Diesen Essay veröffentlichte Autor Tobias Lentzler bereits Anfang des Jahres auf kulturlog. Nach einem Aufenthalt in Amerika ist er noch um einige Gedanken ergänzt worden.
Klein und fast unscheinbar, so stellt sich ein lohnenswerter
Lebensmoment für den österreichischen Philosophen Robert Pfaller dar.
Anfang des vergangenen Jahres erschien in der österreichischen
Tageszeitung "Der Standard" ein Essay mit dem Titel "Wofür es sich zu
leben lohnt". Angelehnt war er an Pfallers im März 2011 erschienenes,
gleichnamiges Buch (S.Fischer Verlag). In diesem Essay geht es vor allem
darum, dass die gesellschaftliche Individualisierung uns des Genusses
eines Moments beraubt habe. Das ständige Abenteuer Leben, so ist Pfaller
zu verstehen, verhindere den Genuss des Lebens selbst. Momente in
"denen das Abenteuer Pause macht" seien wichtig, um den Momenten selbst
eine eigene Bedeutung beimessen zu können. Maßvoll, aber mit gedoppelter
Vernunft sollen wir nach Pfaller genießen. Die einfache Vernunft, in
der wir heute leben, sei gar keine wirkliche Vernunft, so der
Philosoph. "Momente kindlicher Unvernunft" nennt Pfaller hingegen die
gedoppelte Vernunft und verzeiht einem Menschen selbige. Auch Epikur
beschreibt eine Art der gedoppelten Vernunft: "Es gibt auch im kargen
Leben ein Maßhalten. Wer dies nicht beachtet, erleidet Ähnliches wie
derjenige, der in Maßlosigkeit verfällt." Nach Pfaller ist das
"Ab-und-zu-maßlos-werden" also notwendig, um zu fühlen, wofür es sich zu
leben lohnt.
Epikur allerdings war der Meinung, dass sich das Leben in zwei
grundsätzliche Sinneswahrnehmungen einteilen ließe - den Schmerz und die
Freude. Ziel des Lebens sei es den Schmerz zu tilgen und die Freude -
im Wissen um die Einmaligkeit und Endlichkeit seines eigenen Lebens -
zum Ziel aller Empfindungen zu machen. Dies ist nach Epikur allerdings
nur möglich, wenn man sein Leben maßvoll und genügsam führt. Prasserei
und Völlerei, Trinkgelage und überbordenden Luxus verachtete und
verurteile er. Trotzdem wurde seine Philosophie später so ausgelegt.
Ein bisschen Epikureismus könnte den überschnellen Zeiten in
denen sich Armut und Reichtum auf das Perverseste gegenüberstehen und in
denen wir leben, guttun. Epikurs Philosophie entstand in einer Zeit,
als Athen seine Macht als Stadtstaat verlor und die freien Athener
Bürger ihre Rechte einbüßten. Die ständige Angst vor neuer Schikane und
göttlichem Zorn veranlasste Epikur dazu seine Theorien von Göttern
unabhängig zu machen (diese verlebten ihr Leben in völliger
Glückseligkeit in der Zwischenwelt ohne die Menschen zu beeinflussen
oder zu strafen) und nur das eigene Wohl eines jeden Einzelnen in den
Mittelpunkt zu rücken. Das Sich-von-der-Angst-losmachen, das Streben
nach Freude durch die Erkenntnis der Welt durch seine Sinne und die
Loslösung aus gesellschaftlichen Zwängen, bildeten das Zentrum von
Epikurs Philosophie der Freude. - Heute könnte sie wichtiger sein denn
je. Über uns allen schweben Ängste - Verlustängste. Wir befürchten
Krisen, Kriege, Katastrophen, die Entwertung unseres Geldes und den
Verlust unserer hart erarbeiteten Lebensqualität. Unsere zornigen Götter
mischen noch immer unsere Gemüter auf; nur ihre Gestalt hat sich
gewandelt. Komfort und Entertainment sind uns alles - wir sind uns
nichts.
Das alleinige Denken in Wirtschafts- und
Gesellschaftskategorien macht uns unempfänglich für Momente
lohnenswerter Lebensäußerungen. Seien dies das Beieinandersitzen bei
einer Tasse Kaffee, ein drittklassiger (und in verschiedener Menschen
Augen erstklassiger) Sonnenuntergang oder das Lesen eines guten Buches.
Hier treffen Epikur und Pfaller wieder zusammen: Mit ein bisschen
Anstrengung lohnt sich das Leben.
Ob nun Epikur recht hat, der die geistige Freude als eine
individuelle definiert, oder Pfaller, der unsere Geselligkeit und damit
die Empfänglichkeit für authentisch Lohnenswertes wieder erstarkt sehen
will, bleibt in meinen Augen einem jeden Leser überlassen. Philosophien
sind nie ein Zwang und müssen sich auch nicht immer einem
Masseninteresse beugen - sie sollen uns nur inspirieren. Und in diesem
Falle inspiriert uns die Philosophie zu einem freudvolleren,
lohnenswerten Leben mit Maß und Genügsamkeit!
Vielleicht ist gerade die Fähigkeit zwischen Schmerz und Freude unterscheiden zu können, die Schnittstelle an der ein Mensch über sein Glück oder Unglück entscheidet. Denn auch ein Gefühl des Schmerzes kann von uns in ein Gefühl von Glück verwandelt werden. Dafür allerdings bedarf es Einfühlungsvermögen in einen selbst, Ruhe und Zeit.