21 Mai 2021

Essay: Gesellschaftliche Spaltung. – Warum Demokratie Nähe braucht.

Immer wieder lässt sich lesen, dass unsere Gesellschaft sich zunehmend spalte oder schon gespalten sei und es nur noch darum gehen könne die Tiefe der Gräben zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen (und innerhalb derselben) zu ermitteln und die entstandenen Klüfte wieder zuzuschütten. Wo fängt man da bloß an? - Ein Debattenbeitrag.

Einer Gesellschaft zu attestieren, dass sie gespalten sei oder zu zerbrechen drohe, ist kein neues Phänomen. Mit großer Zuverlässigkeit wird alle paar Jahre darüber geschrieben oder debattiert, geklagt oder davor gewarnt. 
Viel Lärm um Nichts also? - Nicht ganz. Denn das Warnen vor gesellschaftlicher Spaltung ist immer Ausdruck einer Unwucht innerhalb derselben. Am Anfang mag man sie kaum bemerken. Allenfalls jene, die ein besonders feines Gespür dafür haben, erfühlen eine Veränderung. Je stärker die Unwucht wird, desto manifester wird sie aber: Es ruckelt. Es wird ungemütlich. 
Oftmals geht diesem Phänomen eine Veränderung voraus, die das bisherige "Gleichgewicht" einer Gesellschaft verändert. Uns allen fallen Ereignisse der letzten Jahre ein, die als unabhängige Variablen oder Erklärungsansätze untersucht werden könnten.
Die Corona-Pandemie, die reale Sorge vor irreversiblen - durch den Menschen verursachten - Veränderungen des Klimas, die von bisher marginalisierten Gruppen öffentliche geäußerte Einforderung der ihnen zustehenden Rechte und ihr Wunsch nach Anerkennung oder durch Kriege oder klimatische Veränderungen angetriebene Migrationsbewegungen, sind nur einige dieser Ereignisse. 
 
Um eines gleich vorweg zu nehmen: Die Komplexität jedes einzelnen dieser Ereignisse macht es unmöglich, das eine Phänomen zu identifizieren, dass verantwortlich dafür ist, dass Wissenschaft und Politik, Journalistinnen oder Intellektuelle vor einer (zunehmenden) gesellschaftlichen Spaltung warnen. Und um noch eines ganz klar zu formulieren: Die eine Erklärung gibt es ohnehin nicht. Und es soll hier auch nicht darum gehen, diese Phänomene zu analysieren. Sie sind vielmehr Beispiele dafür, entlang welcher Linien sich Konflikte in den letzten Jahren entzündet haben. 

Für gewöhnlich haben Gesellschaften recht lange Kontinuitätslinien. Das heißt, dass etwa bestimmte  Muster oder für gesellschaftsprägend erachtete Normen oder Praktiken entlang der Generationen weitergegeben werden. Mal wirken die Rituale und Praktiken, Normen oder Werte stärker, mal weniger stark. Und natürlich gibt es Brüche mit Traditionen, Wiederentdeckungen von Ritualen oder die Entwicklung neuer Perspektiven auf die jeweils in Frage stehenden Aspekte, die eine Gesellschaft formen. 

Die Tatsache, dass wir gegenwärtig in so vielen Lebensbereichen miteinander darum ringen, was die "richtige" Haltung, was die "richtigen" Werte oder Überzeugungen seien, ist ein Hinweis darauf, dass wir das Ende einer Kontinuitätslinie erreicht haben könnten. In vielen Bereichen unseres Zusammenlebens stellen wir zurecht unser Handeln auf den Prüfstand. Wir diskutieren Machtfragen, Begriffe, Beurteilungen. 
 
In einer offenen Gesellschaft sollte es selbstverständlich sein, das Miteinander beständig zu reflektieren. Das sollte nicht dazu beitragen, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen auseinanderzutreiben. 

Dass uns dies nicht besonders gut gelingt, sich - im Gegenteil - die Anzahl an blindwütig geführten Twitter-Debatten, hämisch bis strafrechtlich relevanten Kommentaren unter Youtube-Videos, Facebook-Posts oder in Zeitungsforen zu erhöhen scheint, es also regelmäßig zu "Filter-Clashs" (Bernhard Pörksen) zwischen sich diametral gegenüberstehenden Ansichten kommt, macht darauf aufmerksam, dass die Form der Auseinandersetzung ungenügend ist. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei in meinen Augen das heute häufig bevorzugte (oder zumindest das meist rezipierte) Medium der Auseinandersetzung: Das, was wir "Social Media" nennen. 

