Seit Februar
2020 planen Insa Wilke und ich ein Gespräch in Berlin. Dann kommt Corona.
Mehrere Versuche, uns persönlich zu treffen scheitern am Lockdown oder an einer
vorsorglichen Quarantäne auf meiner Seite. Schlussendlich verlegen wir unser
Gespräch ins Digitale, treffen uns im November 2020 zum Interview. - Es wird
ein Gespräch über Insa Wilkes Vita, Kultur in Zeiten von Corona, das Lesen und
Schreiben - und darüber, was es heißt, eine Intellektuelle zu sein.
Die Frage, was ein Intellektueller sei, lässt sich wohl am besten
beantworten, wenn man Intellektuelle nach einer Selbstverortung fragt. Denn
folgt man Alex Demirović, so ist die „Bestimmung des Intellektuellen (…)
eine Selbstbestimmung“. Als ich Insa Wilke frage, was es für sie heiße, eine
Intellektuelle zu sein, antwortet sie treffend: „Eine intellektuelle Person ist
eine, die lesen kann. Lesen
meine ich hier ganz allgemein: Es geht um das Lesen von Situationen oder der
Gesellschaft und das Herstellen von Zusammenhängen“. Insa Wilkes Vita ist
geprägt davon, eben jene Zusammenhänge durch verschiedene Medien hindurch
herzustellen.
Ausgangspunkt
ihrer Faszination für das Lesen ist ihre Mutter, die Insa Wilke und ihrer
Schwester abends vorgelesen hat. In ihrem Zuhause gab es viele Bücher, was dazu
führte, dass sie diese früh als etwas Wertvolles und das Lesen als etwas
Wichtiges verstanden hat.
In
ihrer Jugend liest sie viel, zum Beispiel Fantasyromane wie die von Wolfgang
und Heike Hohlbein. Die Klassiker – Goethe oder Kleist in etwa – lernt sie erst
in ihrem Studium der Germanistik kennen, dass sie aufnimmt, weil ihr ein
Psychologie-Studium ausgeredet wird. „Naja, Literatur ist ja wie Psychologie“, sagt
sie mir lachend. Sie lernt in Göttingen, Rom und Berlin. Ein studienbegleitendes
Volontariat am Literarischen Zentrum in Göttingen ab 2004 bringt sie mit der
Gegenwartsliteratur in Berührung; ebenso wie mit dem Schreiben erster
Literaturkritiken für die „Frankfurter Rundschau“. Wie kam es dazu? Insa Wilkes
Antwort: „Hauke Hückstädt hat damals das Literarische Zentrum geleitet. Einmal
hatte er plötzlich keine Zeit, eine mit der FR vereinbarte Rezension zu
schreiben und fragte mich, seine Volontärin, ob ich einspringen wolle. Das habe
ich dann gemacht und Ina Hartwig, die damals Literaturredakteurin bei der FR
war und die mir viel beigebracht hat, war einverstanden es mit einer Anfängerin
zu probieren. Daraus hat sich in gewisser Weise ein Schneeballsystem ergeben.
Eines ergab das andere – richtig geplant war das nicht“.
2009
wird sie an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über den Dichter
Thomas Brasch promoviert, übernimmt in dieser Zeit auch Lehraufträge an der FU
im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Nach und nach kommen immer neue
Medien hinzu, die sie bespielt. Zunächst ist es das Radio. „Mir wurde zu Beginn
von meinem Kollegen Michael Kohtes gesagt, dass sich im Radio die Dinge anders
vermitteln als über einen Text – nämlich über Atmosphäre“, erklärt Insa Wilke
mir. Basis sei für sie allerdings immer das Schreiben geblieben: „Da muss man
sich präzise Gedanken darüber machen wie man formuliert und was genau in Texten
man analysieren möchte. Ohne das zu tun, bestünde aus meiner Sicht die Gefahr,
oberflächlich zu werden“. Dies gilt umso mehr, seit das Fernsehen hinzugekommen
ist. Neben Ijoma Mangold (DIE ZEIT) und Denis Scheck ist sie festes Mitglied
des „lesenswert“-Quartetts im SWR: „Im Fernsehen spricht man lockerer und ist
weniger eng am Text. Wenn man da nicht die Rückbindung hat, zum Beispiel genau
die Form zu analysieren, dann fehlt einem da etwas“.
