Mit dem "Godesberger Programm", welches von 1959 bis 1989 als Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) fungierte, modernisierte sich die SPD und unternahm den Versuch sich als Volkspartei zu etablieren. Er gelang! Im Jahr 2016 bedürfte es abermals eines Grundsatzprogrammes, welches die Politik der Sozialdemokraten wieder von der Politik der CDU unter Angela Merkel abgegrenzt. Nachdem die SPD in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt einen gehörigen Bedeutungsverlust erlitten hat, muss die Partei sich neu erfinden, um ihrem Selbstbild als Volkspartei gerecht zu werden. - Viele SPD-Mitglieder haben Ideen wie eine solche Neuaufstellung aussehen müsste, allein eine gemeinsame Linie ist bisher noch nicht zu erkennen.
Die deutsche Sozialdemokratie hat mit dem "Godesberger Programm" von 1959 erstmals ihr Selbstverständnis neu definiert. Auf einem außerordentlichen Parteitag bekannte sich die Partei mit einer großen Mehrheit zu den neuen Grundzügen einer sozialdemokratischen Politik. Der so genannte "demokratische Sozialismus" wurde in dem Papier in sieben Kapiteln umrissen. Diese beinhalteten das Bekenntnis zu einer kapitalistisch verfassten Marktwirtschaft, im Wortlaut: "Wettbewerb soweit wie möglich - Planung soweit wie nötig!", zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sowie zur Landesverteidigung. Gerade die Bekenntnisse zur Landesverteidigung und zur Marktwirtschaft, verdeutlichen die Abkehr vom so genannten "Heidelberger Programm", welches zwischen den beiden Weltkriegen beschlossen wurde. Die SPD vollzog mit dem "Godesberger Programm", welches viele als Grundstein für die Kanzlerschaft Willy Brandts (und später Helmut Schmidts) ansehen, einen Wechsel von einer Arbeiterpartei hin zu einer für alle Bevölkerungsgruppen und Bildungsschichten wählbaren Volkspartei.
Heute, so scheint es, gerät die Bezeichnung "Volkspartei" für die SPD immer mehr in Gefahr. Nicht bloß, weil die Partei in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg unter die 15-Prozent-Marke rutschte, sondern auch, weil sie im Bund seit Jahren bei knapp 24 Prozent stagniert. Zum Vergleich: Das beste Ergebnis der Parteigeschichte erzielte die SPD 1972. Damals erhielt sie nicht weniger als 45,8 Prozent der Zweitstimmen.
Damit die älteste Partei Deutschlands weiterhin als gewichtige Stimme im politischen Diskurs wahrgenommen wird, bedarf es eines neuen Bad Godesberges. - Die SPD muss in einem neuen Grundsatzprogramm die Leitlinien für eine sozialdemokratische Politik des 21.Jahrhunderts darlegen. Wenn ein solcher Versuch gelingt, kann sie eine klare Alternative zu der von Angela Merkel geführten CDU bilden. Möglicherweise verschöbe dieser neue Ansatz einmal mehr das Parteienspektrum. Zumindest bestünde die Möglichkeit, dass die CDU sich wieder konservativer orientiert, was die Ausbreitung der AfD aufhalten könnte, und die SPD sich wieder als Mitte-Links-Partei verstünde. Ganz aufgeben sollte die SPD die Mitte nicht, denn schon Willy Brandt sagte: "Wahlen werden in der Mitte gewonnen".
Innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gibt es vor allem Basis-Politiker, die sich mit einer Neuorientierung der Partei beschäftigen. Vor allem der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der zunehmend den konservativeren Flügel der Partei vertritt, steht immer wieder in der Kritik. - Gerade heute erschien in der "ZEIT online" ein Gastbeitrag des SPD-Mitglieds Yannick Haan. Er betont, dass die SPD vor allem dann gewählt worden sei, wenn sie überzeugende Antworten auf drängende Fragen der Zukunft gehabt hätte. Er will die Partei mithilfe der anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa neu organisieren. Am Beispiel Griechenlands illustriert er, wie machtlos die linke Politik einer Partei auf nationaler Ebene ist. Sie bedarf einer europaweiten Unterstützung.
An Yannick Haans Beitrag ist vor allem hervorzuheben, dass er in Zeiten der wiedererstarkenden nationalistischen Strömungen, Europa und europäische Ideen in den Mittelpunkt stellt. Wenn die SPD ihr Bekenntnis zu grenzübergreifenden Werten und Strukturen ehrlich - und nicht bloß als Lippenbekenntnis - formuliert, so könnte in diesem Ansatz in der Tat eine "Perspektive", wie Haan schreibt, liegen. - Entscheidend scheint mir, dass die Sinnsuche nach einer zeitgemäßen linken, europäischen Politik, die Antworten auf drängende und zukünftige Fragen stellen muss und in der Lage ist eine Vision ihrer eigenen Politik zu entwickeln. Dies wäre von hoher Bedeutung für den Fortbestand der SPD als Volkspartei. - Eine Tatsache sollte der SPD Mut machen: Der große Helmut Schmidt ließ zwar einst verlauten, wer Visionen habe, müsse zum Arzt. Jedoch war es der erste sozialdemokratische Kanzler Willy Brandt, der die SPD 1969 mit großen Visionen zum Wahlsieg führte.