29 Mai 2019

"Für Intellektuelle sollte Wandel kein Grund zum Klagen sein". – Ijoma Mangold im Interview.

Ich treffe Ijoma Mangold, Kulturkorrespondent im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT, Anfang April 2019 in seinem Berliner Büro. Gerade arbeitet er an einem Interview mit Philipp Ruch vom "Zentrum für politische Schönheit", daher klingelt ab und zu das Telefon. Ijoma Mangold erledigt die Anrufe, tippt ein, zwei Änderungen in seinen Computer und nimmt anschließend unser Gespräch mühelos dort wieder auf, wo es durch das Klingeln unterbrochen wurde. - Wir sprechen über seine Lebensgeschichte, die er in seinem fabelhaften Buch "Das deutsche Krokodil" aufgeschrieben hat, die Rolle von Intellektuellen in bewegten Zeiten, die einmalige Kombination aus Lesen und Googeln sowie die Frage, ob es heute (noch) einen Bildungskanon braucht. Es ist das bisher ausführlichste Gespräch auf diesem Blog.  


Tobias Lentzler: Lieber Herr Mangold, Sie gelten als einer der bedeutenden deutschen Intellektuellen. Mich würde interessieren, wie Sie persönlich diese Rolle begreifen. Damit meine ich nicht nur die Rolle des Intellektuellen allgemein, sondern vor allem auch Ihre eigene. Haben Sie ein Problem mit dieser Zuschreibung?


Ijoma Mangold: Ich gehöre zu einer Generation, geboren 1971, die mit einem sehr überhöhten Begriff des Intellektuellen als moralische Instanz aufgewachsen ist. Gerade als junger Mensch hat man für hohle Begriffe ein sehr genaues Ohr – und der Begriff des Intellektuellen war in jener Zeit ein solcher. Es war also klar: So etwas will man lieber nie sein, ein Intellektueller. Nun fiel die Hochkonjunktur dieses Begriffes aber irgendwann komplett in sich zusammen. Vielleicht war das auch verknüpft mit einem Medienwandel. In den Neunzigerjahren hatte die Fernseh-Talkshow die Zeitung als politisches Leitmedium abgelöst. Plötzlich verschwand also die große Bühne für die Intellektuellen. Die meisten haben den Schritt ins Fernsehen nämlich nicht geschafft. Ein Walter Jens schrieb noch in der „ZEIT“, und selbst wenn er ein paar Mal im Fernsehen war, vielleicht in „Talk im Turm“ bei Erich Böhme, es kommt mir gerade so vor, so war das Personal der Talkshows insgesamt doch ein völlig anderes.
Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass der Begriff des Intellektuellen einen gewissen Wertverfall hingenommen hatte. Für mich wurde er somit wieder attraktiv. Man konnte ihn wieder verwenden, weil er mit seiner gesellschaftlichen Relevanz eben auch seine Prätention verloren hatte. Und da Sie gefragt haben: Ich persönlich finde es heute gar nicht schlecht, mich so zu nennen. Natürlich sollte das dann nicht verblasen klingen. In meiner Vorstellung ist es Aufgabe des Intellektuellen, gesellschaftliche Probleme auf eine möglichst überraschende Art sichtbar zu machen und sie zu analysieren. Damit ist allerdings keine moralische Privilegierung gemeint! Ich glaube nicht, dass Intellektuelle einen direkteren Zugang zur politischen Wahrheit haben. Ebenso scheint mir entscheidend, nicht zu allem etwas sagen zu müssen. Sonst besteht die Gefahr, nur in Plattitüden zu verharren. Umgekehrt darf es aber auch nicht nur Experten überlassen sein, die Welt zu erklären. 
Idealerweise langweilt sich der Intellektuelle – der auch immer ein bisschen ein Snob sein sollte – schnell, wenn er zu oft dasselbe sagt, und ist dadurch gezwungen, um nicht über seine eigenen Redundanzen einzuschlafen, in eine neue, eine überraschende Richtung zu denken. 


Tobias Lentzler: Gibt es für Sie derzeit solche Intellektuellen? Personen, die aufregende Gedanken aufbringen und in die Öffentlichkeit tragen? 


