tag:blogger.com,1999:blog-22708059097571845832024-03-13T15:25:09.788+01:00kulturlogDieser Blog ist ein persönlicher Streifzug durch unsere Medien- und Kulturlandschaft. So entstehen Kommentare, Essays und Kritiken sowie Interviews mit Intellektuellen und Kreativen, die wirklich etwas zu sagen haben. Wagen wir's!Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comBlogger87125tag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-61185518385477979742023-11-21T20:50:00.003+01:002023-11-22T14:35:23.062+01:00Essay: Verlust und Versprechen. Über Hoffnung in der Politik. <div style="text-align: justify;"><i>Hoffnung ist ein vieldeutiger Begriff. Wir hoffen auf eine bessere Zukunft für unsere Kinder, das Siegtor unserer eigentlich unterlegenen Fußballmannschaft, aber auch auf eine friedlichere Welt. Sie ist die Triebfeder der Utopie. Gerade in global aufgerauten lohnt es sich, den Begriff einmal genauer zu betrachten. </i> <br /></div><div style="text-align: justify;"> </div><div style="text-align: justify;">Hoffnung als Begriff genau zu
beschreiben, ist ähnlich vergeblich wie zu versuchen, Rauch mit den Händen zu einfangen.
Kaum hat man die Umrisse ausgemacht, verflüchtigt er sich auch schon wieder,
tritt in anderer Gestalt auf. Was bleibt, ist ein vages Gefühl, eine Ahnung,
wenn man darüber nachdenkt.</div><p style="text-align: justify;">Hoffnung verbindet Wunsch und
Wirklichkeit über einen Gegenstand, auf den sie sich richtet – und das auf ganz
unterschiedlichen Ebenen. Ein Astronaut hofft kurz vor dem Start seiner Rakete ebenso
darauf, heil zurück zur Erde zu kehren, wie Eltern darauf, dass ihre Kinder es
einmal besser haben mögen als sie oder der Fußballfan auf ein Siegtor seiner
eigentlich unterlegenen Mannschaft. Von einer Situation des Jetzt wird ein
banger Blick in Richtung Zukunft geworfen: Was wird sein? Und: Wie wird es
sein? – Diese Fragen richten Menschen an sich selbst; vor allem aber auch an
die Politik. Darauf Antworten zu finden und die Erwartungshorizonte von
Menschen zu strukturieren, ist in Gesellschaften im Wandel eine der vordringlichsten
Aufgaben von Politikern.</p><p style="text-align: justify;">Schaut man auf unsere Gegenwart, gibt
es zunächst wenig Anlass für Optimismus. Kaum ein Bereich menschlichen
Zusammenlebens, der nicht von großen Erschütterungen betroffen wäre. Der vom
Menschen verursachte Klimawandel beschleunigt Dürren, entfesselt Stürme, macht
ganze Regionen unwirtlich. Die Weltbank rechnet bis 2050 mit bis zu 216
Millionen Klimaflüchtlingen, die innerhalb ihrer jeweiligen Heimatländer dazu
gezwungen werden, umzusiedeln.</p><p style="text-align: justify;">In der Politik folgt derzeit eine
Krise in hoher Taktung auf die nächste: War es gestern noch die
Corona-Pandemie, welche die Welt für einen kurzen Moment anhielt und dann für
eine lange Weile nicht mehr losließ, sind es nun der brutale Krieg, den
Russland gegen die Ukraine führt oder der schreckliche Terrorangriff, den die
Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel verübte. Die Bilder aus Butscha, Mariupol
oder Bachmut, die verwackelten Aufnahmen von Hamas-Terroristen, die wehrlose Menschen
auf einem Open-Air-Festival erschießen oder entführen, haben international
