George Bernard Shaw und Stella Patrick Campbell schrieben über vierzig Jahre Briefe aneinander. Sie formten ihre Gefühle mit Worten, begeisterten und verfluchten einander und vergaßen niemals, dass diese Briefe eines Tages an die Öffentlichkeit gelangen würden. Am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg ist noch bis zum 18.05. die herausragende Brief-Adaption "Geliebter Lügner" von Jerome Kilty sehen.
Zugegebnermaßen - ganz taufrisch ist das Stück "Geliebter Lügner" von Jerome Kilty, der
1922 geboren wurde, nicht mehr. Seit mehr als fünf Jahrzehnten wird es
die Bühnenwelt hinauf- und heruntergespielt, verliert jedoch nie an
seiner Wortgewalt, seinem Witz und seiner Tragik. Dass liegt nicht nur
daran, dass Kilty es versteht die Briefe von dem großen irischen
Dramtiker George Bernard Shaw (am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg gespielt von Peter Franke) und der Ende des 19.Jahrhundert als große Schauspielerin gefeierten Stella Patrick Campbell (herausragend besetzt mit Thekla Carola Wied)
klug auszuwählen und ihnen erklärende oder bonmonthaltige Dialoge
beizufügen, sondern auch daran, dass Shaw und Campbells Briefe
Meisterwerke sind. Ist Shaw oft der von seinem eigenen Ruhm besessene
und zutiefst eitle Grantler mit Witz, schreibt Campbell oft das Innerste
ihrer Künstlerseele an ihren Brieffreund.
Die Besonderheit der Beziehung zwischen Campbell und Shaw wird an
diesem Abend im Ernst-Deutsch-Theater brillant herausgearbeitet. Thekla
Carola Wied und Peter Franke sitzen zumeist an ihren Schreibtischen, die
am linken beziehungsweise rechten Rand der Bühne stehen und lesen die
Briefe aneinander laut vor. Dass dieses zunächst einfallslos wirkende
Regiekonzept von Wolf-Dietrich Sprenger fabelhaft
aufgeht, wird erst deutlich, wenn Franke oder Wied sich vor Empörung von
ihren Schreibtischen erheben, einander am Theater treffen oder die
Briefe mit aussagekräftigen Videoprojektionen unterlegt werden. Franke
und Wied scheinen auf der Bühne um Jahrzehnte zu altern - so wie es
Campbell und Shaw in ihrer über vierzigjährigen Brieffreundschaft taten.
Shaw steigt zu Weltruhm auf, erhält im Jahr 1925 den
Literaturnobelpreis und 1939, ein Jahr vor Stella Patrick Campbells Tod
in Frankreich, einen Oscar für das beste adaptierte Drehbuch, während
Campbell, einst gefeierte Schauspielerin und Broadway-Star unter ihrem
Alter leidet und immer weniger von ihrem einstigen Ruhm leben kann. Oft
wird sie krank und stirbt mehr oder weniger mittellos.
Shaws und Campbells Briefe machen diese Entwicklung nur
unterschwellig deutlich. So klar und gewitzt, so harsch und bestechend
die Schriftstücke formuliert sind, ist es für den Zuschauer ein Akt der
geistigen Mitarbeit nachzuvollziehen in welchen Lebenssituationen sich
die beiden Schöpfer dieser Briefe zum jeweiligen Zeitpunkt befanden.
Kilty löst das in seinem Stück mit Jahreszahlen, die immer wieder
beiläufig vorgetragen werden.
War Stella Patrick Campell für den älteren George Bernard Shaw am
Anfang ein Vorbild und eine Muse (sie inspirierte ihn zu seinem weltweit
bekannten Stück "Pygmalion" und war in einem post-viktorianisch
verklemmten Großbritannien sein Objekt der Begierde), so wird Shaw über
die Jahre immer mehr zu Campbells Vorbild. Sein Erfolg und seine
Lebensfreude, seine Gedanken und sein Talent zum Schreiben begeistern
sie. "Geliebter Lügner" und "Clown" nennt sie ihn in ihren Briefen,
schwärmt und giftet ihn an, verflucht ihn, um ihn gleichzeitig wieder
sehnsüchtig herbeizurufen.
In Kiltys Stück wird der Zuschauer Teil einer komplizierten und
herzzereißenden Liebesgeschichte. Es sind Briefe wie sie nur die
Leidenschaft und Getriebenheit zweier Künstlerseelen schreiben können.
So sehr nehmen einen die Gedanken der beiden mit.
Dass das Ernst-Deutsch-Theater am 10.05. zwei
Gebärdendolmetscherinnen engagierte und das Stück simultan übersetzen
ließ, ist neben einem gelungenen Theaterabend eine weitere glückliche
Erinnerung, die den Zuschauern, die daheim bestimmt nach Federkiel,
Tinte und Papier suchen werden, im Gedächtnis bleibt.
Anmerkung: Dieser Text erschien erstmals am 10.05.2013 auf livekritik.de