Robert
Pfaller, Philosophie-Professor an der Universität für künstlerische und
industrielle Gestaltung Linz, kritisiert in seinem aktuellen Buch
"Erwachsenensprache" den Neoliberalismus von links. Ein Gespräch über
Bürgerlichkeit, politische Korrektheit, den Gender-Diskurs und unsere
nostalgische Gegenwart.
Tobias Lentzler: Herr
Professor Pfaller, Genuss spielt in Ihren Werken eine zentrale Rolle. Warum? –
Was macht diesen Begriff so zentral für Ihr Denken?
Robert Pfaller: An der
Genussfähigkeit - also daran, ob Menschen sich gelegentlich die Frage stellen,
wofür es sich zu leben lohnt - entscheidet sich, ob sie bereit sind, politisch
zu kämpfen oder nicht. So, wie Bertolt Brechts Pariser Kommunarden in ihrer
Resolution sagen: "In Erwägung, dass ihr uns nun eben/ mit Gewehren und
Kanonen droht/ so haben wir beschlossen, von nun an/ schlechtes Leben mehr zu
fürchten als den Tod."
Wenn die Leute hingegen selbst verlernt haben, zu geniessen oder zufrieden zu sein, fangen sie auch an, anderen deren vermeintliches Glück zu neiden. Die derzeitige, für die Postmoderne typische Diffamierung vieler Glücksformen (wie Trinken, Rauchen, fett Essen, Autofahren, Flirten, Sex etc.) führt also zur politischen Wehrlosigkeit und zur neidischen Entsolidarisierung in der Gesellschaft.
Wenn die Leute hingegen selbst verlernt haben, zu geniessen oder zufrieden zu sein, fangen sie auch an, anderen deren vermeintliches Glück zu neiden. Die derzeitige, für die Postmoderne typische Diffamierung vieler Glücksformen (wie Trinken, Rauchen, fett Essen, Autofahren, Flirten, Sex etc.) führt also zur politischen Wehrlosigkeit und zur neidischen Entsolidarisierung in der Gesellschaft.
Tobias Lentzler: Ein weiterer
wichtiger Aspekt Ihres Denkens ist – soweit ich das feststellen kann – Ihre
Überzeugung, dass das Private und das Öffentliche strikt voneinander zu trennen
seien. Was geht verloren, wenn diese Begrifflichkeiten an Trennschärfe
verlieren?
Robert Pfaller: Wie Richard
Sennett bereits 1977 richtig erkannte, wird in westlichen Gesellschaften seit
einigen Jahrzehnten die Errungenschaft der öffentlichen Rolle (des "Public
Man", jeglichen Geschlechts) zugunsten der privaten Person aufgelöst. Alle
kommen nun mit ihren persönlichen Empfindlichkeiten und Marotten in die
Öffentlichkeit und verlangen nach "Anerkennung". Dadurch aber geht
das Entscheidende verloren, was uns zu politischen Bürgerinnen und Bürgern
macht. Als solche handeln wir, wenn wir unsere persönlichen Agenden ein Stück
weit im Hintergrund halten - was schon bei elementaren Verhaltensweisen des
öffentlichen Raumes wie zum Beispiel der Höflichkeit beginnt: auf die Frage,
wie es einem geht, antwortet man ja bezeichnenderweise eben nicht mit dem
eigenen Blutbild. Nur wenn wir das fertigbringen - was unsere Eltern- oder
Großelterngeneration übrigens noch sehr gut beherrschte -, sind wir fähig, das
Allgemeine in uns zum Vorschein zu bringen. Und nur dann sind wir in der Lage,
uns mit anderen, ungeachtet von deren kultureller, sexueller, ethnischer oder
religiöser Identität, zu verständigen, unsere gemeinsamen Interessen zu
erkennen und uns mit ihnen zum politischen Handeln zusammenzuschließen. Die
postmoderne Propaganda der Empfindlichkeit und der sogenannten "Sensibilisierung"
hingegen ist eine Waffe der Zerstückelung der Gesellschaft, der Ablenkung auf
unbedeutende Kleinigkeiten und der politischen Lähmung.
Tobias Lentzler: Ihr
jüngstes Buch „Erwachsenensprache“ fällt in eine Zeit, da in vielen Ländern
Europas und in den USA Kunstwerke kritisch hinterfragt, abgehängt oder gar
übermalt werden. Wie kann man sich diesem Umstand philosophisch nähern?