Ijoma Mangold: Auf jeden Fall! Viele von denen kommen aus der Akademie. Natürlich gibt es unendlich viele öde Professoren, aber ich denke – wenn ich das mal nestbeschmutzerisch sagen darf – dass es mehr Intellektuelle in der Wissenschaft gibt als im Journalismus. Jetzt studieren Sie in Witten/Herdecke: Selbstverständlich würde ich Dirk Baecker für ein Musterbeispiel eines aufregenden Denkers halten. Sein Denken schafft einen anderen Blick auf die Welt. Das liegt daran, dass seine Terminologie deutlich abstrakter ist, als wir es uns im Journalismus leisten könnten. Der politische Leitartikel ist wichtig, aber vielleicht klebt dessen Analyse manchmal noch zu nah an den Phänomenen. Als Student habe ich das bei Luhmann gelernt: Man muss die Abstraktionsgrade erhöhen, um zu überraschenden Einsichten zu kommen. Die Dinge werden dann überhaupt erst greifbar. – Ich könnte nun eine Menge Persönlichkeiten aufzählen, die mich interessieren und eine solche Fähigkeit zum aufregenden Denken besitzen: Staatsrechtler wie Christoph Möllers, zum Beispiel. Mit Begeisterung lese ich gerade Essays von Dan Diner, der die interessante These verfolgt, dass viele Phänomene, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, im Kalten Krieg eingefroren waren. In seinen Augen schließen wir jetzt quasi an die Zwanzigerjahre an. 


Tobias Lentzler: Kommen wir zu Ihrem Buch „Das deutsche Krokodil“. Es ist ja, so kann man wohl sagen, in eine politisch aufgeraute Zeit hineingeschrieben worden. Die liberale Gesellschaft scheint an vielen Stellen auf dem Rückzug, Rassismen treten wieder sehr offen zutage. Letzteres beschreiben Sie in Ihrem Buch, als Sie über die Reaktionen auf Ihren vernichtenden Verriss eines Machwerks von Akif Pirinçci berichten. Mir ist bei diesen Reaktionen offen gestanden schlecht geworden. – Wie betrachten Sie im Lichte unserer Gegenwart und dieser Reaktionen Ihre eigene Kindheit und Jugend? Denn ein Buch, wie Sie es mit dem „Deutschen Krokodil“ vorgelegt haben, entsteht ja möglicherweise auch unter dem Eindruck einer Veränderung. 


Ijoma Mangold: Auf Kuba nannte man die Neunzigerjahre Período especial, weil Castro in dieser Zeit eine leichte marktwirtschaftliche Öffnung zuließ. Im Rückblick mag mir mein Aufwachsen in der alten Bundesrepublik auch als eine período especial erscheinen. Der Schrecken über die Gräueltaten und Verbrechen der Nationalsozialisten, der gnadenlos betriebene Rassismus, der dort zu Politik wurde, steckte den Menschen so tief in den Knochen, dass dies zu einer gewissen Affekthemmung führte. Für einen kurzen Zeitraum wurde Rassismus historisch gebändigt. Meine Generation ist mit dieser vermeintlichen Gewissheit aufgewachsen und war überzeugt, dass es ja auch gar nicht anders sein könne. Gegenwärtig lernen wir: Oh doch – das kann es sehr wohl! Die Gewissheit war trügerisch.   Wir wuchsen mit der Vorstellung auf, dass die Geschichte eine klare Richtung eingeschlagen hatte. Eine Geschichte der Universalisierung, der Liberalisierung, der fortschreitenden Emanzipation, des Zurücktretens nationaler Grenzen und so weiter. Über Francis Fukuyama haben sich viele interessanterweise immer lustig gemacht, als er das „Ende der Geschichte“ verkündete. Dabei waren die meisten selbst genauso drauf. Denn was heißt es denn, überzeugt davon zu sein, die Geschichte kenne nunmehr bloß noch eine Richtung? Das ist nichts anderes als ein „Ende der Geschichte“.   Mich hat die Entwicklung der letzten fünf, sechs Jahre auch sehr kalt erwischt. Im Rückblick finde ich es natürlich absurd, dass man je davon überzeugt war, die Geschichte komme an ihr Ende. – Warum sollte plötzlich nichts mehr kommen? Nichts ist ewig. Reiche werden aufgebaut und fallen ein, Systeme stürzen oder werden überwunden. Und es ist nicht immer nur das Bessere des Guten Feind.     
Ich bin nicht so vermessen, mir anzumaßen, beurteilen zu können, ob die Dinge in fünfundzwanzig Jahren schlimmer sein werden als heute, nur weil sie anders sind, als wir sie uns vor zehn Jahren ausgemalt haben. – Ich versuche mir selbst Mut zuzusprechen und mir zu sagen: Erfreue Dich an dem ganzen Wandel. Wie langweilig wäre es, wenn alles absehbar wäre. Für Intellektuelle sollte Wandel kein Grund zum Klagen sein, sondern genau das, was man sich wünscht, weil sie dann beweisen können, was sie drauf haben. Unübersichtlichkeit macht es lohnend, noch einmal neu und offen auf alles zu schauen. 