namenlose Bestürzung ausgelöst. Wo soll es hier Raum für Hoffnung geben?</p><p style="text-align: justify;">Es ist dies vielleicht die
tröstlichste Eigenschaft der Hoffnung, dass sie den Menschen selbst in seinen
dunkelsten Stunden nicht verlässt. Sie ist so etwas wie der warme E-Dur-Akkord
des Beatles-Songs „A Day in the Life“, der sich aus dem orchestralen Chaos des
Finales schält und über vierzig Sekunden lang andauert. Er trägt den Hörer über
das Lied hinaus. Vielleicht lässt sich Hoffnung am ehesten in diesem Bild
fassen.</p><p style="text-align: justify;">Sie erscheint eng verwoben mit
dem Glauben an Fortschritt. Dieser wiederum ist ein Versprechen der Moderne und
wurde von Politikern beinahe jeder Couleur immer wieder gegeben. Für den
deutschen Soziologen Andreas Reckwitz ist dieses Versprechen durch die diversen
Krisen der vergangenen Jahre inzwischen „brüchig“ geworden, wie er dieses Jahr
in einem Interview (vor dem Terrorangriff der Hamas) mit der Neuen Zürcher
Zeitung sagte. Unter dem Einfluss von Krisenerfahrungen würden sich
Fortschritts- und Verlusterfahrungen neu austarieren.</p><p style="text-align: justify;">In seinem letzten, unvollendet
gebliebenen Projekt wollte sich der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch mit
der „Erlösung im Zurück“ befassen. In seiner Projektskizze, die auf der Website
des ZfL abrufbar ist, hält er eine besondere Dialektik der Verlusterfahrung fest.
So sorge sie zum einen dafür, dass Menschen sich einer „Goldenen Vergangenheit“
zuwendeten, um einen „heilen Urzustand der Menschheit“ wiederherzustellen, zum
anderen sei gerade dieses Bestreben auch der Kern des Fortschrittsdenkens. Damit
ist Schivelbusch sehr nah bei Ernst Bloch, der schrieb, dass das „Es war
einmal“ in Märchen „nicht nur ein Vergangenes, sondern [auch] ein bunteres oder
leichteres Anderswo“ bedeute. Hier offenbart sich die Tragweite der Hoffnung.</p><p style="text-align: justify;">Sie überbrückt das Spannungsfeld
zwischen Verlust und Versprechen, Sehnsucht und Erlösung. Sie ist Triebfeder
und Richtbild. Sie macht das Undenkbare denkbar, greifbar. Somit ist sie die Wurzel
der Utopie. Vielleicht ist es dies, was Bloch meinte, als er schrieb, es komme
darauf an, das Hoffen zu lernen. Die <i>Erfahrung</i> der Hoffnung als
anthropologische Grundkonstante wäre somit nicht mehr als eine Anbahnungsphase.
Das <i>Hoffen lernen</i> hieße, sie gestalterisch, also, produktiv,
einzusetzen. Während Angst lähmt, macht Hoffnung leicht: Es wird schon alles
nicht so schlimm werden, oder aber: Noch schlimmer kann es nicht kommen.</p><p style="text-align: justify;">Lernen heißt in diesem Fall, sich
einer eigenen Erfahrung gleichsam mit dem Blick anderer anzunähern und sich so
zu neuen Gedanken anregen zu lassen. Aus einer vagen Idee wird ein konkretes
Bild, aus scheinbar achtlos hingekritzelten Strichen auf einem Papier, entsteht
ein Gesicht.</p><p style="text-align: justify;">Was heißt all das für die
Politik?</p><p style="text-align: justify;">Statt – wie derzeit in
verschiedenen Ländern, auch in Deutschland, zu beobachten ist – mit den realen
Abstiegsängsten der Menschen zu spielen und aus der Sehnsucht nach einem
vermeintlich besseren Gestern eine düstere Antriebsenergie zu ziehen, Menschen
gegeneinander auszuspielen und billigen Applaus für populistische Äußerungen