Robert Pfaller: Überspitzt
würde ich sagen: daran zeigt sich, dass man kein Muslim zu sein braucht, um
sich wie ein Taliban aufzuführen. Die postmoderne Identitätspolitik mit ihrer
Propaganda der Empfindlichkeiten erweist sich hier als Ideologie des
Neoliberalismus: sie bedient das neoliberale Interesse der Privatisierung des
öffentlichen Raumes; und seiner Unterwerfung unter persönliche Ansprüche.
Tobias Lentzler: Welche
möglichen Probleme entstehen aus der Art wie oben beschriebene Gesellschaften
sich derzeit mit Kunst und Kultur auseinandersetzen?
Robert Pfaller: Der
(oder die) vermeintlich Empfindlichste soll heute zum Maßstab dessen werden,
was in der Öffentlichkeit vorkommen darf. Das alte Prinzip bürgerlicher
Öffentlichkeit (im Sinn von citoyenneté)
hingegen besagte, dass man im öffentlichen Raum Dinge und Meinungen bis zu
einem gewissen Grad dulden muss, auch wenn sie einem nicht zur Gänze passen.
Der Widerstreit von entgegengesetzten Ansichten und Interessen gehört ja zur
Demokratie. Einen Film, den man nicht mag, muss man sich nicht ansehen; und
eine Bar, in der geraucht wird oder in der Musik gespielt wird, die einem
zuwider ist, braucht man ja nicht zu besuchen. Dieses Prinzip der maßvollen
Zumutbarkeit widriger Dinge im öffentlichen Raum würde ich auch als
Erwachsenheit bezeichnen. Diejenigen hingegen, die im Namen ihrer
Empfindlichkeiten heute ständig nach Polizei und Zensur rufen, führen sich auf
wie Kleinkinder. Dass Erwachsenheit heute nicht mehr von jedem Erwachsenen mit
Selbstverständlichkeit erwartet werden kann - genau das macht meines Erachtens
das Neoliberale an der Erosion des öffentlichen Raumes aus.
Tobias Lentzler: „Erwachsenensprache“
geißelt mit markigen Worten den Neoliberalismus. Was lässt Sie vermuten, dass
er die Triebfeder der heftig diskutierten Fragen nach politischer Korrektheit
oder rücksichtsvollem Sprechen ist?
Robert Pfaller: Die von
vielen scheinbar emanzipatorischen Akteuren vorangetriebene Infantilisierung
erscheint mir als eine sehr nützliche Stütze des Neoliberalismus. Die Leute
kümmern sich nur noch um Kleinkram und symbolische Kompensationen, während in
der Gesellschaft, wie zum Beispiel an der Banken- und Finanzkrise 2008 deutlich
wurde, eine massive Umverteilung des Reichtums zugunsten der Reichsten
stattfindet, gegen die kaum jemand mehr etwas unternimmt. Die Philosophin Nancy
Fraser hat die Empfindlichkeitspropaganda der political correctness
des sensiblen Sprechens darum auch als "progressiven Neoliberalismus"
bezeichnet.
Tobias Lentzler: Wie
erklären Sie sich, dass die Forderungen nach Binnen-I, Gendersternchen o.ä.
öffentlich derzeit so stark – und oft auch recht einseitig – rezipiert werden?
Inwieweit lassen diese Fragen Ihrer Meinung nach eine differenzierte
Auseinandersetzung zu?
Robert Pfaller: Wie der Philosoph Spinoza bemerkte: Was die Menschen aus Vernunft erkennen, das verteidigen sie auch mit Vernunft. Was sie hingegen aus Leidenschaft erkennen, das verteidigen sie auch mit Leidenschaft. Bezeichnend erscheint mir für unsere gegenwärtige Situation, dass Massnahmen mit umso größerer Heftigkeit verteidigt werden, je weniger sie den betroffenen Gruppen wirklich nützen. Von Binnen-Is oder Gendersternchen kann sich niemand etwas kaufen.
