Immer wieder lässt sich lesen, dass unsere Gesellschaft sich zunehmend spalte oder schon gespalten sei und es nur noch darum gehen könne die Tiefe der Gräben zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen (und innerhalb derselben) zu ermitteln und die entstandenen Klüfte wieder zuzuschütten. Wo fängt man da bloß an? - Ein Debattenbeitrag.
Dass uns dies nicht besonders gut gelingt, sich - im Gegenteil - die Anzahl an blindwütig geführten Twitter-Debatten, hämisch bis strafrechtlich relevanten Kommentaren unter Youtube-Videos, Facebook-Posts oder in Zeitungsforen zu erhöhen scheint, es also regelmäßig zu "Filter-Clashs" (Bernhard Pörksen) zwischen sich diametral gegenüberstehenden Ansichten kommt, macht darauf aufmerksam, dass die Form der Auseinandersetzung ungenügend ist. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei in meinen Augen das heute häufig bevorzugte (oder zumindest das meist rezipierte) Medium der Auseinandersetzung: Das, was wir "Social Media" nennen.
Demokratie lebt von ihrer physischen Komponente. Für Hannah Arendt ist gerade das (politische) Handeln eng mit dem öffentlichen Raum verknüpft. Demokratie lebt von Begegnung und Konfrontation, dem Austausch von Argumenten, dem Gespräch zwischen Menschen in einer Bürgerversammlung, der Gemeinderatssitzung, beim Museumsbesuch oder am Rande der Theatervorstellung. Der Umgang mit Vielfalt und Komplexität, auch der Gemeinsinn lassen sich am besten vor Ort einüben.
Diese physische Komponente fehlt den digitalen Medien und macht sie damit untauglich, gesellschaftliche Spannungen zu überwinden. Natürlich können sie ein wichtiger Seismograph dafür sein, welche Themen Menschen "in dieser Sekunde" bewegen und welche Themen Menschen auseinandertreiben. Zugleich sind sie aber auch trügerisch, da Menschen hier nicht vor allem aus innerem Antrieb chatten oder posten, sondern auch aufgrund der aufmerksamkeitsökonomischen Logiken der jeweiligen Netzwerke. Es geht den Netzwerkbetreibern nicht so sehr darum, was unter einen Beitrag kommentiert wird, es geht darum das etwas gepostet wird. In dem Strom aus missliebigen Kommentaren, interessanten Artikeln und unterstützenswerten Petitionen nicht unterzugehen, verlangt Menschen andere Kompetenzen ab, als wenn es darum geht, sich aktiv in eine politische Debatte einzubringen.
Demokratie wird dort lebendig, d.h. physisch erlebbar, wo ein Mensch das "Wagnis der Öffentlichkeit" (Karl Jaspers) sucht. Dies geschieht nur dann, wenn es der Bürgerin geboten erscheint. Die Konfrontation oder Debatte sucht, wer aus innerer Überzeugung handelt. Einem inneren Impuls folgt sodann ein externes Feedback.
Digital finden all diese Prozesse laufend und jeweils ausschließlich im Inneren eines einzelnen Menschen statt. Der Wunsch sich zu äußern, der Gedanke wie etwas zu formulieren sei, die Gedanken zu den Reaktionen Einzelner auf den jeweiligen Beitrag. Das sorgt nicht unbedingt dafür, dass ein Mensch die Position eines Anderen besser nachvollziehen kann, da er kein unmittelbares Feedback eines Gegenübers erhält. Natürlich entstehen extern zum Beispiel optische Reize - aber alle anderen Sinne - der Gehörsinn oder der Geruchssinn beispielsweise - werden nicht im gleichen Maße stimuliert wie wenn eine Person ihre Äußerungen in einem zu kleinen und überhitzten Gemeindesaal an einem kalten Winterabend in der Uckermark tätigt. Es öffnet sich der Person ein anderer Erfahrungsraum, der Verständnis für einem entgegenstehende Positionen ermöglicht.
Darüber hinaus sind "soziale Netzwerke" geschlossene Systeme. Sie sind in einer gewissen Weise exklusiv, da sie zum Beispiel erfordern, dass Menschen sich in ihnen anmelden und damit den AGBs oder Regeln der Netzwerkbetreiber zustimmen oder sie eine eigene Form der Sprache (Codes) erlernen müssen, um sich zu verständigen (z.B. TL;DR - "too long, didn't read" auf Plattformen wie Twitter).
Natürlich hat auch der öffentliche Raum damit zu kämpfen, dass er nicht überall barrierefrei oder inklusiv ist und somit die gesellschaftliche Teilhabe für Mitglieder unserer Gesellschaft erschwert - im Gegensatz zu digitalen Plattformen jedoch, können wir die Spielregeln einer Gesellschaft unmittelbar mitgestalten. So können wir auch hier gesellschaftliche Spaltung überwinden, indem wir uns auf die "kleinste gemeinsame Wirklichkeit" (Mai Thi Nguyen-Kim) verständigen.
Demokratie braucht Nähe und physische Präsenz. Bei all den Debattenanstößen und heiteren Kleinigkeiten, die die "sozialen Medien" uns geschenkt haben, können sie das nicht ersetzen. Wollen wir gesellschaftliche Spaltung überwinden, müssen wir als Bürgerinnen und Bürger von unserem Recht Gebrauch machen, uns in politische Debatten über Grundüberzeugungen, Werte, Normen oder auch "nur" die Frage, ob in der Kommune ein neues Schwimmbad entstehen sollte, einzubringen - und zwar vor Ort.
Hinweis: Die oben stehenden Überlegungen setzen natürlich voraus, dass wir die Corona-Pandemie überwunden haben.