einzuheimsen, sollte Politik nie die Kraft unterschätzen, die von der Hoffnung
auf ein besseres Morgen ausgeht.</p><p style="text-align: justify;">Es ist noch gar nicht so lange
her, dass Barack Obama die US-Präsidentschaftswahl 2008 mit zwei Wörtern
gewonnen hat. „Hope“ und „Change“ – in Großbuchstaben. Man könnte von sich
bedingenden Wörtern sprechen. Ohne Hoffnung gibt es keinen Wandel. Und was wäre
Wandel anderes als die (realistische) Umsetzung einer Utopie?</p><p style="text-align: justify;">Es lassen sich mit der Hoffnung
also Wahlen gewinnen, wenn man ernsthaft und nicht bloß rhetorisch an einer
Vision für ein Zusammenleben einer Gesellschaft im Wandel arbeitet.</p><p style="text-align: justify;">All das mag wie eine Binse
klingen, es mag gar banal erscheinen. Es ist alles andere als das. Hoffnung ist
der Schlüssel dafür, aus der Zukunft auf die Gegenwart zu blicken. Diese
Perspektive entlehne ich Roger Willemsens nachgelassener „Zukunftsrede“ „Wer
wir waren“, die im Jahr seines Todes posthum erschien. Wenn er fragt: „Wer
werden wir gewesen sein?“, so antwortet er zunächst scheinbar ohne jede
Hoffnung: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen,
aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne
Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, nicht
aufgehalten von uns selbst“ (S. 43). Die Tatsache jedoch, dass Willemsen mit
einem Blick aus der Zukunft über die Gegenwart nachdenkt, lässt erahnen – der späte
Melancholiker Willemsen, war nicht bereit, uns einfach aufzugeben. Er
strukturiert nur unsere Erwartungen neu, indem er festhält „[…] die alte
Zukunft hat keine Zukunft“ (S. 53). Und genau deshalb müssen wir alles tun, um aus
dem, was wir mit dem flirrenden Begriff Hoffnung meinen, ein bunteres,
leichteres Anderswo zu machen, um noch einmal Ernst Bloch zu zitieren. Was hätte
mehr Zukunft, als das Hoffen wieder zu lernen? </p><br />Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-23971856867077755772023-10-20T14:50:00.000+02:002023-10-20T14:50:46.091+02:00„An einem Jahrmarkt der Eitelkeiten bin ich nicht interessiert“ – Jens Wawrczeck im Interview.<div style="text-align: justify;"><p><span style="color: #cccccc; font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><i>Jens
Wawrczeck und ich treffen uns am Vormittag des 8. September 2023 im
Grindelviertel in Hamburg. Wir sprechen über die „Drei ???“, deren zweitem
Detektiv Peter Shaw er seit 1979 seine Stimme leiht, darüber wie die
Schauspielerei ihm dabei geholfen hat, seine Schüchternheit als Kind zu
überwinden und die vielen unterschiedlichen Projekte, die er dies- und jenseits
der Bretter, die die Welt bedeuten umsetzt. 2020 erschien zum Beispiel seine
erste Gesangsplatte „Celluloid“, am 16. November folgt sein Buch „How to
Hitchcock. Meine Reise durch das Hitchcock-Universum“ (dtv).</i></span></span></p></div>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-size: small; font-weight: normal;"><span style="font-family: inherit;"> </span></span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Lieber Jens, Du bist am 12. Juli 60
Jahre alt geworden. Aber eigentlich bist Du seit 1979 ja bloß ein paar Jahre
älter geworden. Denn seit dieser Zeit sprichst Du Peter Shaw bei den „Drei ???“.
