21 November 2023

Essay: Verlust und Versprechen. Über Hoffnung in der Politik.

Hoffnung ist ein vieldeutiger Begriff. Wir hoffen auf eine bessere Zukunft für unsere Kinder, das Siegtor unserer eigentlich unterlegenen Fußballmannschaft, aber auch auf eine friedlichere Welt. Sie ist die Triebfeder der Utopie. Gerade in global aufgerauten lohnt es sich, den Begriff einmal genauer zu betrachten. 
 
Hoffnung als Begriff genau zu beschreiben, ist ähnlich vergeblich wie zu versuchen, Rauch mit den Händen zu einfangen. Kaum hat man die Umrisse ausgemacht, verflüchtigt er sich auch schon wieder, tritt in anderer Gestalt auf. Was bleibt, ist ein vages Gefühl, eine Ahnung, wenn man darüber nachdenkt.

Hoffnung verbindet Wunsch und Wirklichkeit über einen Gegenstand, auf den sie sich richtet – und das auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Ein Astronaut hofft kurz vor dem Start seiner Rakete ebenso darauf, heil zurück zur Erde zu kehren, wie Eltern darauf, dass ihre Kinder es einmal besser haben mögen als sie oder der Fußballfan auf ein Siegtor seiner eigentlich unterlegenen Mannschaft. Von einer Situation des Jetzt wird ein banger Blick in Richtung Zukunft geworfen: Was wird sein? Und: Wie wird es sein? – Diese Fragen richten Menschen an sich selbst; vor allem aber auch an die Politik. Darauf Antworten zu finden und die Erwartungshorizonte von Menschen zu strukturieren, ist in Gesellschaften im Wandel eine der vordringlichsten Aufgaben von Politikern.

Schaut man auf unsere Gegenwart, gibt es zunächst wenig Anlass für Optimismus. Kaum ein Bereich menschlichen Zusammenlebens, der nicht von großen Erschütterungen betroffen wäre. Der vom Menschen verursachte Klimawandel beschleunigt Dürren, entfesselt Stürme, macht ganze Regionen unwirtlich. Die Weltbank rechnet bis 2050 mit bis zu 216 Millionen Klimaflüchtlingen, die innerhalb ihrer jeweiligen Heimatländer dazu gezwungen werden, umzusiedeln.

In der Politik folgt derzeit eine Krise in hoher Taktung auf die nächste: War es gestern noch die Corona-Pandemie, welche die Welt für einen kurzen Moment anhielt und dann für eine lange Weile nicht mehr losließ, sind es nun der brutale Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt oder der schreckliche Terrorangriff, den die Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel verübte. Die Bilder aus Butscha, Mariupol oder Bachmut, die verwackelten Aufnahmen von Hamas-Terroristen, die wehrlose Menschen auf einem Open-Air-Festival erschießen oder entführen, haben international namenlose Bestürzung ausgelöst. Wo soll es hier Raum für Hoffnung geben?

Es ist dies vielleicht die tröstlichste Eigenschaft der Hoffnung, dass sie den Menschen selbst in seinen dunkelsten Stunden nicht verlässt. Sie ist so etwas wie der warme E-Dur-Akkord des Beatles-Songs „A Day in the Life“, der sich aus dem orchestralen Chaos des Finales schält und über vierzig Sekunden lang andauert. Er trägt den Hörer über das Lied hinaus. Vielleicht lässt sich Hoffnung am ehesten in diesem Bild fassen.

Sie erscheint eng verwoben mit dem Glauben an Fortschritt. Dieser wiederum ist ein Versprechen der Moderne und wurde von Politikern beinahe jeder Couleur immer wieder gegeben. Für den deutschen Soziologen Andreas Reckwitz ist dieses Versprechen durch die diversen Krisen der vergangenen Jahre inzwischen „brüchig“ geworden, wie er dieses Jahr in einem Interview (vor dem Terrorangriff der Hamas) mit der Neuen Zürcher Zeitung sagte. Unter dem Einfluss von Krisenerfahrungen würden sich Fortschritts- und Verlusterfahrungen neu austarieren.

