01 Oktober 2018

Essay: Wir leben nicht in einer Service-Demokratie. – Gedanken über staatsbürgerliche Pflichten.

Demokratie erfordert ein kontinuierliches Bemühen um sie. Die weltweit erstarkenden populistischen Bewegungen sind zum Teil auch Ausdruck eines falschen Demokratieverständnisses. Nicht nur Politiker haben in einer repräsentativen Demokratie die Pflicht sie zu pflegen; auch die Bürger sind hierbei gefragt. 

Diesem Essay geht es um eine Annäherung an den Begriff der staatsbürgerlichen Pflichten und die Rolle der Bürger in einer repräsentativen Demokratie. 

Ganz allgemein erfordert Demokratie ein stetiges Bemühen um sie. Sie kann sich nur fortentwickeln, wenn alle Bürger eines Staates (und auch all jene, die nicht die Staatsangehörigkeit des entsprechenden Landes teilen, aber in ihm leben) diese Aufgabe ebenso wahrnehmen wie Politiker. 

Der Gedanke es sei allein Aufgabe der Politik (und noch konkreter der jeweiligen Regierung) die unterschiedlich gelagerten Probleme eines Landes zu lösen, den Bürgern ihre Sorgen abzunehmen oder ihnen - wie auch immer geartete - Wohltaten angedeihen zu lassen, zeugt von einem verqueren Staatsverständnis. Wir leben nicht in einer Service-Demokratie. Der oben genannte Anspruch an alle Bürger erwächst aus der Tatsache, dass in einer Demokratie das Volk der Souverän ist.
Bürger müssen daher bereit sein Verantwortung für die Handlungen ihrer jeweiligen Regierungen im In- und Ausland mit zu übernehmen. Der in Yale lehrende Philosoph Thomas Pogge sieht in seinem 2011 erschienenen Text "Are We Violating the Human Rights of the World's Poor?" hierbei alle Bürger in der Pflicht. Ausgenommen sind bei ihm Kinder und Menschen mit schweren mentalen Behinderungen. Zwar bezieht sich Pogges Text auf das globale Problem der Weltarmut, jedoch erscheint sein Verständnis von Verantwortung, welches Bürgerinnen und Bürger (in Industrieländern) für die von ihren Regierungen betriebene Politik haben, auch auf andere Kontexte übertragbar zu sein. Um eines deutlich zu sagen: Diese (Mit-)Verantwortung entlässt Politiker keineswegs aus der Pflicht zu handeln. Viel eher geht es darum als Staatsbürger Möglichkeiten des aktiven Austauschs mit Politikern wahrzunehmen. Sei es in Form von Briefen an den jeweiligen Abgeordneten, Teilnahmen an Gesprächskreisen oder Veranstaltungen, als Teil einer Bürgerinitiative oder als Demonstrant für oder gegen etwas.

Der deutsche Politikwissenschaftler Christian Welzel schrieb 2009 in einem Buchkapitel über Demokratisierung: "What matters is not whether people support democracy but for what reasons they do so (...). Only when people support democracy for the freedoms that define it, are they ready to mount pressure on elites to introduce these freedoms when they are denied, to defend them when they are challenged, or to advance them when they stagnate".
Die Rolle des Staatsbürgers ist hierbei eine aktive. Er (oder sie) soll sich für die durch Demokratien zugesicherten Freiheiten einsetzen, sie verteidigen oder erweitern.

Doch wie sieht diese aktive Rolle eines Staatsbürgers konkret aus? - Ich sehe unsere Rolle (bitte verzeihen Sie mir den auf diesem Blog selten vollzogenen Wechsel in die erste Person Singular) darin Politik um neue Perspektiven zu bereichern. Diese Bereicherung kann konkrete Politik-Vorschläge beinhalten (z.B. die Einführung eines kostenlosen Dauertickets für den ÖPNV und/oder die Fernbahnen und -busse bei freiwilliger Abgabe seines Führerscheins) oder das Bewusstsein darüber, dass man sich in seiner je eigenen Rolle als Facharbeiter, Krankenpfleger, Universitätsprofessor oder Busfahrer usf. immer auch als Wissensvermittler und Dialogpartner für Anders- und Gleichdenkende sieht.

Jeder Mensch hat eine Fähigkeit, die ihn auszeichnet. Der aktive Staatsbürger nutzt sein Wissen, um seine Mitmenschen zu inspirieren oder zum Nachdenken anzuregen. Er überschätzt sich nicht, mischt sich aber dennoch aktiv ein. Es geht dabei nicht (nur) darum große Politik zu machen. Engagement kann im kleinen Rahmen zum Gelingen einer Nachbarschaft, eines Dorfes oder eines Stadtteils beitragen.

Von entscheidender Bedeutung sind drei Qualitäten: Zuhören, Handeln und Akzeptieren. Alle Meinungen, die vom demokratischen Meinungsspektrum abgedeckt werden, sollten zunächst Gehör finden. Auf Basis einer kritischen Auseinandersetzung sollte anschließend eine Haltung formuliert werden, die in eine Handlung überführt werden kann. Ist die Handlung dereinst ausgeführt gilt es, dass auch Menschen, die eine andere Handlung bevorzugt hätten die Entscheidung akzeptieren. Zumindest so lange bis ein neues (und besseres) Argument zu einem neuen Prozess des Aushandelns über ein bestimmtes Thema führt.