Tobias Lentzler: Gerade der letzte Aspekt Ihrer Antwort führt mich zu einer Frage, die wahrscheinlich so alt ist wie die Menschheit selbst. Es ist die Frage, wie man das Staunen, welches Sie in der Freude am Wandel anklingen lassen, Heranwachsenden mitgibt. In meinen Augen ist das eng mit Bildung verknüpft. Denn nur, wenn man gebildet ist, stellen sich einem ja immer wieder von neuem Fragen. Ein solches Erlebnis beschreiben Sie in „Das deutsche Krokodil“ bei Ihrer ersten Lektüre von Joyce‘ „Ulysses“. Sie fühlen sich verloren in dem Werk wie in einem Hochgebirge – bis irgendwann eine Hütte zum Rasten kommt. Das sind die Passagen, die Ihnen zugänglich sind. Wie würden Sie jungen Menschen Bildung vermitteln oder besser: Begeisterung für das Gebildet-Sein? 


Ijoma Mangold: Was heißt Bildung? Es heißt den Ausschnitt dessen, was ich von der Welt wahrnehme, zu erweitern. Das tun wir durch das Lesen, aber auch dadurch, dass wir anderen Menschen sehr nahekommen. Seit dem 18. Jahrhundert ist der klassische Weg der Welterschließung natürlich das Reisen. Entscheidend scheint mir, Distanz hineinzubringen. Wir dürfen nie identisch mit uns selber sein und nie mit der Welt, die uns umgibt. Erst wenn wir Distanz zu der Gesellschaft einnehmen, in welcher wir leben, können wir sie betrachten wie ein Ethnologe, der einen eingeborenen Stamm im Amazonas beobachtet. So stellen wir fest, worin sie komisch, lächerlich oder auch liebenswert erscheinen mag.           
Zu erklären, was an Bildung so aufregend ist, erübrigt sich für denjenigen, der sich je in ein Buch vertieft hat. Ich kann nicht erklären, warum eine Rose schön ist. Sie ist schön. Das ist sie nicht um eines anderen Zweckes willen. Sie ist es für sich. Wenn man an der Welt und ihren Gegenständen interessiert ist, wird man immer wieder von neuem neugierig sein.


Tobias Lentzler: Der Distanzgedanke erscheint mir dahingehend sehr interessant, als er ein weites Feld öffnet, welches ich aufmachen wollte. Ich meine das der Digitalisierung. Die Möglichkeit an Wissen zu kommen war noch nie so unmittelbar. Wie – falls überhaupt – verändert das unsere Art, zu denken oder Dinge zu verstehen? 


Ijoma Mangold:  Für mich ist die Kombination aus Lesen und googeln einmalig! Man liegt daheim in seinem Bett und kann alles nachschauen, was in einem Buch als Referenz angegeben wird oder was man für eine solche hält. Gerade für Bücher, die historische Ereignisse verarbeiten, ist es toll, sich einfach noch einmal in den Kontext des jeweiligen Werkes einzulesen. Das ist wie „Stereolesen“. Ich finde das sehr fruchtbar. 


Tobias Lentzler: Ich habe das Gefühl, dass diese Art zu lesen und zu denken eine neue Form des Intellektuellen begründen könnte. Natürlich springt man – Stichwort „Hyperlink-Kultur“ – sehr häufig hin und her; jedoch ist das auch produktiv, wenn man diese Gedanken einem reichen Nährboden zuführen kann. 


Ijoma Mangold: Die Hyperlink-Kultur ist eigentlich schon immer ein Sehnsuchtsort der Literatur gewesen. Es gab schon immer eine Poetologie der Abschweifung, die genau das wollte. Denken Sie an Lawrence Sternes „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“. Die Abschweifung, der Exkurs, das vom Steinchen aufs Stöckchen Kommen, ist eigentlich eine alte Vorstellung. Es gibt die enzyklopädische, nach Wissensgebieten sortierte Welt und dann gibt es das, was Sie eben als „Hyperlink-Kultur“ bezeichnet haben. In dieser Struktur wird das Unverwandte, das Nicht-Ähnliche miteinander verknüpft. Für die Literatur war das schon immer ein spannendes Erzählprinzip. Dass diese Poetologie der Abschweifung jetzt so leicht umzusetzen ist, ist an sich schon aufregend. 