Wie schaffst Du es, Deine Stimme so frisch und lebendig zu halten, dass man als
Hörer das Gefühl hat, dass in diesen fast 45 Jahren gar nicht so viel Zeit
vergangen ist?</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck:</b> Ich bin sicher, wenn Du Dir eine frühe Folge im Vergleich
zu einer der neuen Aufnahmen anhörst, bemerkst Du einen Unterschied. Alles
andere ist genetisch ein Glücks- oder ein Unglücksfall. Je nachdem, wie man das
betrachtet (<i>lacht</i>). Ich tue aktiv nichts dafür, esse keine Kreide oder
so etwas. Das Wichtigste ist, in die jeweilige Situation einzusteigen. Wenn ich
im Studio sitze und weiß, dass ich Peter Shaw spreche, habe ich ein anderes
inneres Tempo, eine andere Temperatur als in der Rolle von Umberto Ecos
Baudolino, in der ich ein ganzes Leben – von jung bis sehr alt – stimmlich
abbilden musste. </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Wie siehst Du Peter Shaw als Figur
eigentlich? Immerhin ist er ja eine Rolle, der Du – wenn man es über die Jahre
rechnet – sehr viel Zeit eingeräumt hast. </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>Biographisch ist Peter Shaw ein ganz wichtiger Teil
meines Lebens. Denn wie Du ganz richtig sagst: Ich bin seit Jahrzehnten mit
dieser Figur, Heikedine Körting, Oliver Rohrbeck (spricht Justus Jonas,
Anmerkung TL) und Andreas Fröhlich (spricht Bob Andrews, Anmerkung TL)
verbandet. Ich mag Peter Shaw. Ich finde ihn deshalb so sympathisch, weil er so
wenig berechenbar ist. Er wird zwar häufig auf den Angsthasen reduziert, aber
das ist bloß ein Teil seiner Persönlichkeit. Peter ist auch mutig. Und seine
Emotionalität gefällt mir und macht ihn für mich als Sprecher sehr
reizvoll.<span> </span>Peter darf wütend werden,
empathisch sein und hat Humor. Natürlich ist er auch mal ängstlich. Dass er so
viele Farben hat, finde ich schön. Peter ist nicht „quadratisch, praktisch, gut“. – Es ist für unser Zusammenspiel ein großes Glück, dass die Autorinnen und
Autoren der Serie die Dynamik zwischen Justus, Bob und Peter so gut kennen,
dass unsere Dialoge entsprechend pointiert geschrieben werden. Dass, was wir
persönlich in die Rollen einbringen, wird überschätzt. Es sind vor allem jene
im Hintergrund, Heikedine Körting, André Minninger und die anderen im Team, die
uns die Bühne bereiten.</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Die „Drei ???“ sind mit über 50
Millionen verkauften Tonträgern und 150 Gold- bzw. Platin-Platten die
erfolgreichste Hörspielserie der Welt. Sind es vor allem die von Dir erwähnten
Leute im Hintergrund, die den Erfolg dieser Serie ausmachen? </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck:</b> Auf jeden Fall. Aber vielleicht ist es am Ende auch eine
Kombination aus vielen Faktoren, von denen sich einige nie werden erklären
lassen können. Wir hatten das Glück, dass die Serie Ende der 1970er-Jahre
offenbar einen Nerv traf. Oliver, Andreas und ich mögen die ideale Besetzung
gewesen sein, vor allem war aber Heikedine Körting die richtige Regisseurin und
Produzentin für die „Drei ???“. Auch die Ästhetik der Serie, die markante Optik
mit den Covern von Aiga Rasch hat den Erfolg der „Drei ???“ ausgemacht. Und die
Figuren Justus, Peter und Bob waren allein daher ungewöhnlich, da sie sich –
obwohl beste Freunde – nicht immer einig sind. Natürlich ziehen sie
letztendlich immer am gleichen Strang und sind einander gegenüber loyal, aber
ihre Unterschiedlichkeit sorgt für eine produktive Reibung, die die Serie seit
Jahrzehnten lebendig hält. </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Eine letzte Frage zu den drei
Detektiven. Gibt es für Dich einen Moment, an dem Du für Dich sagen würdest: „Jetzt
höre ich auf mit den drei Fragezeichen“? Denn auch ihr werdet älter und spielt
noch immer 16 bis 18-jährige Jungs. </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>Ich kann keine Prognose darüber abgeben, wie lange die
Serie noch laufen wird. Das Wunderbare an Hörspielen, Musik, Literatur und
Filmen ist, dass sie ewig leben. In dem Moment, wo wir uns eine „Drei
???“-Folge anhören, stehen Justus, Bob und Peter im Zimmer. Und was mich immer
wieder freut, ist, dass die Begeisterung für die „Drei ???“ quasi vererbt wird.