Liest
man Insa Wilkes Rezensionen, so fällt auf, dass sich in ihnen häufig ein
Leitmotiv findet. Früh im jeweiligen Text wird ein Satz vorangestellt, ein Bild
aufgegriffen, ein zentrales Wort eingeführt. Egal, ob es sich um
Reiseliteratur, literaturhistorische Betrachtungen oder feministische Lyrik
handelt. Wilke schafft es so, ihren Leserinnen und Lesern eine Brille für einen
Text zu leihen, der sie Werke anders entdecken lässt als ohne diesen geliehenen
Blick. Literaturkritik ist also nicht bloß Urteil, sondern auch eine Einladung,
Autorinnen und Autoren zu entdecken. Es scheint daher treffend, wenn Insa Wilke
ihr Verständnis von ihrer Rolle als Moderatorin beschreibt: „Das Moderieren
ermöglicht mir einen anderen Zugang zu Autorinnen und Autoren. Da geht es nicht
primär um ein Urteil, sondern um die Frage: ‚Was ist das Interessante an einem
Werk?‘ oder ‚Worum kreist es?‘“
Eine
Grundhaltung ihres Verständnisses von Literaturkritik und dem Literaturbetrieb,
schimmert durch diese Antwort hindurch. Auf meine Frage, was sie an ihrem Beruf
störe, antwortet sie in Bezug auf den Literaturbetrieb: „Vieles daran ist Show,
man selbst läuft Gefahr in Routinen zu geraten oder sich selbst zu wichtig zu
nehmen. Das ist manchmal für mich frustrierend, manchmal macht es mir auch
Angst, weil ich es wichtig finde, dass man die Sachen ernst nimmt. Literatur
ist ja zumeist etwas Ernstes. Denn viele Leute haben da viel Lebenszeit
reingesteckt. – Kurz gesagt: Die Rückbindung an Lebenswirklichkeiten ist mir
wichtig“. In diesem Zusammenhang kommt sie auch auf Clemens Setz‘ Rede beim
Ingeborg-Bachmann-Preis 2019 zu sprechen. Er verglich dort den Literaturbetrieb
mit Wrestling, was Insa Wilke nach eigener Aussage sehr eingeleuchtet habe. Die
oberste Regel beim Wrestling sei es, so Setz, nicht aus der Rolle zu fallen (Kayfabe). Den versammelten Kandidatinnen
und Kandidaten im Wettbewerb gab er mit, die Regeln (und somit wohl auch
Rollen) der deutschsprachigen Literatur zu kennen und diese zugleich dringend
zu meiden.
Insa
Wilke beweist während unseres Gesprächs, dass sie diese Rollen gut kennt –
ebenso wie sie die Bedeutung der Kultur im Allgemeinen als Herstellungsleistung
von Gemeinschaftlichkeit zu würdigen weiß. In Bezug auf die schwierige Zeit,
die Solokünstlerinnen, Veranstalterinnen oder Freiberufler im Kulturbereich in der Corona-Pandemie durchmachen, sagt sie: „Natürlich ist die Tätigkeit
einer Ärztin oder eines Krankenpflegers unmittelbar erst einmal wichtiger. Aber
gerade Lesungen oder regionale Literaturfestivals tragen auch bei zur
Herstellung oder Aktivierung einer politischen Öffentlichkeit“. Zugleich stört Wilke
in der Kulturszene eine gewisse Larmoyanz. Es wäre gut, meint sie, aus einer
Haltung der Stärke zu argumentieren und auch zu sehen, welche Möglichkeiten die
Kultur – im Gegensatz zu einer 400-Euro-Fußpflegerin oder einer nicht
festangestellten Reinigungskraft hat – Öffentlichkeit für sich herzustellen. Es
werde viel zu häufig aus einer Position der Schwäche Kritik an
Benachteiligungen geübt. Wobei Öffentlichkeit eben manchmal weniger nütze als
die Verhandlungen in Hinterzimmern, in denen die Chefs von Banken, Auto- und
Stromkonzernen ein und aus gehen. Und sie weist darauf hin, dass es eine ganze
Reihe von Behörden gibt, denen möglicherweise das Verständnis dafür fehle,
warum Kultur auch und gerade in Krisenzeiten wichtig und auch ein
Standortfaktor sei. „Es ist in Krisensituationen wie dieser wahrscheinlich
wirklich ein Problem, dass es in der Kulturszene keine Gewerkschaft gibt. Klar,
es gibt den Kulturrat, aber nicht wirklich eine organisierte Institution. In
den zuständigen politischen Institutionen wiederum arbeiten zu wenig Menschen,
die wissen wie eine selbständige Künstlerin lebt, wie ihr Alltag aussieht, was
sie verdient und wie. Dann ist man eben allein von der Selbstorganisation abhängig“,
stellt Wilke fest.
Die
Corona-Krise hat die bunte Kulturszene ihrer Präsenzkomponente beraubt.
Lesungen finden, wenn überhaupt, nur digital statt, Literaturfestivals müssen
ebenso im Netz ausgestrahlt werden wie Konzerte; die Museen sind geschlossen.
Umso wichtiger ist es, dass Intellektuelle wie Insa Wilke unser aller Leben
unter geänderten Vorzeichen lesen lernen, ihre Weltsichten entwerfen und diese
mit der Öffentlichkeit teilen: „Ich merke im Moment tatsächlich, dass wir in
einer Situation sind, die einem Angst machen kann – ebenso wie die gesellschaftliche
Entwicklung der letzten Jahre. Egal an welchem politischen Pol man sitzt. Als
Gegenpol braucht man ganz dringend Lebensfreude“. Gerade hierbei müsse sie oft
an Roger Willemsen denken, dessen Nachlassverwalterin Wilke ist. Willemsen habe exemplarisch bewiesen,
wie man Gesellschaft lesen könne, ebenso wie er Lebensfreude verkörpert habe.
Zugleich schimmere in Willemsens Werk eine Melancholie hindurch, die vielleicht
erst eine jüngere Generation entdecken könne.
Insa
Wilke und ich sprechen in diesem Zusammenhang über die nachgelassene Rede „Wer
wir waren“, die auf der einen Seite Sorgen vor der Zukunft formuliere, diesen
auf der anderen jedoch eine produktive Lesart entgegenstelle. Die Idee, dass
man aus der Zukunft auf die Gegenwart schaue, berge ja eben die Hoffnung, dass
es eine Zukunft gäbe, stellen wir fest.