Nach dem Tod meiner Mutter habe ich aus Anhänglichkeit manche ihrer Bücher in meine Bibliothek übernommen. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch dort schon der Wunsch nach Verlinkung bestand. Diese herzustellen wurde mit einem – aus heutiger Sicht sehr anrührenden – Sammeln von herausgeschnittenen Zeitungsartikeln versucht, die in ein thematisch verwandtes Buch reingelegt wurden. 


Tobias Lentzler: Noch einmal zurück zu unserer politisch aufgewühlten Gegenwart. In meinen Augen scheint diese durch ein hohes Erregungspotenzial charakterisierbar zu sein. Politik und Kultur waren ja schon immer miteinander verquickt. In ihrem Buch beschreiben Sie, wie kritisch Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ in Essaysammlungen auseinandergenommen wurde oder wie schwierig die Rolle Richard Wagners wenige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer war. Mir scheint sich gegenwärtig – auch im Lichte sich wandelnder Normen – einmal mehr die Kunst/Künstler-Frage zu stellen. Es gab Debatten um Eugen Gomringers „avenidas“ an der Alice-Salomon-Hochschule, die Frage, ob man Balthus noch ausstellen dürfe. Wo liegen für Sie die Grenzen einer solchen Debatte?


Ijoma Mangold: Wir reden neuerdings nur noch über die Sensibilität, die von einem Menschen gegenüber einem anderen verlangt wird. Das Schlimmste, was man jemand anderem unterstellen kann, ist somit, dass er keine Empathie habe. Allein schon diese Aussage spricht nach meiner Auffassung von einer maßlosen Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung des eigenen moralischen Standpunktes. Mir schlackern da die Ohren. – Wir leben in einer sehr gouvernantenhaften Zeit. Ich komme mir vor wie im tiefsten viktorianischen 19. Jahrhundert, als die Kirche über die einwandfreie Lebensführung eines jeden Einzelnen wachte. Viele Teile der Gesellschaft scheinen das heute wieder aufgreifen zu wollen. Alle sollen so leben, wie es moralisch einwandfrei ist. Dafür gibt es klare Instanzen, die darüber wachen und abwägen, wo man sich sensibel/unsensibel verhalten hat. Das alles finde ich grauenvoll. 


Tobias Lentzler: Wie gehen Sie denn damit um? 


Ijoma Mangold: Ich finde all diese Fragen – soll bzw. muss man gendern, darf man bestimmte Kunstwerke noch ausstellen und dergleichen mehr – überhaupt nicht degoutant. Im Gegenteil. Sie sind wichtig und auch bereichernd, denn sie bringen ja einen Diskurs voran. Aber ich kann nicht ganz daran glauben, dass die Geschichte in Richtung einer eschatologischen Erlösung unterwegs ist. Ich halte sie für ein dynamisches Chaos. Somit ist für mich das Gendersternchen auch keine letztgültige Erlösung. Aber darüber zu diskutieren kann sehr fruchtbar sein.            
Ich selber finde es absurd, wenn die Sprache die Rolle einer Gesamtrepräsentanz identitätspolitischer Kollektive dieser Gesellschaft erfüllen soll. Das läuft meiner Vorstellung des anarchischen Potenzials von Sprache zuwider. Allerdings gehört es selbstverständlich zur Wahrheit, dass viele Minderheitengruppen über Jahrhunderte hin extrem schlecht abgeschnitten haben. Auch in der Gegenwart ist das in vielen institutionellen Formen noch zu greifen. Das darf infrage gestellt und angegriffen werden – keine Frage! Ich bedaure jedoch, dass es derzeit kein offenes, wildes Nachdenken über diese Fragen gibt, sondern eine ziemlich rigide Moral, die am Ende immer auf identitätspolitische Kollektive abzielt.     Das Individuum in seiner universellen Freiheit und unsere Rolle als Bürger drohen unterzugehen, weil wir nur noch als Repräsentanten identitätspolitischer Fraktionen, die immer kleinteiliger werden, über uns sprechen und über alles das Opfernarrativ legen.  