Eltern geben sie an ihre Kinder weiter; sogar Ehen haben wir gestiftet,
Menschen zusammengeführt. Häufig hören wir auch: „Wir sind gestern mit euch
eingeschlafen“. Das ist eine sehr intime Beziehung zwischen den „Drei ???“-Fans
und ihren Sprechern (<i>lacht</i>). </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Du hast in Hamburg, Wien und New York
Schauspiel studiert, u.a. am renommierten Lee Strasberg Institute. Woher kam
Deine ursprüngliche Faszination für das Theater und dann auch der Wunsch,
Schauspieler werden zu wollen?</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>Ganz ähnlich wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen,
war ich als Kind eher schüchtern. Trotzdem hatte ich das große Bedürfnis, mich
auszudrücken. Schon mit sieben oder acht Jahren wollte ich entweder singen oder
spielen. Denn sich im Schutze einer Rolle und eines Kostüms auf die Bühne zu
stellen, ist sehr viel einfacher, als sich auf einer Party an einen Tisch zu
setzen und zu sagen: „Hallo, ich bin Jens“. Das Bild eines Dampfkochtopfes
passt eigentlich sehr gut: Hätte ich nicht ein Ventil für meinen Wunsch mich
auszudrücken gefunden, wäre ich sehr unglücklich geworden oder in die Luft
gegangen.</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Das heißt, Alternativen hätte es für
Dich nicht gegeben, oder? </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>Ich hatte kurzzeitig überlegt, was ich machen könnte,
wenn es mit der Schauspielkarriere nicht klappen sollte. Ich hätte dann sicher
studiert. Kurz hatte ich mich für Skandinavistik eingeschrieben, vielleicht
sogar naheliegend, da ich in Dänemark geboren bin. Auch Philosophie oder
Theologie hätten mich eventuell interessiert. Alles was zu konkret ist, macht
mir Angst. </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Du hast im Laufe Deines Lebens viele
bedeutende Rollen gespielt. Den Edgar in „König Lear“ in Bad Hersfeld unter der
Regie von Volker Lechtenbrink, den Andreas Bleichenwang in „Was ihr wollt“ oder
auch die Lady Bracknell in Oscar Wildes „Bunbury“. Welche dieser Rollen hat Dir
besonders viel Freude gemacht? Und: Welche würdest Du gerne noch spielen?</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck:</b> Lady Bracknell war für mich eine große Herausforderung.
Denn eigentlich mag ich es nicht, wenn Männer Frauenrollen spielen. <span lang="EN-US">Gut, Jack Lemmon in “Some Like it Hot” ist genial. </span>Aber es kippt für mich immer dann,
wenn es zu einer albernen Travestie wird. Diese Rollen brauchen Ernsthaftigkeit
und dürfen nicht ins Lächerliche gezogen werden. Als ich das Angebot bekam, die
Lady Bracknell zu spielen, habe ich zunächst gezögert. Mit dem Regisseur Anatol
Preissler war die Abmachung, dass ich die Lady so spiele, dass niemand merkt,
dass ich ein Mann bin. Einige Zuschauer waren wirklich sehr überrascht.
Rückblickend war das eine wirklich schöne Aufgabe. Denn Oscar Wildes Sprache –
auch in der deutschen Übersetzung – ist großartig. Der Bogen für die
humoristischen Pfeile, die man in so einer Rolle abschießen darf, muss sehr
straff gespannt sein. Das macht das Ganze schauspielerisch reiz- und
anspruchsvoll zugleich. Eine Rolle, die ich auch sehr gerne gespielt habe, war
die des Erpressers in Ibsens „Nora“. Dass ich dafür eine wesentlich größere
Rolle in einem anderen Stück ausgeschlagen habe, hat einige gewundert. Aber ich
fand die Figur dieses Mannes, der sein Leben lang versucht auf einen grünen
Zweig zu kommen, dem dann seine ganze, mühsam aufgebaute Existenz weggerissen
werden soll und der aus der Not heraus zum Erpresser wird, ein großes Geschenk.
