Ende Februar diesen Jahres treffe ich Isabella Vértes-Schütter in der Intendanz des Ernst-Deutsch-Theaters. Das Gespräch bei Kaffee und Keksen über Theater, Aberglauben und Dramaturgie ist so interessant, dass ich es nicht nur in gekürzter Form in der Festivalzeitung "SPOT" (Schülertheaterfestival "theater macht schule" in Hamburg) abdrucken möchte, sondern auch hier.
Tobias Lentzler: Das EDT hat ja eine eigene Jugendsparte mit verschiedenen
Jugendtheatergruppen. Worauf legen Sie dort wert? Ist das schon eine Art
Talentschmiede oder geht es hierbei auch darum Jugendlichen die Freude am
Theater zu vermitteln?
Isabella Vértes-Schütter: Als ich 1995
Intendantin des EDT wurde, haben wir begonnen darüber nachzudenken, was wir
Jugendlichen anbieten können. Zunächst haben wir Produktionen für Jugendliche
erarbeitet, sind später auch in die Schulen gegangen und haben dort
Klassenzimmer-Stücke gezeigt. In der Auswertung dieser Projekte haben wir dann
gemerkt, dass diese Angebote gar nicht das Wesentliche sind: Wir wollten
eigentlich Jugendlichen den Theaterraum anbieten, der dann als Ort zum
Ausprobieren eigener kreativer Möglichkeiten hätte genutzt werden können. Aus
dieser Idee hat sich unsere Jugendsparte und 2003 das
„plattform“-Jugend-Festival entwickelt. Dieses Festival ist heute die zentrale
Jugendarbeit, die wir anbieten.
Tobias Lentzler: Sie haben eben bereits gesagt, dass es Ihnen wichtig ist
Jugendlichen das Theater als Entfaltungsraum zu geben. Wie wichtig ist Theater
2012 denn generell?
Isabella Vértes-Schütter: Ich glaube die
Situation von Theater hat sich in Metropolen schon verändert. Früher war das
Theater das Forum in dem alle gesellschaftlichen Themen diskutiert wurden.
Heute kann es das immer noch sein, doch das Theater ist nicht mehr so selbstverständlich
im Zentrum der Gesellschaft, wo es früher angesiedelt war. Ein Theater muss
heute anders auf sich aufmerksam machen, aber nach wie vor ist es ein Ort an
dem man die Gesellschaft in besonderer Weise spiegeln und in Frage stellen
kann. Man kann Gegenmodelle entwickeln und es ist ein ganz wesentlicher
Spielraum für unsere Gesellschaft. Diese ist heute ja sehr auf das
Funktionieren in bestimmten Zusammenhängen ausgerichtet! Es ist ein wichtiger
und wertvoller Ort. Gerade für junge Menschen. Denn dort können sie ihre Fragen
stellen und wir können uns diese Fragen stellen lassen.
Tobias Lentzler: Das heißt also, dass das Konzipieren von Geschichten wie sie
das Theater schreibt eine andere Sicht auf unsere Gesellschaft vermittelt. „Geschichten
bauen – Dramaturgie“ ist ja auch das Thema des diesjährigen tms-Festivals. Was
verbinden Sie persönlich denn mit dem so genannten roten Faden in einem Stück?
Isabella Vértes-Schütter: Mir ist es auch
wichtig im Theater Geschichten zu erzählen. Das kann aber durch unterschiedliche
Arten von Dramaturgie geschehen. Es kann sein, dass man einfach chronologisch
eine Geschichte erzählt, es kann aber auch sein, dass man durch
unterschiedliche Zeiten und Welten springt. Unsere Zeit ist in diesem Punkt ja
auch sehr viel assoziativer. Wir leben mit ganz vielen Bildern und wir erleben
oft, dass vor allem bei einem jüngeren Publikum der narrative „rote Faden“ an
Bedeutung verliert. Manchmal sind da dann andere Assoziationsfelder viel
wichtiger.
Tobias Lentzler: Zum Beispiel?
Isabella Vértes-Schütter: Zum Beispiel
Bildwelten und Zitate an die man anknüpft. Auch Erlebnis- und Gefühlswelten,
die uns auf unterschiedlichen Sinnesebenen erreichen sind wichtiger.