Tobias Lentzler: Sehen Sie in dieser Hinsicht auch eine gewisse Verzagtheit in Bezug auf den journalistischen Berufsstand? Der vor allem aus rechtspopulistischer Ecke formulierte Vorwurf, es gäbe ein „linkes Meinungsdiktat“ ist ja sehr präsent in gegenwärtigen Debatten. Hier wird ja – wenn auch in sehr plumper Weise – auf diesen eben von Ihnen beschriebenen, moralisierenden Ton abgehoben. Ich habe große Probleme mit dieser Zuschreibung von rechter Seite, aber mich interessiert, wie Sie und Ihre Kollegen mit diesen Anwürfen umgehen. 


Ijoma Mangold: Ein linksliberales Diktat gibt es ganz sicher nicht. Was es selbstverständlich gibt, sind Selbstdynamiken. Das ist unvermeidlich. Die gibt es im Übrigen aber mittlerweile auch ganz stark von rechts. Auf rechten Blogs oder Plattformen herrscht in gewisser Weise Gleichschaltung. In diesem Fall erlaube ich mir dieses Wort einmal. In sehr kurzer Zeit haben die Rechten ihr eigenes Vokabular aufgebaut und wiederholen es – wie der Kuckuck in der Kuckucksuhr seinen Schrei zu jeder vollen Stunde. Da herrscht ein sehr stark formatierter Meinungskorridor. Ich glaube, die Rechten halten sich manchmal noch für Anarchisten, sind aber längst rechte Konformisten geworden. Die Rechten machen ja alles den Linken nach, jetzt auch noch deren Konformismus.      
Prozesse der Herdenbildung an sich sind unvermeidlich. Die gibt es im Journalismus deshalb so stark, weil es dort besonders auffällig ist. Als Ingenieur fiele es Ihnen möglicherweise nicht ganz so sehr auf, dass sie ganz genauso denken wie ihr Milieu, weil Sie sich nicht so oft äußern. Journalisten sind in der unglücklichen Rolle, jeden Tag die Welt erklären zu müssen. Im Rückblick fällt also deutlicher auf, wie herdenmäßig sie das manchmal tun.          
Zeitungen sind deshalb gut beraten auch innerhalb ihrer Redaktionen kontrapunktisch zu sein. Natürlich verlangt das manchmal Mut und Rückgrat und Durchhaltevermögen. – Ich habe das Gefühl, dass vor 15 Jahren in der Mitte so viel möglich war; dieser Platz schrumpft. Deshalb ist an den Rändern, den Extremen so viel los. Das führt zu der merkwürdigen Situation, dass man – wenn man alles sagt – heute sehr leicht ganz links oder ganz rechts eingeordnet wird. Vor 15 Jahren war man damit vielleicht noch in der Mitte. 


Tobias Lentzler: Vor kurzem hat Ihr Chefredakteur, Giovanni di Lorenzo, in einem Gespräch mit Klaus von Dohnanyi bei Markus Lanz genau diesen Aspekt aufgegriffen. Er sagte, die Mitte sei eigentlich viel zu leise, die Ränder zu laut. In diesem Zusammenhang vielleicht noch einmal eine Frage, die Aspekte der Bildung und der Kultur aufgreift. Gibt es Ihrer Meinung nach Kulturgüter – Romane, Musik –, die eine einigende Wirkung haben könnten? 


Ijoma Mangold: Ich bin zu sehr von Luhmann geprägt, als dass ich von der Einheit her denken würde. Ich möchte die Gesellschaft nicht als Gemeinschaft haben. Gesellschaften sollten meines Erachtens nach nicht in einem gefühlsmäßigen Sinne zu stark zusammengehalten werden. Ich finde Traditionen herrlich, aber ich möchte andere nicht darauf einschwören, sich zu diesen Traditionen zu bekennen. Wir sind ein Staatswesen von Bürgern. Selbstverständlich gibt es da eine Leitkultur im Sinne der Verfassung und in gewisser Weise bestimmt auch im Sinne unserer sprachlichen und kulturellen Herkunft, aber alles, was darüber hinaus geht, wäre mir an Wärme der Gemeinschaft zu viel. Helmuth Plessner spricht von den „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Distanzkultur ist für das Überleben des Individuums immer sehr wichtig, finde ich.        
Ich käme jedenfalls nicht auf die Idee, den Menschen einen Roman aufzudrängen, den alle lesen sollen, weil sie Teil desselben Überlieferungszusammenhanges sind. Schon Goethe konnte man nicht ernsthaft als einigendes Element der Nation verstehen. Mit ihm ließ sich kein nationaler Staat machen. Dafür war er viel zu anti-nationalistisch, viel zu Napoleon-freundlich, zu kosmopolitisch in seinen Interessen. Gleichzeitig war er in seinen politischen Tätigkeiten der Kleinstaaterei verpflichtet.   
Trotzdem ist es natürlich schön, wenn andere ähnliche Bücher lesen wie man selber, damit man sich auf sie beziehen kann, um zu streiten. In dem Sinne würde ich die Idee eines Bildungskanons immer verteidigen. Es führt einfach zu mehr gesellschaftlichem Gespräch, wenn jeder ähnliche Bücher liest, als wenn jeder etwas anderes auf dem Nachttisch liegen hat. 