Seit etwa 1980 haben die Sozialdemokratien und Mitte-Links-Parteien in den westlichen Ländern kaum mehr etwas gegen die wachsende ökonomische Ungleichheit unternommen. Gegen die Vorstöße von Thatcher und Reagan waren sie noch ohnmächtiger als die Bevölkerungen, die ja immerhin das eine oder andere Mal versucht haben, wieder eine Alternative an die Macht zu wählen. Aufgrund ihrer Ohnmacht haben eben diese Mitte-Links-Parteien ihre Aufmerksamkeit auf die Kultur und den symbolischen Raum verlagert - daher zum Beispiel das Augenmerk auf die Sprache. Aber wenn man Probleme, die auf der Ebene der Ökonomie und der Sozialpolitik gelöst werden müssen, in die Kultur verlagert, dann löst man diese Probleme nicht nur nicht; man schafft sogar zusätzliche neue. Man macht dann im Namen vermeintlicher Emanzipation auch noch reaktionäre Kulturpolitik, zum Beispiel durch verschärfte Zensur.
Seit etwa 1980 haben die Sozialdemokratien und Mitte-Links-Parteien in den westlichen Ländern kaum mehr etwas gegen die wachsende ökonomische Ungleichheit unternommen. Gegen die Vorstöße von Thatcher und Reagan waren sie noch ohnmächtiger als die Bevölkerungen, die ja immerhin das eine oder andere Mal versucht haben, wieder eine Alternative an die Macht zu wählen. Aufgrund ihrer Ohnmacht haben eben diese Mitte-Links-Parteien ihre Aufmerksamkeit auf die Kultur und den symbolischen Raum verlagert - daher zum Beispiel das Augenmerk auf die Sprache. Aber wenn man Probleme, die auf der Ebene der Ökonomie und der Sozialpolitik gelöst werden müssen, in die Kultur verlagert, dann löst man diese Probleme nicht nur nicht; man schafft sogar zusätzliche neue. Man macht dann im Namen vermeintlicher Emanzipation auch noch reaktionäre Kulturpolitik, zum Beispiel durch verschärfte Zensur.
Tobias Lentzler: Viel
ist derzeit von „Filterblasen“ und dem Verlust einer zivilisierten
Diskussionskultur die Rede. Wie könnten wir Letztere wieder fördern?
Robert Pfaller: Indem
wir uns auf der Ebene der Ethik wieder zunehmend wie erwachsene, mündige
politische Bürgerinnen und Bürger verhalten, die in der Lage sind, ihre
gemeinsamen Interessen zu erkennen und sie handelnd wahrzunehmen. Und indem wir
auf der Ebene der Politik beginnen, Probleme ungleicher Einkommen als
ökonomische Probleme, und nicht als kulturelle oder sprachliche, zu behandeln.
Tobias Lentzler: In
Ihrem Buch „Erwachsenensprache“ plädieren Sie für das Prinzip der
Bürgerlichkeit, das persönliche Befindlichkeiten in der Öffentlichkeit
zurückstellt. Welche Fähigkeiten müssen gestärkt werden, damit Bürgerlichkeit
wieder in den Fokus unseres öffentlichen Handelns rücken kann?
Robert Pfaller: Man
muss die Leute, anstatt sie in ihren vermeintlichen Identitäten und den
dazugehörigen Empfindlichkeiten zu bestärken, wieder daran erinnern, dass sie
als Erwachsene durchaus in der Lage sind, einiges auszuhalten - ja sogar es als
Bereicherung zu nutzen. Von manchem, was mir gegen den Strich geht, kann ich
bei näherer Betrachtung schließlich auch etwas lernen.
Tobias Lentzler: An
vielen Stellen in „Erwachsenensprache“ plädieren Sie für eine offene
Gesellschaft, die „ohne Inklusion von identitären oder gemeinschaftlichen
Gruppen“ politische und kulturelle Teilhabe ermöglicht. Skizzieren Sie bitte:
Welche Schritte müssen wir unternehmen, um diesen Gesellschaftstypus zu
erreichen?
Robert Pfaller: Gerade
den heute um das Sprechen so sehr Besorgten scheint eines nicht aufzufallen:
eine inklusive Gesellschaft ist, genauso wie eine exklusive, eine geschlossene
Gesellschaft. Es geht doch nicht darum, alle einzuschließen, sondern darum,
einen offenen Raum herzustellen, zu dem alle, ungeachtet ihrer Herkünfte oder
Besonderheiten, Zugang haben. Dazu müssen sie auch nicht dauernd drinnen sein -
wie das der irreführende Begriff der "Partizipation" unterstellt hat.
Gerade am aktuellen Kapitalismus kann man lernen, dass oft diejenigen, die
nicht aktiv mitmachen, von manchen Prozessen am meisten haben. Wenn man an dem
Wort "Teilhabe" festhalten will, dann sollte man es darum nicht mit
"Partizipation" übersetzen, sondern vielleicht eher mit
"shareholding".