Tobias Lentzler: Fällt Ihnen ein Stück ein, dass diese Kriterien am besten
umsetzt oder hängt das immer mit den Schauspielern, der Regie, den Masken- und
Kostümbildnern zusammen?
Isabella Vértes-Schütter: Manchmal ist die
Grundlage kein fertiges Stück. Manchmal nimmt man bloß eine Stoffentwicklung
vor oder ein Thema, welches man auf eine bestimmte Weise erzählen möchte. Die
eine Frage ist: „Was wählt ein Autor?“ für eine Erzählweise? Und die andere
Frage ist: „Welche Erzählweise wählen wir? Gibt es da wohlmöglich Widersprüche?
Wollen wir die Geschichte vielleicht anders erzählen?“- Die Antworten auf
solche Fragen sind im Theater immer Entscheidungen an denen ganz viele Menschen
beteiligt sind. Man muss nur dazu kommen, dass es eine gemeinsame Idee gibt und
alle an einer gemeinsamen Sache arbeiten. Dazu gehört natürlich ein Dramaturg,
ein Autor, wenn er noch lebt, das Regieteam, die Bühnen- und Kostümbildner und
alle Menschen, die diesem Gewerke zuarbeiten. Im Grunde genommen ist das ein
riesiger Kommunikationsprozess. – Das macht Theater ebenfalls besonders:
Unglaublich viele Menschen sind an dem Ergebnis – dem Stück – beteiligt. – Das
Wichtige ist das Vertrauen in den Prozess, weil Theater etwas sehr
Prozesshaftes ist. Irgendwann gibt es ein Ergebnis, welches man sich anschauen
kann, doch auch das ist ja immer wieder unterschiedlichen Einflüssen
ausgesetzt. Sei es die Interaktion mit dem Publikum oder die Veränderung eines
Stückes nach einer Aufführung. Wir leben ja in einer sehr ergebnisorientierten
Gesellschaft. Oft kommt dabei die Wertschätzung von Prozessen viel zu kurz!
Tobias Lentzler: Heißt das, dass Theater eher prozessorientiert sein soll?
Isabella Vértes-Schütter: Ich finde, dass ist
das Spannende am Theater! Wenn man es von der kommerziellen Seite betrachtet,
ist vermutlich das Ergebnis wichtiger mit dem man Geld verdienen möchte, aber
das Spannende am Theatermachen ist der Prozess, wie ich finde!
Tobias Lentzler: Ich habe mich ein bisschen in Ihre Vita eingelesen. Sie sind
Intendantin, waren beziehungsweise sind Schauspielerin, sind Ärztin und
Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete. Wo bleibt denn für Sie da noch Zeit sich
privat mit Opern, Theaterstücken und Konzerten auseinanderzusetzen? Oder fasst
Ihre Arbeit die Auseinandersetzung mit ein?
Isabella Vértes-Schütter: Die Trennung zwischen
Arbeit und Freizeit ist für mich etwas sehr Künstliches. Meine Arbeit ist
wahrscheinlich etwas, was ich gerne tue. Ich gehe gerne ins Theater, ich gehe
auch in viele Konzerte und Ausstellungen. Das was ich da erlebe, hat natürlich
direkte Auswirkungen auf meine Arbeit am Theater. Ich bin wahrscheinlich
einfach da unterwegs, wo mich etwas interessiert.
Tobias Lentzler: Sie haben es eingangs bereits erwähnt – Sie sind seit 1995
Intendantin des EDT. Wie viel Friedrich Schütter steckt denn heute noch in
Ihrem Theater und was hat sich seitdem verändert?