Tobias Lentzler: Das verstehe ich als defensive Verteidigung des Kanons. Zu Beginn unseres Gespräches hatte ich fast den Eindruck Sie sprächen sich vielleicht sogar dagegen aus. 


Ijoma Mangold: In Wahrheit glaube ich deutlich fester an einen Kanon, als ich das bisher zum Ausdruck gebracht habe. Ich glaube an Meisterwerke. Das tut man heute eigentlich nicht mehr, aber in meinen Augen gibt es eine ästhetische Meisterschaft. Das geht ein bisschen in die Richtung von Harold Blooms „Western Canon“. 


Tobias Lentzler: Sie haben bei Barbara Bleisch im Schweizer Fernsehen und auf anrührende Weise in Ihrem Buch vom Tode Ihrer Mutter erzählt. Im Zentrum dieser Geschichte steht die Rezitation der Gedichte von Storm und Fontane. Fontane kommt mit seinem „Herrn von Ribbeck“ auch noch an anderer Stelle vor. Mir kam er vor wie einer Ihrer Hausheiligen, wenn ich das so sagen darf. Welche Autoren wünschten Sie sich auf eine einsame Insel? 


Ijoma Mangold: Zunächst zu Fontane. Ich habe anlässlich seines 200. Geburtstages noch einmal über ihn nachgedacht und festgestellt, dass er für mich eine überraschend große Rolle spielt; auch wenn er weltliterarisch kein absoluter Achttausender ist. Auf die einsame Insel würde ich daher selbstverständlich eher Tolstois „Krieg und Frieden“ mitnehmen als Fontanes „Schach von Wuthenow“.
Trotzdem hat Fontane für mich eine besondere Rolle gespielt, weil er in meiner Jugend eine Welt aufrief, die zum einen bereits lange untergegangen war, zum anderen aber auch nicht zugänglich war. Sie lag hinter dem „Eisernen Vorhang“. Als die Mauer fiel, war da für mich und auch meine Mutter plötzlich wieder die Möglichkeit, in Fontane-Landschaften zu reisen. Wanderungen durch den märkischen Sand erschlossen uns einen lange im Dornröschen Schlaf liegenden historischen Hallraum. Ich habe eine starke Pietät an alles, was untergegangen ist. Das ist nicht nur ein sentimentaler, konservativer Impuls, es ist auch ein damit verbundenes historisches Interesse. Die Welt des märkischen Adels, die gibt es nicht mehr. Und natürlich weine ich ihr nicht nach. Aber in Verbindung bleiben möchte ich doch mit ihr, denn ich glaube, dass all das, was es plötzlich nicht mehr gibt,  immer noch nachwirkt. Wir sollten uns nicht täuschen: Vermutlich sind wir stärker davon geprägt, als wir es uns vorstellen können. Fontane war als 1848er Revolutionär und zugleich als „Dichter der Mark“ selbst immer hin- und hergerissen zwischen Revolution und Reaktion. Diese Zerrissenheit, diese Ambivalenz interessiert mich.
Auf die einsame Insel hingegen würde ich schon aus ökonomischen Gründen andere Meisterwerke mitnehmen. An erster Stelle natürlich Prousts umfängliche „Recherche“. Kafkas „Parabel vor dem Gesetz“ ist natürlich brillant. Aber wenn Sie den Rest Ihres Lebens auf einer einsamen Insel verbringen müssen, ist diese halbe Seite vielleicht doch nicht genug. Es sei denn, Sie entwickelten auf der Insel eine neue talmudische Tradition und legten Kafkas Parabel immer wieder neu aus. Aus Freude an der Sprache würde ich auch Nabokov mit auf die Insel nehmen. Keiner vermag so wunderbar mit der Sprache zu spielen. Aufgrund meiner Anhänglichkeit an die antike Welt würde ich auch Vergils „Aeneis“ einpacken. Das Zusammenspiel aus Staatsgründung und Literatur ist hochinteressant und poetisch produktiv. 


Tobias Lentzler: Lieber Herr Mangold, vielen Dank für das Gespräch.