Tobias Lentzler: Herr
Prof. Pfaller, viele Ihrer Vorschläge erscheinen lohnenswert, allein sie wirken
auch weit entfernt davon derzeit gesellschaftlich zu verfangen. Würden Sie sich
als Nostalgiker bezeichnen? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?
Robert Pfaller: Ich
glaube, die Gegenwartskultur ist zutiefst nostalgisch. Das kann man zum
Beispiel am Retro-Design sehen, mit dem die Industrie den sehnsüchtigen Wunsch
der Leute nach bestimmten, jüngeren Vergangenheiten bedient: etwa mit dem Mini
oder dem Fiat Cinquecento. Nun kann man sich fragen, wonach sehnen sich die
Leute zurück? - Und eines wird dabei sofort klar: sie sehnen sich nach einer
Vergangenheit, die ihrerseits keine Sehnsucht nach Vergangenheit hatte. In den
60er und 70er Jahren gab es kein Retrodesign. Und zwar deshalb, weil die Leute
damals begründete Hoffnung hatten, dass es ihnen in der Zukunft besser gehen
würde. Wir sehnen uns heute also zurück in eine Vergangenheit, die anders als
wir, noch Hoffnung auf Zukunft hatte. Da ich versuche, mit meinen bescheidenen
philosophischen Mitteln eine Ethik und eine Politik zu befördern, die den
Menschen wieder Aussicht auf eine bessere Zukunft verschafft (so, wie es
derzeit, in nicht unbedeutendem Maß die Bewegungen rund um Bernie Sanders und
Jeremy Corbyn tun), würde ich meinen, dass meine Vorstöße anti-nostalgisch
sind.
Tobias Lentzler: Ijoma
Mangold hat in der „Zeit“ 2016 vom „Verlust der Mitte“ gesprochen. Von links
käme „Hypermoral“, von rechts „blanke Gewalt“. Begreifen Sie Ihre Arbeit als
ein Plädoyer für eine neue Form von Bürgerlichkeit aus der Mitte der
Gesellschaft? Wenn ja, warum? Wenn nein, wofür plädieren Ihre Arbeiten dann?
Robert Pfaller: Sie
dürfen nicht übersehen, dass ich die aktuelle Pseudolinke von links kritisiere.
Gegen eine kulturelle Symbolpolitik, die letztlich den Neoliberalismus stützt,
fordere ich eine ökonomische Politik, die ihn bekämpft. Ein Einsatz und Terrain
dieses Kampfes ist aber tatsächlich die Frage, ob wir in Zukunft noch so etwas
wie eine bürgerliche Öffentlichkeit haben werden, oder ob es den echauffierten
"Kulturtaliban" westlicher Prägung gelingt, diese zur Gänze zu
zerstören und ein Regime des "betreuten Denkens" einzurichten, wie
die Philosophin Maria-Sibylla Lotter dies treffend genannt hat. Das Wort
"bürgerlich" bezeichnet hier den citoyen - eine
Anrede, mit der auch Karl Marx seine Freunde und Genossen bedachte -, und nicht
den bourgeois.
Darum sehe ich meine linke Position in einer Allianz mit jenen bürgerlichen,
liberalen Kräften, die ebenfalls den öffentlichen Raum von der Übernahme durch
gutmeinende Privatinteressen schützen wollen. Bertolt Brechts Satz "der
Kommunismus ist das Mittlere" scheint mir hierin eine mögliche Anwendung
zu finden.
Tobias Lentzler: Wie
gehen Sie nach dem Erfolg Ihrer Bücher mit möglicher Kritik von weit links bzw.
Lob von weit rechts um? – Wie nah sind sich diese Extrem-Positionen
argumentativ?
Robert Pfaller: Lob von
rechts bekomme ich kaum jemals; und Kritik kommt nie von weit links, sondern
meist von einer bourgeoisen, pseudolinken Mitte. Das ist nicht überraschend.
Aus meiner Sicht sind die Kulturlinke und die extreme Rechte derzeit Komplizen.
Denn alles, was wirklich von links kommt, kann die Kulturlinke bequem als
rechts diffamieren. Und die Rechte profitiert davon, dass der Großteil der
unteren Mittelschichten sich von der pseudolinken Kulturpolitik übergangen
fühlt. Weil Empfindlichkeitspolitiken, Sprachorthodoxie, Museumszensur und
ähnliche Maßnahmen immer nur Distinktionskapital für die Eliten erzeugen,
wählen die durch diese Distinktion Deklassierten eben derzeit zornig rechts.