Isabella Vértes-Schütter: Ich glaube es steckt
ganz viel von dem Geist Friedrich Schütters in diesem Theater. Das hat damit zu
tun, dass der Gründungsgedanke des Theaters ganz viel mit dem zu tun hatte, was
wir heute mit unserer Jugendsparte machen. Es ist bloß eine andere Zeit
gewesen! Es war die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wo alle kulturell
ausgehungert waren. Friedrich Schütter und denen, die mit ihm gestartet sind,
ging es darum, dem Nachwuchs eine Bühne zu geben und Stoffe auf die Bühne zu
bringen, die lange verboten waren. Das war schon innovativ! Später ist das Haus
mit ihm natürlich auch älter geworden. Es haben sich einige Sehgewohnheiten
eingeschlichen. Manche Sachen sind, glaube ich, einfach nicht mehr in Frage
gestellt worden. Was wir dann versucht haben, ist zu gucken wo unser Aufbruch
ist. Es gibt da immer neue Ansätze. Die Jugendsparte war so ein Aufbruch. Jetzt
versuchen wir gerade eine Kooperation mit einer freien Gruppe – auch ein neuer
Aufbruch. Ich glaube man muss immer schauen, wo man neu aufbrechen kann und wo
man sich mit Menschen verbindet, die tatsächlich etwas Neues versuchen wollen!
In den Jugendklubs ist das zum Beispiel mit der Gruppe „Inperspekt“ gelungen,
die wirklich eine neue Kunstform erforscht und kreiert hat. Das sind inzwischen
ganz tolle Künstler, die hier am Haus arbeiten! – Vielleicht kommt irgendwann
ein Zeitpunkt an dem man merkt, dass man keine neuen Antworten mehr findet.
Dann müssen eben Jüngere ran! (lacht) Die Impulse, die wir auch von „tms“
mitbekommen sind wichtig! Es ist wichtig Jugendlichen Eingang in die Welt des
Theaters zu gewähren.
Tobias Lentzler: Haben Sie spezielle Erwartungen mit denen Sie in das
Festival gehen?
Isabella Vértes-Schütter: Neugier. – (überlegt)
Sie hatten vorhin noch nach einer „Talentschmiede“ gefragt. Eigentlich ist
unsere Jugendsparte so aufgebaut, dass wir versuchen für alle Jugendlichen
zugänglich zu sein. Die Frage ist immer wer den Weg hierher findet! Ich glaube
man muss einen bestimmten Weg hinter sich bringen, damit man überhaupt den Weg
in eine Theatergruppe findet. – An den Schulen wo wir Jugendgroßprojekte
anbieten, versuchen wir darauf zu achten, dass es an den ausgewählten Schulen
nicht schon ein großes, kulturelles Angebot gibt. Wir möchten, dass auch
Jugendliche, die noch nie im Theater waren Theater kennenlernen! – Auf der
anderen Seite entwickelt sich in den Jugendklubs natürlich auch eine eigene
Sprache. Ich denke die Gruppe „Inperspekt“ ist schon eine Talentschmiede.
„Inperspekt“ ist unser Medienjugendclub. Die Meisten aus dieser Gruppe wollen
gerne in diesem Bereich arbeiten. Es ist wirklich erstaunlich, was junge
Menschen für eine Leistung erbringen! Das sind nicht immer die, die in der
Schule besonders erfolgreich sind. Schule fördert viele Talente nicht
ausreichend. Theater hat die Chance das Potenzial vieler Jugendlichen zu
fördern.
Tobias Lentzler: Wie kann mich denn aber Theater faszinieren, wenn ich
relativ offen bin, aber keinen Zugang zu diesem Medium habe? Das ist heute ja
oft der Fall! Gibt es da einen Weg?
Isabella Vértes-Schütter: Ich würde mir
wünschen, dass die Lehrpläne da anders aufgestellt wären. Die Klassen sollen
ein Theater nicht besuchen, weil sie einen bestimmten Stoff im
Deutschunterricht bearbeitet haben. Man müsste wie in England festlegen, wie
oft jede Stufe in Theater, Konzerte oder Ausstellungen geht. Das ist hilfreich
diese Orte kennenzulernen und zu begreifen, dass ich von diesen Orten etwas
habe! – Viele Jugendliche haben hier eine große Schwelle. Ich glaube der beste
Weg ist es selber gemacht zu haben! Deswegen ist tms toll! Wenn man selber auf
einer Bühne gestanden hat, hat man eine ganz andere Möglichkeit das Gesehene zu
reflektieren.
