Der Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht ist eine Inspiration für das eigene Denken. Dieser Text ist eine persönliche Annäherung.
Ein Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht ist wie der Gang durch eine weite, verwinkelte Bibliothek. Jede Regalreihe hält neue Überraschungen bereit. Man möchte permanent stehen bleiben, einen alten Folianten oder ein neues, noch druckfrisch duftendes Buch aus einem der vielen Regale ziehen und sich darin versenken. Am Ende eines jeden Streifzuges durch diese Bibliothek ist man ausgestattet mit einem erklecklichen Stapel neuer Bücher, die zu lesen es sich lohnt, und hat einen Notizblock voll neuer Denkansätze und Fragen.
Ich treffe Hans Ulrich Gumbrecht zu einem frühen Frühstück an einem kalten Oktobertag in Mainz. Es ist noch dunkel als wir unser Gespräch beginnen, doch Sepp, wie er sich mir vorstellt, ist hellwach. - Edmund Husserl hat einmal geschrieben, dass der Philosoph immer neuer Beginner sei. Diese Beschreibung scheint mir auf Hans Ulrich Gumbrecht gut zuzutreffen. Es gibt - bemerke ich bei meiner Vorrecherche - kaum ein Thema über das er nicht schon publiziert hat. Er schreibt über Fußball, den Typus neuer Intellektueller im Silicon Valley oder über "unseren Ethik-Hype". Über zweitausend Texte hat er in den letzten vierzig Jahren publiziert; darunter gewichtige Bücher wie "Production of Presence. What Meaning Cannot Convey" oder den phänomenologischen Versuch "In 1926. Living On The Edge Of Time", welches den Leser direkt in das Jahr 1926 entführen soll. - Sepp ruht sich nicht darauf aus originelle Gedanken, die er einst gehabt hat in einem Gespräch zu reproduzieren, sondern lässt sich darauf ein dem Gespräch seinen Lauf zu lassen. Möglich macht dies seine ungeheure Belesenheit. Er ist jederzeit in der Lage Autoren geschickt miteinander zu verknüpfen, Ideen aufzugreifen und so den Denkrahmen abzustecken, in dem wir uns bewegen. Die persönlichen Erfahrungen als Professor in Stanford, dem Ursprung des Silicon Valley, lässt er ebenfalls einfließen und macht seine Gedanken so lebendig. In den anderthalb Stunden, die wir sprechen ist er voll und ganz im Gespräch. Es existiert nur die Gegenwart, alle anderen Termine, die er hat - Seminare, Reisen zu weiteren Vorträgen überall auf der Welt - spielen in dieser Sekunde keine Rolle.
Großen Raum nimmt in unserem Gespräch die Digitalisierung ein. Sepp hat einmal gesagt er lebe dort, wo sich das 21. Jahrhundert ereignet. Liest man diesen Satz einfach so, könnte man schnell auf die Idee kommen er sei - wie im Silicon Valley üblich - mit Überschwang und Euphorie gesagt worden. Doch spricht man mit Gumbrecht, liest seine Texte und vernimmt die Zwischentöne, ist dies zunächst eine bloße Feststellung. Natürlich schwingt eine gewisse Faszination mit, wenn er über Studenten spricht, die binnen weniger Stunden viele Millionen für ein Start-Up einsammeln und am Nachmittag mit Verve und Verstand über Nietzsche oder Heidegger diskutieren, aber gleichzeitig gilt, dass er mit der Digitalisierung weder Hoffnung noch Pessimismus verbindet. "Die Digitalisierung ist so wenig abstellbar wie eine Sonnenfinsternis", sagt er. - Sepp ist, so lese ich seine Bücher und nehme ihn in unserem Gespräch war, ein feiner Beobachter unserer Zeit. Er ist kein Chronist, vielmehr ein Phänomenologe, der Beobachtungen für andere erlebbar macht und ihnen einen intellektuellen Rahmen gibt. Er denkt weit über die ausgetretenen Denkpfade hinaus und erlegt sich keine intellektuellen Scheuklappen auf. Er nennt das "riskantes Denken". - Intellektuelle Provokationen sind fruchtbar. So erzählt er von einem Kollegen, der unter anderem behaupte, George W. Bush sei einer der größten Präsidenten der US-Historie gewesen. Selbst, wenn er kaum glaube, dass dieser Kollege es ernst meine, löse er damit im Idealfall aus, dass andere sich über den Satz Gedanken machen, sagt Gumbrecht.
Dieser Text ist nicht der Ort alle Themen wiederzugeben, die wir miteinander besprochen haben. Diese müssen erst systematisch durchgedacht werden. Der Text ist vielmehr ein persönlicher Versuch sich an das Denken von Hans Ulrich Gumbrecht anzunähern. Basis für seine intellektuellen Gedankenspiele sind - so ist mein Eindruck - eine tiefe Faszination für eine Vielzahl an Themen und vor allem eine tiefgreifende Belesenheit. Gerade in heutigen Zeiten verhindert der Mangel an Belesenheit bei vielen in meinen Augen fruchtbare Diskurse, die über das Austauschen bloßer Befindlichkeiten hinausgehen. Sepps Denken ist mir eine große Inspiration.