Das könnte sich bald aber auch wieder ändern.
Tobias Lentzler: Wie
sollten Ihrer Meinung nach Universitäten heute aussehen, damit Sie zum Denken
anregen und öffentliche Debatten befruchten?
Robert Pfaller: Offen
und gegen alle repressiven Empfindlichkeiten am Ideal der Erwachsenheit
orientiert - so, wie das der Dekan der University of Chicago, John Ellison,
einmal mit bewundernswerter Klarheit festgehalten hat: wir geben keine
"trigger warnings" aus; wir laden eingeladene Vortragende nicht
deshalb wieder aus, weil sie unbequeme Ansichten vertreten, und wir kreieren
keine "safe spaces". Dieses Ideal muss auch für die Gesellschaft als
ganze gelten: eine emanzipierte Gesellschaft zeichnet sich nicht dadurch aus,
dass alle Identitäten "sichtbar", und alle Empfindlichkeiten durch
Zensur berücksichtigt sind. Die völlige Sichtbarkeit aller Gruppen hatten wir
doch schon einmal - die haben die Nazis perfekt vorexerziert. Und was die, die
es gut meinen, durch Zensur und Zerstörung anrichten, kann man zum Beispiel
daran sehen, was die islamistischen Fanatiker des Daesh vor kurzem mit
Timbouktou, dieser wunderbaren Stätte islamischer Gelehrsamkeit, gemacht haben.
Eine egalitäre Gesellschaft hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass alle
unbesehen ihrer Identität - entsprechend dem Ideal der "blinden
Justitia" - Zugang zum öffentlichen Raum haben.
Tobias Lentzler: Zuletzt:
Sie sind Professor an der Kunstuniversität in Linz. Welchen Eindruck macht der
(akademische) Nachwuchs auf Sie? Wie blicken Sie auf Basis Ihrer Beobachtungen
in die Zukunft?
Robert Pfaller: Linz
ist eine Arbeiterstadt. Der österreichische Bürgerkrieg hat am 11. Februar 1934
durch den Widerstand unbeugsamer Schutzbündler gegen die
katholisch-faschistische Dollfuß-Diktatur hier seinen Ausgang genommen. Diese
Tradition ist auch heute noch spürbar. Auch wenn freilich ein großer Teil der
Studierenden nicht aus Linz kommt, scheint mir unter ihnen doch eine bestimmte
politisierte Vernunft als Grundstimmung zu herrschen, die sie deutlich unempfänglicher
macht für modische pseudolinke Strömungen, wie sie die bürgerlicheren
Studierenden anderer Kunstuniversitäten, wie das Kunstfeld überhaupt, prägen.
Aus dieser mainstream-kritischen Haltung gehen immer wieder grandiose Arbeiten
hervor, wie zuletzt zum Beispiel die aufblasbare Karl-Marx-Monumentalskulptur
von Hannes Langeder. Die intellektuellen und politischen Ressourcen sind also
je nach Standort unterschiedlich. Ein großer Teil dessen allerdings, was die
Universitäten in Europa zu Brutstätten eines kritischen Intellektualismus
machen konnte, scheint mir heute massiv gefährdet durch die Reformen seit den
1990er-Jahren - also die sogenannte Bologna-Reform sowie die damit
zusammenhängende Privatisierung der Universitäten (in Österreich
"Vollrechtsfähigkeit" genannt) und die entsprechende Ökonomisierung
der Bildung. Universitäten sind dadurch weitgehend zu stumpfen Ausbildungs- und
Lernanstalten verkommen. Man kann den Studierenden kaum einen Vorwurf machen,
wenn sie sich entsprechend verhalten. In kleinen Nischen aber kann man, wenn
man Glück hat, sowohl als Student wie als Lehrender, noch vernünftig arbeiten.
Von solchen Nischen kann dann auch mitunter ein kräftiger politischer Impuls
ausgehen - wie zuletzt bei dem in seinem Umfang wie in seiner Qualität äußerst
beachtlichen Streik im Jahr 2009, der, von einer Wiener Kunstakademie
ausgehend, sich quer durch Europa zog und an dem sich Millionen von
Studierenden wie Lehrenden beteiligten. Es verhält sich hier wie überall in der
Gesellschaft: alle Tiger, die man vorübergehend ablenkt oder sediert, könnten
eines Tages zorniger erwachen.