Philosophieren
heißt das Offensichtliche in Frage stellen, das Unausgesprochene in
Worte fassen, das Denken entdecken. Was passiert also, wenn wir uns
fragend der "Digitalisierung" nähern, die sich in immenser
Geschwindigkeit vollzieht und (beinahe) alle Lebensbereiche beeinflusst?
Welchen Einfluss hat sie darauf, was wir unter Menschsein verstehen?
Dieser Text versucht eine Annäherung in Form einer Abschweifung.
Der
Begründer der "Neuen Phänomenologie", Hermann Schmitz (1928-2021), hat
Philosophie einmal als ein "Sichbesinnen des Menschen auf sein
Sichfinden in seiner Umgebung" definiert. Philosophie ist danach
eine Methode, eine Antwort darauf zu geben, was der Mensch sei. Schmitz
hat sich dieser Frage im Anschluss an Edmund Husserl über die "Sachen
selbst" als Phänomene genähert. Abschließende Antworten auf die Frage,
was der Mensch sei, gibt es nicht. Die Frage stellt sich immer wieder
neu. Und vielleicht drängt sie gerade in einer Zeit, die so reich ist an
Umwälzungen und Umwertungen, mit neuer Macht in unser Bewusstsein. Viel
ist darüber geschrieben worden, wie allumfassend die Digitalisierung
unser aller Leben verändere, welche Verheißungen, welche Gefahren damit
verbunden seien. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob die
Digitalisierung unseren Blick darauf, was der Mensch sei, wandelt.
(1) Digitalisierung ist Verlagerung.
Nach und nach wandern Tätigkeiten, Gegenstände oder Emotionen, gar
Menschen aus dem analogen in den digitalen Raum ab. Raum meint hier
schlicht den "Ort, an dem das Digitale sich abspielt". Raum heißt: die
Möglichkeit haben, Dinge in Beziehung zueinander zu setzen. Wenn der
physisch vorhandene Raum sich auf ein Rechenzentrum verengt, kommt unser
Wahrnehmung von Raum eine andere Bedeutung zu. Es stellen sich
Fragen wie: Was verbindet uns im digitalen Raum? Wie nehmen wir das
Internet als "Ort" wahr? Welche Bedeutung hat unser physischer Standort
für unsere Wahrnehmung des Internets als Ort?
(2) Digitalisierung bedeutet Entkörperlichung und Ent-grenzung.
Was vorher einen festen, einen physischen Ort hatte, ist nun dem
Anschein nach ortlos. Oder schwächer formuliert: örtlich verlagert. Ein
Livekonzert in New York City lässt sich - bei stabiler
Internetverbindung - ohne Schwierigkeiten und mit kaum vernehmbarer
zeitlicher Verzögerung irgendwo in der norddeutschen Tiefebene empfangen
(Entkörperlichung). Erforderte die Teilnahme an einem Konzert in "Big
Apple" für einen Menschen aus Norddeutschland früher einen
Interkontinentalflug, den Übertritt einer Landesgrenze, ein Visum, eine
Anpassung an die Zeitverschiebung, lässt sich diese Erfahrung nun anders
machen (Ent-grenzung). Doch fragt sich z.B. wie diese Möglichkeit unser
Erleben eines solchen Ereignisses verändert und welche neuen Grenzen
diese Ent-grenzung setzt.
(3) Digitalisierung heißt Vereinzelung. Ein virtuell empfangener Kuss als "Emoji" ist nicht auf den Lippen oder der Haut spürbar. Auch die Wärme, die das Gesicht des Gegenübers abstrahlt, der Duft eines Parfums, das Flirren und Beben, lassen sich virtuell nicht übertragen. Der virtuelle Kuss bleibt in seiner Bedeutung gleich. Er ist Ausdruck von Zuneigung; und diese ist im Inneren des den Kuss Empfangenden wahrnehmbar. Er oder sie ist jedoch auf sich selbst zurückgeworfen. Zuneigung findet somit in Abwesenheit der Person statt, der die Zuneigung gilt bzw. die diese zeigt. Welche Bedeutung hat ein Gefühl, dass erst über einen Intermediär (in diesem Fall das Emoji) vermittelt werden muss, statt aktiv erlebt zu werden?
(4)
Digitalisierung ist die Simulation von Realität, die zugleich Realität
formt. Eine im Netz ausgesprochene Drohung von einiger Schwere kann
strafrechtliche Konsequenzen haben. Nicht nur droht die Verbannung von
einer bestimmten Plattform, sondern auch eine in der analogen Welt
eingeleitete Ermittlung, an deren Ende ein Verfahren und eine
Verurteilung stehen können. Wie, also, wirkt der digitale Raum zurück in
die physische, in die analoge Welt? Und umgekehrt: Welche Konsequenzen
haben Handlungen im Analogen im digitalen Raum?
Schon
diese vier Miniaturen und die Fragen, die sie abschließen, zeigen, dass
die Digitalisierung keinesfalls bloß ein technischer Prozess ist. Sie
macht auch nicht schlagartig das Leben aller Menschen "einfacher", wie
gerne verkündet wird. Obgleich wir alle uns zunächst freiwillig dazu
entschieden haben "ins Netz zu gehen", ist die Wahrnehmung desjenigen,
der sich dort tummelt doch, dass aus einem einst grobmaschig geknüpften
Gebilde nun ein feinporiges geworden ist, das nur noch weniges
"durchlässt". Das heißt zum einen, dass es enorme Kraft kostet, sich aus
diesem Netz zu befreien, zum anderen, dass es kaum etwas gibt, dass
nicht schon davon "eingeholt" worden wäre.
Für Immanuel Kant ließ sich das Feld der Philosophie auf vier Fragen bringen, auf welche diese Antworten geben könne. Sie lauten: "Was kann ich wissen?"; "Was soll ich tun?"; "Was darf ich hoffen?" und (wen wundert es): "Was ist der Mensch?" Kant selbst stellte einen unmittelbaren Bezug zwischen den ersten drei Fragen zur letzten her und es erscheint sinnvoll, sie vor dem Hintergrund des digitalen Wandels wieder einmal neu zu stellen. Meine Abschweifungen sind nicht mehr als eine Probebohrung. Sie können im Idealfall Hinweise für mögliche Forschungsfragen geben oder Anstoß für andere sein, sich mit der Frage zu beschäftigen.
Es
ist jedenfalls eine der erschütterndsten und zugleich beglückendsten
Erfahrungen desjenigen, der Philosophie treibt, dass
Begriffe, die man zumeist nur achtlos oder wenigstens gedankenlos im
Munde führt, zu flirren beginnen, unscharf oder uneindeutig werden, wenn
man sie befragt. Im Falle der Digitalisierung scheint mir die zentrale
Erkenntnis, dass - solange wir unsere physische Existenz nicht aufgeben
(können) - eine Wechselbeziehung zwischen dem Analogen und dem Digitalen
besteht. Der Mensch macht das Digitale, doch das Digitale macht auch
ihn. Die Frage, was der Mensch sei, muss heute zwangsläufig auch
über eine Annäherung an das Digitale stattfinden.