Es ist ein kühler Tag Ende Januar als Wolfgang Schivelbusch und ich uns in seiner Berliner Wohnung im Westend treffen. Über mehrere Stunden werden wir sprechen und dabei nicht nur sein Leben als Lesender und Forschender, sondern auch die Zeitläufte streifen. Von der griechischen Mythologie, über die amerikanische Flagge bis hin zu Schivelbuschs Refugium in Brandenburg und den Begriff der Nostalgie als analytische Kategorie – nichts bleibt unberührt. Schivelbusch nennt diese Form des Gesprächs treffend „Spekulieren“.
Glaubt man dem „Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung“ (ZfL), an dem Wolfgang Schivelbusch seit 2014 als Senior Fellow tätig ist, zählt dieser seit den 1970er-Jahren zu einem der „international meistgelesenen deutschen Historiker“. Schon vor unserem Treffen in Berlin frage ich mich, ob Historiker wohl die treffende Bezeichnung für ihn ist. Sicher, Schivelbusch hat mit seiner bis heute als Standardwerk geltenden „Geschichte der Eisenbahnreise“ (1977) oder seiner Geschichte der Genussmittel „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ (1980) Material- und Kulturgeschichte getrieben. Doch viel eher charakterisiert ihn aus meiner Sicht der etwas altmodische und zugleich so treffende Begriff eines Privatgelehrten. Schivelbusch selbst verwendet diesen Begriff für sich auch – allerdings immer in Anführungszeichen.
Fern vom akademischen Betrieb hat er sich einem Leser- und Forscherleben hingegeben, welches er in dem exzellenten Gesprächsband „Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin“ (2021) noch einmal Revue passieren lässt. Das Ideal an zwei Orten heimisch zu sein, in der alten und der neuen Welt, die Welt also immer aus der Perspektive eines Menschen zu sehen, der im Aufbruch begriffen ist oder, um in einem Reisebild zu bleiben, auf gepackten Koffern sitzt, hat Schivelbusch zu einem sehr originellen Beobachter gemacht.
In unserem Gespräch scheint diese Beobachtungsgabe zusammen mit seiner Lust am Unkonventionellen immer wieder durch. So schildert er, wie ihm die amerikanische Flagge über viele Jahre als ein Symbol weltweiter Geltung erschienen sei. Für ihn ließen sich auf die „stars and stripes“ alle positiven Bilder, die man von den USA haben konnte, projizieren. Er nennt sie eine „menschenfreundliche Fahne“. Eines Tages – in Livorno oder irgendeinem anderen italienischen Hafen – sieht Schivelbusch eine Yacht unter amerikanischer Beflaggung. Er sagt: „Ich weiß, es gab keinen Anlass. Aber plötzlich hatte ich ein Gefühl, von dem ich denken würde, dass so ein Christdemokrat in den Zeiten des Kalten Krieges die Flagge der Sowjetunion oder der DDR betrachtet hätte. Nämlich als das absolut Fremde, gar Feindliche. Ohne, dass ich sagen könnte, wie diese Wende in mir herangereift ist, hat sich mir dieses Bild stark eingebrannt“. Schivelbusch ist ein Meister starker Bilder und Worte. Vielleicht ist es seine geistige Unabhängigkeit, die manch einem unbequem sein mag, die ihn bis heute als einen (ehemals) klassischen Linken ausweist. Zugleich ist diese Schilderung Ausdruck eines Denkens, dass als mehrdimensional beschrieben werden könnte. Schivelbusch blickt nicht nur auf einen Gegenstand – er hebt ihn auch an oder schaut dahinter. Der Titel seines jüngsten Buches „Die andere Seite“, ist hier also durchaus programmatisch zu verstehen.
Ebenso wichtig für das Verständnis seines Gesamtwerkes ist jedoch der Zufall – noch treffender wäre der englische Begriff der serendipity, des glücklichen Zufalls oder des Findens von etwas, dass man nicht gesucht hat. In unserem Gespräch und seinem jüngsten Buch beschreibt Schivelbusch, wie seine Arbeit im Archiv – das „Hineinschaufeln“ an Unmengen von Material – zunächst nicht zielgerichtet gewesen sei. Eher habe sich aus dem Gelesenen ein Bild gefügt oder eine Frage ergeben, der er dann näher nachgegangen sei. Ein Grund für dieses Vorgehen mag gewesen sein, dass Schivelbusch sich nie als großen Theoretiker verstanden hat. In der Rückschau lässt sich jedoch zumindest eine „Methode“ (und ich verwende hier bewusst Anführungszeichen, da dies reine Spekulation meinerseits ist) erkennen. Man könnte sie Schivelbuschs persönliches e pluribus unum nennen. Aus vielem – oder besser – einer Fülle an Material, leitet er eine Fragestellung ab, die er dann durch die Jahrhunderte verfolgt. Seine Liebe zu kleinen Details, die das „große Ganze“ zu charakterisieren im Stande sind und seine Sprache, die aus der Gegenüberstellung von Gegensätzlichkeiten Verbindungen herzustellen vermag, sprechen dafür.
Für mich hat Wolfgang Schivelbusch eine Sprache gefunden, die es ermöglicht, hinter den Dingen eine weitere Sinnebene wahrzunehmen. Diese geht quasi natürlich von Gegenständen aus – sie ist sogar körperlich spürbar. Doch muss erst jemand kommen, der diese Geschichten zu erzählen vermag. Wolfgang Schivelbusch tut dies seit vielen Jahrzehnten und es ist uns zu wünschen, dass er dies weiterhin tun möge. Denn Schivelbusch lesen heißt Staunen lernen.