Tobias Lentzler: Ich habe mir mal wahllos drei Aussagen herausgesucht, die
alle etwas mit Theater zu tun haben. Vielleicht sagen Sie einmal mit einer
kurzen Begründung, ob die zutreffen oder nicht.
1.) "Theaterspielen
macht abergläubisch.“
Isabella Vértes-Schütter: (lacht) Theaterspielen
nicht. Aber es gibt in vielen Theatern einen bestimmten Aberglauben. Dass man
montags nicht mit dem Proben anfangen sollte, dass man auf der Bühne nicht
essen sollte, dass man nicht pfeift im Theater. Da gibt es eine ganze Menge an
Überlieferungen und ich würde das auch nie im Theater tun!
Isabella Vértes-Schütter: Für mich gibt es nur
ein Leben im Theater. (lacht) Als Schauspielern betrachtet würde ich aber
sagen, dass man in eine Figur einsteigen – und auch wieder aus ihr aussteigen
kann. Das gehört zur Profession des Schauspielers. Alles andere ist weder für
die schauspielerische Leistung, noch für die eigene Seele gut.
3.) Tankred
Dorst hat einmal gesagt: „Theater wird meistens gar nicht so sehr für das
Publikum gemacht, sondern für die reisenden Kritiker.“
Isabella Vértes-Schütter: Hm. Das ist vielleicht
ein Auswuchs des Subventionstheaters. Das kann schon sein. Mich bewegt das
allerdings nicht so. Ich glaube, man muss Theater aus einer inneren
Notwendigkeit heraus machen. Wenn man keine Geschichte zu erzählen hat, dann
sollte man auch keine erzählen! Man muss erzählen wollen. Es gibt auch
Geschichten bei denen wir sagen, dass wir sie machen müssen, obwohl sie den
Leuten vielleicht nicht gefallen! Es ist aber mindestens so schädlich Theater
für reisende Kritiker zu machen, wie Zuschauern bei der Stückwahl nach dem
Munde zu reden! Es ist unsinnig Theater am Publikum vorbeizumachen. Man braucht
die Interaktion mit dem Publikum. Geschichten erzählen und sie niemandem
erzählen zu wollen, ist ja auch absurd! In erster Linie muss es aber eine
künstlerische Notwendigkeit geben etwas auf die Bühne zu bringen. Wenn es
beliebig ist, was auf der Bühne gespielt wird, dann brauchen wir uns nicht
darüber zu wundern, dass es niemanden interessiert. Daher muss die Kraft
kommen!
Tobias Lentzler: Trotzdem sieht man sich von Kritikern beeinflusst, nicht wahr?
Isabella Vértes-Schütter: Ich glaube, dass es zu
dem Theater gehört sich auszusetzen. Man setzt sich dem Publikum und der Kritik
aus! Es gehört auch zur Professionalität dazu dass man lernt damit umzugehen.
Ohne Verletzungen geht das nicht.
Tobias Lentzler: Um noch einmal einen Bogen zu der Prozesshaftigkeit von
Theater von der Sie vorhin sprachen, zu spannen: Heißt das, dass ein Stück noch
nicht abgeschlossen ist, wenn es auf die Bühne gelangt? Es gibt danach ja
Kritiken und Publikumsreaktionen.
Isabella Vértes-Schütter: Eigentlich ist es nie
abgeschlossen. Es gibt Theaterformen, die sehr festgelegt sind – zum Beispiel
Musicals, aber so wie wir arbeiten, ist das nie zu Ende! Bei uns ist eine
Premiere sicherlich eine andere Vorstellung als die Letzte. Wenn es einen guten
Prozess gibt, dann muss das so sein!
Tobias Lentzler: Letzte Frage: Was ist Ihre erste Erinnerung ans Theater?
Isabella Vértes-Schütter: Mit drei Jahren habe
ich im Zuschauerraum der Staatsoper gesessen und meine Mutter, Helga
Pilarczyck, hat gesungen und ein Bühnenkind auf dem Arm gehabt und ich dachte
bloß: „Da möchte ich hin!“ (lacht)
Tobias Lentzler: Es ist Ihnen offensichtlich gelungen! Vielen Dank für das
Gespräch!