Subtilität ist ein potenzielles Opfer einer Kultur der Eindeutigkeit, die sich in Bewertungsschemata wie "like"/"dislike" manifestiert. Über kurz oder lang steht zu befürchten, dass sich dadurch Kreativität und Tiefe verlieren könnten. Denn eine Kultur, die Urteile über kulturelle Lebensäußerungen nur anhand von zwei entgegengesetzten Punkten eines Spektrums bewerten kann, wird der Komplexität menschlichen Lebens nicht gerecht.
Unsere digitale Gegenwart ist alles andere als subtil. Ständig werden wir dazu aufgefordert Produkte zu bewerten oder gar Menschen. "Like" und "Dislike", Rankings und Noten gewinnen zunehmend an Bedeutung. Der Soziologe Steffen Mau hat das 2017 in seinem Buch "Das Metrische Wir" als "Quantifizierung des Sozialen" bezeichnet und davor gewarnt, dass die zunehmende Vermessung des Lebens auch zu einer "Spaltbarkeit des Sozialen" führe.
Eine künstlich erzeugte Vergleichbarkeit all unserer sozialen (Lebens-)Äußerungen scheint in der Tat Maßstäbe zu verschieben. Diese Aussage ist zunächst nicht normativ gemeint. Sie soll lediglich dafür sensibilisieren, mögliche Veränderungen wahrnehmen zu können.
Verstehen wir Kultur im weitesten Sinne als die (geistigen) Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, so betreffen Veränderungen des Sozialen selbstverständlich auch die Kultur. Bewertungen in Form von Noten, Punkten, Likes oder Sternchen stellen an der Oberfläche Eindeutigkeit her. Sie lassen es zu, Restaurants, Hotels oder Influencer, aber auch kulturelle Erzeugnisse wie Bücher, Filme, Tonträger in eine Reihenfolge zu bringen.
Diese Rankings erleichtern auf den ersten Blick das Leben. Sie zeigen an, welche Gaststätten man lieber meiden, um welche Herbergen man besser einen Bogen machen sollte. Auch lässt sich an ihnen ablesen, welche Youtuber oder Musikerinnen gerade hoch im Kurs stehen und augenscheinlich Beachtung verdient haben.
Bewertungen provozieren eine Kultur der Eindeutigkeit, vielleicht gar der Konformität. Trends nicht aufzunehmen, wird zum Luxus. Sich Bewertungen zu verweigern, wird fast unmöglich. Letztere werden gar zu einer Waffe, die Enttäuschte gegen Hotelbetreiber, Restaurantbesitzer oder Kulturschaffende einsetzen können. Sind die schlechten Noten für einen Gasthof zum Beispiel Ausdruck einer persönlichen Kränkung oder einer ernsthaften Warnung vor ungenießbaren Speisen? Oder: Ist die miserable Bewertung eines neuen Buches auf die stümperhafte Komposition der Charaktere oder umstrittene Äußerungen des Autors zurückzuführen?
An diesem Punkt werden Bewertungen bzw. Rankings paradoxer Ausdruck einer Kultur der Eindeutigkeit, die zugleich Uneindeutigkeiten hervorbringt. Ist ein "Like" immer auch ein "Dislike" seines Gegenteils?
Erst dort, wo sich diese Frage stellt, wird es spannend. Erst hier setzen Diskurse an, wird Kultur lebhaft. Doch die Paradoxie der Kultur der Eindeutigkeit lebt davon, dass diese Debatten – wenn sie denn überhaupt geführt werden – ausgelagert, d.h. unabhängig von der ursprünglichen Lebensäußerung, geführt werden.
Über kurz oder lang steht zu befürchten, dass die Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit der massenhaften Bewertung einer Lebensäußerung zu einem Verlust an Kreativität und Tiefe von Werken führt. Zugänglichkeit, d.h. Massentauglichkeit könnte einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Natürlich ist diese Sorge nicht neu. Sie stellt sich ob der immer weiter zunehmenden Bedeutung von Rangfolgen allerdings mit immer größerer Dringlichkeit.
Kultur bedarf eines subtilen Elements. Vorhersehbarkeit lässt dem Betrachter eines Werkes, der Leserin eines Romans keinen Raum, sich eigene Gedanken zu machen. Dabei besteht die Absorptions-Kraft eines Textes oder eines filmischen Epos ja gerade darin, Leerstellen selbst füllen zu können. Eine raumgreifende Kultur der Eindeutigkeit bedroht diesen Zustand des Denkens.