06 April 2012

Essay: Alleine, aber niemals einsam.



Dieser Essay entstand im Rahmen einer Philosophiehausarbeit im März 2012. Es geht um die Veränderung von Freundschaften durch soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook.


Es ist schon seltsam. Je mehr Kontakt wir mit unseren Mitmenschen haben, desto weniger echte Freunde haben wir. Zumindest nach der inzwischen vielleicht veralteten, allgemeinen, wenn auch teils unterschiedlich ausgelegten Definition von Freundschaften. Der Hamburger Psychotherapeut Michael Schellberg definierte den Begriff Freundschaft auf „Welt online“ einmal als „exklusive Beziehung“ und als „Liebe mit Verstand“[1]. – In Zeiten von Facebook, Twitter und Co. wird ein hinzugefügter Kontakt sofort als „Freund“ definiert, auch wenn viele dieser Personen einem gerade das erste Mal in seinem Leben über den Weg gelaufen sind. In diesem Essay möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, ob wir den Begriff der Freundschaft aufgrund der Übernutzung des Wortes „Freund“ durch die sozialen Netzwerke neu definieren müssen und was echte Freunde heutzutage leisten müssen, um als solche angesehen und akzeptiert zu werden. Der ethischen Frage nachzugehen, was Freundschaften einem in der heutigen Welt bedeuten sollten, führt in diesem Essay leider zu weit, doch denkbar ist diese Fragestellung als Gegenstand für nachfolgende Essays oder einen Ausbau des Vorliegenden. Philosophisch relevant ist dieses Thema insofern als das Freundschaften in dem Leben eines jeden einzelnen Menschen eine wichtige Rolle spielen. Sie tragen zur Charakterbildung, Herzensbildung und zur Ausbildung einer bestimmten Geisteshaltung bei. Da unser traditioneller Begriff von Freundschaften nunmehr durch die sozialen Netzwerke und die immer schnellere und umfassendere Digitalisierung der Welt infrage gestellt und möglicherweise gar umdefiniert wird, erscheint es notwendig, sich philosophisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Die Neudefinition des Wortes „Freund“
Wer ein Facebook-Konto eröffnet hat zu Beginn keinen einzigen Freund – zumindest in der digitalen Welt. Diese Freunde müssen erst durch einige Klicks hinzugefügt beziehungsweise angefragt werden. Es gilt als unhöflich eine Freundschaftsanfrage auf Facebook abzulehnen und daher nehmen die meisten an. Problematisch ist hierbei nur, dass nicht wie in Google Plus, wo die so genannten „Circles“ die Freundesgruppen in verschiedene Kategorien gliedern, Unterschiede in der Definition der Beziehung zwischen den Menschen, die sich dort miteinander „befreunden“ gemacht werden, sondern jeder gleichbehandelt wird. Ein Freund ist nunmehr also eine bloß schnell hinzugefügte Person, die wir noch nicht einmal näher kennen müssen – es reicht, dass sie in meinem Umfeld lebt oder die gleiche Schule besucht. Der Begriff „Freund“ wird somit umdefiniert. Der alte Wunsch in jeder Lebenssituation von seinen Freunden umgeben zu sein, ist durch Facebook erfüllt worden – wir sitzen alleine vor dem Computer, doch sind dabei niemals einsam wenn wir chatten, mailen oder „facebooken“ können. Andererseits ist diese Freundschaft eine Falsche. Freundschaften bestanden früher aus dem persönlichen Austausch, einer persönlichen Bindung zueinander, einer stimmenden Chemie und sind vor allem Bindungen, die schon eine längere Zeit bestehen – jetzt kann eine Freundschaft durch ein paar digitale Daten oder Versprechungen geschlossen werden. Neue Freunde sind so flüchtig wie die Daten selbst aus denen sie entstanden sind. Denn manchmal treffen sich Personen, die sich auf Facebook unterhalten haben in ihrem echten Leben, erkennen sich nicht, haben sich nichts zu sagen oder beachten einander einfach nicht. Die Neudefinition des Wortes Freund ist also: „Eine durch einen kurzen Klick erworbene real existierende Figur, die mich kennt, über mich gehört hat oder durch eine persönliche Angabe in einem sozialen Netzwerk an mich gebunden ist.“ Das Wort Freund hat somit eine Umdeutung erfahren.

Was echte Freunde leisten müssen.
Wie etwas weiter oben schon angedeutet, definieren sich echte Freundschaften auch durch den Faktor Zeit. Eine Person, die ich im wirklichen Leben kennengelernt habe, wird durch die Zeit, die man sich kennt, im Idealfall an mich gebunden sowie ich an sie gebunden werde und wird somit ein Freund. In einer Welt, wo Beziehungen immer oberflächlicher werden und wir unser Leben dem schnellen Datenfluss anpassen, bekommt das Warten, das Halten einer Bindung eine neue und entscheidendere Bedeutung. Eine Freundschaft basiert auf Zeit. Und jene muss man sich geben. Echte Freunde müssen also Zeit füreinander aufwenden. Zusätzlich müssen echte Freunde von der digitalen Selbstdarstellung des Freundes absehen können und dürfen ihn nicht nur nach „Online-Kriterien“ werten. Was selbstverständlich erscheint, wird oft genug untergraben. In einem jeden jugendlichen Erfahrungskreis ist es schon vorgekommen, dass Missverständnisse, die online entstanden sind, einen Einfluss auf die reale Beziehung zwischen Freunden hatten. Gibt man „Missverständnisse online“ bei google ein, erhält man über 1,79 Millionen Ergebnisse.[2] Des weiteren müssen Freundschaften traditioneller Art ihren traditionellen Charakter bewahren. Geheimnisse dürfen nicht erzählt- und Freunde nicht belogen werden. Sie müssen füreinander da sein, miteinander lachen und miteinander streiten können ohne, dass dabei die Freundschaft entzwei geht. Es lässt sich also sagen, dass Freundschaften in der heutigen Welt vor allem um den vorangigen Faktor Zeit erweitert wurde. Hinzu kommt, dass sich Freunde darüber bewusst sein müssen, dass die Online-Darstellung nicht immer der wirklichen Darstellung gleicht. Daher sind persönliche Treffen noch wichtiger als vor einigen Jahren. Das Berühren, der Augenkontakt und die echte Stimme, binden Menschen aneinander und machen sie einem vertrauter.

Abschließend lässt sich sagen, dass echte Freundschaften in der heutigen Welt durch die vielen Informationen und persönlichen Daten, die wir über uns veröffentlichen, fragiler geworden sind, weil viele Menschen lediglich die Online-Darstellung eines Anderen werten. Zu dem wichtigen Prozess des Kennenlernens und des Treffens voneinander ist also noch gekommen, dass man zwischen der Online-Darstellung und der wirklichen Wirkung einer Person unterscheiden muss. Dieses Erkennen der Unterschiede in der jeweiligen Darstellung erfordert Zeit.
Das Wort „Freund“ hat durch Facebook und Co. eine Umwertung beziehungsweise Neudefinition erfahren – diese Freunde kann man schnell loswerden. Doch echte Freunde sind aneinander gebunden. Man wird sie nicht so schnell los – und man sollte sich überlegen, ob man sie überhaupt loswerden will!