In seinem letzten, unvollendet gebliebenen Projekt wollte sich der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch mit der „Erlösung im Zurück“ befassen. In seiner Projektskizze, die auf der Website des ZfL abrufbar ist, hält er eine besondere Dialektik der Verlusterfahrung fest. So sorge sie zum einen dafür, dass Menschen sich einer „Goldenen Vergangenheit“ zuwendeten, um einen „heilen Urzustand der Menschheit“ wiederherzustellen, zum anderen sei gerade dieses Bestreben auch der Kern des Fortschrittsdenkens. Damit ist Schivelbusch sehr nah bei Ernst Bloch, der schrieb, dass das „Es war einmal“ in Märchen „nicht nur ein Vergangenes, sondern [auch] ein bunteres oder leichteres Anderswo“ bedeute. Hier offenbart sich die Tragweite der Hoffnung.

Sie überbrückt das Spannungsfeld zwischen Verlust und Versprechen, Sehnsucht und Erlösung. Sie ist Triebfeder und Richtbild. Sie macht das Undenkbare denkbar, greifbar. Somit ist sie die Wurzel der Utopie. Vielleicht ist es dies, was Bloch meinte, als er schrieb, es komme darauf an, das Hoffen zu lernen. Die Erfahrung der Hoffnung als anthropologische Grundkonstante wäre somit nicht mehr als eine Anbahnungsphase. Das Hoffen lernen hieße, sie gestalterisch, also, produktiv, einzusetzen. Während Angst lähmt, macht Hoffnung leicht: Es wird schon alles nicht so schlimm werden, oder aber: Noch schlimmer kann es nicht kommen.

Lernen heißt in diesem Fall, sich einer eigenen Erfahrung gleichsam mit dem Blick anderer anzunähern und sich so zu neuen Gedanken anregen zu lassen. Aus einer vagen Idee wird ein konkretes Bild, aus scheinbar achtlos hingekritzelten Strichen auf einem Papier, entsteht ein Gesicht.

Was heißt all das für die Politik?

Statt – wie derzeit in verschiedenen Ländern, auch in Deutschland, zu beobachten ist – mit den realen Abstiegsängsten der Menschen zu spielen und aus der Sehnsucht nach einem vermeintlich besseren Gestern eine düstere Antriebsenergie zu ziehen, Menschen gegeneinander auszuspielen und billigen Applaus für populistische Äußerungen einzuheimsen, sollte Politik nie die Kraft unterschätzen, die von der Hoffnung auf ein besseres Morgen ausgeht.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Barack Obama die US-Präsidentschaftswahl 2008 mit zwei Wörtern gewonnen hat. „Hope“ und „Change“ – in Großbuchstaben. Man könnte von sich bedingenden Wörtern sprechen. Ohne Hoffnung gibt es keinen Wandel. Und was wäre Wandel anderes als die (realistische) Umsetzung einer Utopie?

Es lassen sich mit der Hoffnung also Wahlen gewinnen, wenn man ernsthaft und nicht bloß rhetorisch an einer Vision für ein Zusammenleben einer Gesellschaft im Wandel arbeitet.

All das mag wie eine Binse klingen, es mag gar banal erscheinen. Es ist alles andere als das. Hoffnung ist der Schlüssel dafür, aus der Zukunft auf die Gegenwart zu blicken. Diese Perspektive entlehne ich Roger Willemsens nachgelassener „Zukunftsrede“ „Wer wir waren“, die im Jahr seines Todes posthum erschien. Wenn er fragt: „Wer werden wir gewesen sein?“, so antwortet er zunächst scheinbar ohne jede Hoffnung: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst“ (S. 43). Die Tatsache jedoch, dass Willemsen mit einem Blick aus der Zukunft über die Gegenwart nachdenkt, lässt erahnen – der späte Melancholiker Willemsen, war nicht bereit, uns einfach aufzugeben. Er strukturiert nur unsere Erwartungen neu, indem er festhält „[…] die alte Zukunft hat keine Zukunft“ (S. 53). Und genau deshalb müssen wir alles tun, um aus dem, was wir mit dem flirrenden Begriff Hoffnung meinen, ein bunteres, leichteres Anderswo zu machen, um noch einmal Ernst Bloch zu zitieren. Was hätte mehr Zukunft, als das Hoffen wieder zu lernen?