zusammendenken, was zusammengehört
Vor unser aller Augen breitet sich ein Panorama an Problemlagen aus. Diese könnten - alle für sich genommen - bearbeitet werden. Allerdings verkennt das einzelne Abarbeiten von Problemen (ausgelegt auf eine kurzfristige Lösung) seine Grenzen. Je mehr Probleme auftauchen, desto schwieriger wird es, sie auch für sich genommen zu lösen. Die Gründe hierfür liegen in ihrer jeweiligen Komplexität, dem monetären und personellen Aufwand (der sich vergrößert, je mehr Einzelprobleme vorliegen) und teils gegenläufigen gesetzlichen Regelungen, die zur Lösung der in Rede stehenden Themen getroffen werden. Konkurrierende Politikfelder und die manchmal unklare Zuständigkeit der jeweiligen politischen Ebenen (Kommune, Land, Bund) runden das Bild ab. Ein - allzu banal klingender - Lösungsansatz lässt sich unter dem Stichwort "Bündelung" zusammenfassen. Die Sammlung einer Reihe von ähnlich gelagerten Einzelproblemen und ihre gemeinsame Lösung setzt Kapazitäten und monetäre Mittel frei, um weitere Problembündel anzugehen. Zusammendenken, was zusammengehört heißt, mutig sein, Menschen mit unterschiedlichen Expertisen zusammenzubringen und diese gemeinsame Leitlinien für Problemkomplexe erarbeiten zu lassen. Dabei ist es lohnend, auch "fachfremde" Menschen in spezifische Themen einzubinden. Auch, wenn es zunächst seltsam anmutet: Es kann durchaus lohnend sein, einen Dichter und eine Finanzexpertin miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn die Kraft der Poesie liegt darin, mit Worten neue Türen zu öffnen.
(2) Sagen, was ist
Demokratien leben vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Für eine umfassende Meinungsbildung bedarf es verlässlicher und vertrauenswürdiger Informationen durch Medien und Politikerinnen und Politiker, die in verständlichen Worten erklären, wie und warum sie bestimmte Themen bearbeiten. Darüber hinaus braucht es auch Foren der Verständigung: Regelmäßige Bürgerversammlungen und Konsultationsprozesse mögen hier ein Ansatz sein, um den Austausch zwischen Politik und Gesellschaft zu fördern. - Engagement benötigt zudem Vorbilder. Daher ist es wichtig, nicht nur die komplexen Problemlagen zu beschreiben, mit denen wir uns konfrontiert sehen, sondern auch "Geschichten des Gelingens" zu erzählen. Exemplarisch hierfür dienen Reportagen wie die von Deborah und James Fallows, die für das US-Magazin "The Atlantic" kleine Städte in den USA (fernab der überregionalen Berichterstattung) besucht haben, um sich ein Bild davon zu machen, wie fernab einer paralysierten Politik auf Bundesebene, kleine Ortschaften zu gemeinsamen kommunalen Lösungen finden. Trotz all der Probleme, mit denen sich auch diese Dörfer und Städte konfrontiert sehen, beschreiben die Fallows, wie viele Menschen in ihren "Communities" dafür arbeiten, das Leben vor Ort besser zu machen. Auch für andere Länder wären solche Reisen und Berichte sicherlich lohnend. Die Artikelsammlung lässt sich hier abrufen: https://www.theatlantic.com/our-towns/
(3) Erforschen, was war
Es gab Zeiten, in denen sich die Vorstellung davon, was in Zukunft möglich wäre, geradezu überschlugen. Die Visionen in der Mitte des 20. Jahrhunderts beispielsweise reichten von Kolonien auf dem Mars (eine in unserer Zeit wieder recyclete Vorstellung) bis hin zu Atomantrieben für Autos. Ford hatte dafür schon 1958 ein Konzeptfahrzeug mit dem Namen "Nucleon" vorgestellt. Aber natürlich reicht das utopische Denken viele Jahrhunderte weiter zurück und lässt sich in den Konstruktionen eines Leonardo da Vinci oder der Vorstellung von Maschinen im Zeitalter der Aufklärung (Stichwort: "mechanische Ente" von Jacques de Vaucanson im Jahre 1738) erkennen.
Auch politische Utopien wurden in den vergangenen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden immer wieder entworfen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" zu lesen, in dem er - wenn auch mit deutlich marxistischem Blick - eine Entdeckungsreise durch politische Utopien der vergangenen Jahrhunderte (beispielsweise eines Solon oder Thomas Morus) unternimmt. Gleich in seiner Einleitung schreibt er treffend: "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen" (Bloch, 1973, S. 1).
Zu erforschen, was war, indem wir persönliche Streifzüge durch Literatur und Politik, durch Naturwissenschaften und Vergangenheit unternehmen, schult den eigenen Blick auf die Gegenwart. Wir erkennen Muster, wir entdecken neues. Und wir lernen zu hoffen, indem wir wagen zu träumen.
Abschluss
Diese drei sehr subjektiven Voraussetzungen, um zu neuen Visionen zu kommen, mögen nicht für jede oder jeden hilfreich sein. Sie mögen sogar Widerspruch anregen. Doch gerade das macht sie produktiv. Sie befreien uns aus der Bängnis, die uns alle beim Blick auf die Krisen dieser Welt befallen mag. Utopia heißt so viel wie "Nicht-Ort". Machen wir daraus einen "Noch-Nicht-Ort" und zeigen wir uns offen gegenüber Lösungsansätzen, die wir routinemäßig vielleicht als Tagträumerei abgetan hätten.