Kaum ein Begriff wird gegenwärtig so hitzig debattiert wie der des Populismus. Er ist Ausdruck einer Re-Politisierung des öffentlichen Lebens. Allein, seine Antworten sind unzureichend, gestrig und allzu oft anti-demokratisch. Wer Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit - den menschengemachten Klimawandel, Weltarmut oder inter- und intranationale Ungleichheit - geben will, muss einen Blick über den Nationalstaat hinauswerfen. - Die hier entwickelten Gedanken nehmen zum Teil Bezug auf meine Masterarbeit "How Populism Can Contribute to Forming a World State - A Cosmopolitan Argument", die ich am 04. Oktober 2019 an der Universität Witten/Herdecke eingereicht habe.
Unsere Gegenwart ist, wer würde dies bestreiten wollen, höchst politisch. Wir erleben Grabenkämpfe zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten, zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten, zwischen den Generationen. Die Themen sind mannigfaltig, die Gemüter erhitzt.
Gerade in der Art und Weise wie Argumente ausgetauscht werden zeigt sich, dass wir uns an einem kritischen Punkt befinden. Offenheit und Dialogbereitschaft werden als Werte der Stunde gehandelt - wirklich danach handeln, scheinen die meisten jedoch eher in einem behüteten, vertrauten Umfeld. Vor allem in digitalen Sphären regieren Zuspitzung und Konfrontation.
Dieser Umstand macht es nahezu unmöglich sich dem Mahlstrom der Stellvertreter-Debatten zu entziehen. Zu oft sind empörenswerte Äußerungen, Einzelbeobachtungen oder Trump-Tweets Gegenstand eines Reigens an Gegenreden, Artikeln oder Kurznachrichten. Das "große Ganze" gerät dabei allzu oft aus dem Blick. Damit ist nicht gemeint, dass Einzelfälle nicht zu diskutieren seien, dass sie zu vernachlässigen oder zu ignorieren seien; vielmehr soll damit darauf hingewiesen werden, dass diese Debatten allzu selten zum Kern des jeweils verhandelten Gegenstandes vordringen und vor-politisch sind.
Im Zusammenhang mit Forschungsprogrammen hat Imre Lakatos einmal von einem "harten Kern" und einer Reihe von Hilfsannahmen gesprochen, die wie ein Schutzgürtel um eine Ansammlung von Theorien liegen, die das Innere des Forschungsprogrammes ausmachen. Wenn wir das Programm prüfen, so werden zunächst die Hilfsannahmen desselben widerlegt (die im Anschluss durch neue Hilfsannahmen ersetzt werden können); nicht aber der Kern des Programms. Ob ein Programm schlussendlich für "progressiv" (und damit für gute Wissenschaft) oder "degenerativ" (und damit für schlechte Wissenschaft) befunden wird, lässt sich dadurch feststellen, ob es neue Fakten oder Vorhersagen ermöglicht.
In Bezug auf den Gegenstand dieses Essays ist dieser Gedanke in zweierlei Hinsicht produktiv: Zunächst macht er deutlich, dass Stellvertreter-Debatten notwendigerweise zur Erörterung eines bestimmten Gegenstandes gehören, zum anderen zeigt er aber auch, dass wir an diesem Punkte nicht aufhören können - was wir gegenwärtig allzu oft tun.
Ob eine Debatte uns gesellschaftlich voranbringt, lässt sich nur feststellen, indem wir zu ihrem Kern vordringen und prüfen, ob sie neue Erkenntnisse und damit politische Handlungen hervorbringt. - Folgende Einschränkung sei hier angemerkt: Natürlich unterscheiden sich wissenschaftliche Forschungsprogramme von gesellschaftlichen Debatten. Der von mir gezogene Vergleich trifft also mit Sicherheit nur cum grano salis.
Dies vorausgeschickt, wage ich folgende These: Populismus ist nicht vordringlich eine Reaktion auf die unbefriedigenden Lebensumstände bestimmter Bevölkerungsgruppen; er ist auch nicht nur Ausdruck von Unsicherheit und Entwurzelung in Zeiten der Globalisierung mit all ihren Folgen. Populismus ist in meinen Augen vor allem Ausdruck eines unzureichenden Legitimitätsbegriffs unserer Gegenwart. Legitimität verstehe ich nach Joseph Raz als "Rechtfertigung von politischer Autorität".
Demokratische Politikerinnen und Politiker stehen heute vor der Herausforderung, Gesetze, Regeln oder Absprachen, die auf internationaler und supranationaler Ebene getroffen wurden, in ihren jeweiligen Nationalstaaten zu rechtfertigen. Dadurch, dass internationale und supranationale Institutionen jedoch nicht ausreichend legitimiert sind, die Ausübung ihrer Autorität also nicht immer vollständig zu rechtfertigen ist, entsteht eine Spannung zwischen dem Souverän, also den Bürgerinnen und Bürgern und denjenigen, die in ihrem Sinne handeln sollen.
Dieser Spannung bedienen sich Populisten: Sie behaupten, dass Politiker den "Willen des Volkes" (den sie als uniform ansehen) nicht ausreichend repräsentieren würden und nur einer kleinen "Elite" (wie auch immer sie geartet sein möge) dienstbar seien. So lässt sich leicht eine "Wir gegen die"-Situation schaffen, die Populisten kreieren, um sich selbst als die wahren "Vertreter des Volkes" zu inszenieren. Boris Johnson oder Donald Trump tun dies, indem sie sich (oft recht erfolgreich) über gefestigte Institutionen hinwegsetzen und an ihnen "vorbeiregieren". Auf internationaler Ebene steigen sie so aus Verträgen aus (die USA z.B. aus dem INF-Vertrag oder dem Pariser Klimaabkommen), auf nationaler Ebene setzen sie - wenn nötig - das Parlament aus (wie Johnson im Vereinigten Königreich).
Es ist ein Trugschluss demoraktischer Politikerinnen und Politiker den Blick nun wieder verstärkt nach innen zu wenden, vor den Folgen einer zu schnellen europäischen Integration zu warnen oder nationale Interessen wieder stärker in den Mittelpunkt ihres Tuns zu rücken.
Da das Legitimitätsdefizit auf internationaler und supranationaler Ebene entstanden ist, muss an dieser Stelle dafür gesorgt werden, dass sich diese erhöht. Meiner Meinung nach kann dies nur funktionieren, wenn wir auf Basis des existierenden UN-Systems Reformen anstreben, die auf den Prinzipien der Partizipation (durch zunehmende Bürgerbeteiligung z.B. durch Wahl eines Weltparlamentes), Stabilität (in Form einer globalen Verfassung) und zugleich Flexibilität (erreicht durch dynamische Gesetzgebung in Form von ständiger Re-Evaluierung der bestehenden Gesetze) sowie Subsidiarität beruhen.
Stellvertreter-Debatten können uns einen Hinweis darauf geben, wo genau die Politik ansetzen kann; sie dürfen allerdings nicht - wie gegenwärtig - den Blick auf das wahre Problem der global zu denkenden Politik im 21. Jahrhundert verstellen.