Demokratie lebt von ihrer physischen Komponente. Für Hannah Arendt ist gerade das (politische) Handeln eng mit dem öffentlichen Raum verknüpft. Demokratie lebt von Begegnung und Konfrontation, dem Austausch von Argumenten, dem Gespräch zwischen Menschen in einer Bürgerversammlung, der Gemeinderatssitzung, beim Museumsbesuch oder am Rande der Theatervorstellung. Der Umgang mit Vielfalt und Komplexität, auch der Gemeinsinn lassen sich am besten vor Ort einüben. 

Diese physische Komponente fehlt den digitalen Medien und macht sie damit untauglich, gesellschaftliche Spannungen zu überwinden. Natürlich können sie ein wichtiger Seismograph dafür sein, welche Themen Menschen "in dieser Sekunde" bewegen und welche Themen Menschen auseinandertreiben. Zugleich sind sie aber auch trügerisch, da Menschen hier nicht vor allem aus innerem Antrieb chatten oder posten, sondern auch aufgrund der aufmerksamkeitsökonomischen Logiken der jeweiligen Netzwerke. Es geht den Netzwerkbetreibern nicht so sehr darum, was unter einen Beitrag kommentiert wird, es geht darum das etwas gepostet wird. In dem Strom aus missliebigen Kommentaren, interessanten Artikeln und unterstützenswerten Petitionen nicht unterzugehen, verlangt Menschen andere Kompetenzen ab, als wenn es darum geht, sich aktiv in eine politische Debatte einzubringen.

Demokratie wird dort lebendig, d.h. physisch erlebbar, wo ein Mensch das "Wagnis der Öffentlichkeit" (Karl Jaspers) sucht. Dies geschieht nur dann, wenn es der Bürgerin geboten erscheint. Die Konfrontation oder Debatte sucht, wer aus innerer Überzeugung handelt. Einem inneren Impuls folgt sodann ein externes Feedback.
Digital finden all diese Prozesse laufend und jeweils ausschließlich im Inneren eines einzelnen Menschen statt. Der Wunsch sich zu äußern, der Gedanke wie etwas zu formulieren sei, die Gedanken zu den Reaktionen Einzelner auf den jeweiligen Beitrag. Das sorgt nicht unbedingt dafür, dass ein Mensch die Position eines Anderen besser nachvollziehen kann, da er kein unmittelbares Feedback eines Gegenübers erhält. Natürlich entstehen extern zum Beispiel optische Reize - aber alle anderen Sinne - der Gehörsinn oder der Geruchssinn beispielsweise - werden nicht im gleichen Maße stimuliert wie wenn eine Person ihre Äußerungen in einem zu kleinen und überhitzten Gemeindesaal an einem kalten Winterabend in der Uckermark tätigt. Es öffnet sich der Person ein anderer Erfahrungsraum, der Verständnis für einem entgegenstehende Positionen ermöglicht. 

Darüber hinaus sind "soziale Netzwerke" geschlossene Systeme. Sie sind in einer gewissen Weise exklusiv, da sie zum Beispiel erfordern, dass Menschen sich in ihnen anmelden und damit den AGBs oder Regeln der Netzwerkbetreiber zustimmen oder sie eine eigene Form der Sprache (Codes) erlernen müssen, um sich zu verständigen (z.B. TL;DR - "too long, didn't read" auf Plattformen wie Twitter).
Natürlich hat auch der öffentliche Raum  damit zu kämpfen, dass er nicht überall barrierefrei oder inklusiv ist und somit die gesellschaftliche Teilhabe für Mitglieder unserer Gesellschaft erschwert - im Gegensatz zu digitalen Plattformen jedoch, können wir die Spielregeln einer Gesellschaft unmittelbar mitgestalten. So können wir auch hier gesellschaftliche Spaltung überwinden, indem wir uns auf die "kleinste gemeinsame Wirklichkeit" (Mai Thi Nguyen-Kim) verständigen.  

Demokratie braucht Nähe und physische Präsenz. Bei all den Debattenanstößen und heiteren Kleinigkeiten, die die "sozialen Medien" uns geschenkt haben, können sie das nicht ersetzen. Wollen wir gesellschaftliche Spaltung überwinden, müssen wir als Bürgerinnen und Bürger von unserem Recht Gebrauch machen, uns in politische Debatten über Grundüberzeugungen, Werte, Normen oder auch "nur" die Frage, ob in der Kommune ein neues Schwimmbad entstehen sollte, einzubringen - und zwar vor Ort.

 

Hinweis: Die oben stehenden Überlegungen setzen natürlich voraus, dass wir die Corona-Pandemie überwunden haben.