– Du hast ja auch gefragt, welche Rolle ich in Zukunft gerne noch spielen
würde. Mir ist bereits zwei Mal die Zaza in „La Cage aux Folles“ angeboten
worden. Beide Male hatte ich dafür keine Zeit. Wenn man mir diese Rolle noch
einmal antrüge, würde ich das auf jeden Fall machen. Und wo wir gerade bei
Musicals sind: Bei „Der Mann von La Mancha“ wäre ich gern dabei. Egal, ob als
Don Quijote oder Sancho Panza (<i>lacht</i>). Du siehst – es gibt eine ganze
Menge an Rollen, die mich reizen würden. Es steht und fällt für mich aber immer
mit dem Team. Es geht darum, gemeinsam etwas entstehen zu lassen, auf
Entdeckungsreise zu gehen und das mit dem Publikum zu teilen. An einem
Jahrmarkt der Eitelkeiten bin ich nicht interessiert.</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: So wie Du es gerade schilderst, merkt
man, dass Du jemand bist, der die Bühne durch und durch liebt. Im Gegensatz zu
Deinen langjährigen Wegbegleitern Oliver Rohrbeck und Andreas Fröhlich, die
ihre jeweiligen Karrieren auf der Bühne bzw. vor der Kamera ja schon lange
aufgegeben haben.</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>Was mich am Theater reizt ist, dass man sich einer Rolle
ganzkörperlich stellen muss. Das ist für mich ein sehr guter Ausgleich zur
Tätigkeit als Sprecher. Ich habe das Gefühl, auf der Bühne auch meine Angst vor
Zurückweisung und Ablehnung zu überwinden. Denn ich bin sehr gefährdet, Dinge
aus Angst nicht zu tun. Da ich aber andererseits nicht von Ängsten beherrscht
werden möchte, tut es mir gut, mich diesen Herausforderungen zu stellen.</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Deine erste Rolle hast Du 1976 in Graham
Greenes „Der verbindliche Liebhaber“ auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele
gespielt. Nun kehrst Du mit Deinen Alfred Hitchcock-Abenden „Hitch und Ich“
regelmäßig dorthin zurück. Was bedeutet Dir gerade diese Bühne?</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>Die Hamburger Kammerspiele bedeuten mir viel. Sicher hat
es damit zu tun, dass ich dort bereits als Kind gespielt habe. Das mag
sentimental klingen, aber die Bühne und der Saal der Kammerspiele haben eine
gute Atmosphäre. Für die Hitchcock-Abende ist der Raum ideal, er ist in seiner
Größe perfekt. Und die Location hat etwas sehr Intimes, da sie mitten in einem
Wohngebiet liegt, einer der schönsten Gegenden Hamburgs.</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Mit „Der Fall Paradine“ und „Eine Dame
verschwindet“ setzt Du die eben schon erwähnte, sehr erfolgreiche Reihe
"Hitch und Ich" diese Spielzeit fort. Wie bist Du auf die Idee
gekommen, Dich den literarischen Vorlagen der Hitchcock-Filme zu widmen?</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>Es hat mich schon sehr früh interessiert, woher Hitchcock
seine Inspirationen für Klassiker wie „Psycho“ oder „Die Vögel“ hatte. Ich fing
an zu recherchieren, und fand heraus, dass 42 seiner rund 50 Filmen auf
literarischen Vorlagen basieren. Auf Erzählungen, Romanen oder Theaterstücken.
Oft hat er für seine Filmversionen die Vorlagen stark verändert, teilweise,
weil ihm der Hollywood Production Code keine andere Wahl ließ. Mir
vorzustellen, wie bei der Lektüre dieser Werke der Funke auf Hitchcock
übergesprungen ist, gefällt mir. Zwei dieser literarischen Vorlagen – „Immer
Ärger mit Harry“ und „Das Haus von Doktor Edwardes“, die Vorlage zu Hitchcocks
„Spellbound (Ich kämpfe um Dich)“ – habe ich für meine Hörbuchreihe eigens
übersetzen lassen, da es von ihnen bisher keine deutsche Übersetzung gab.
Nächstes Jahr soll eine weitere Premiere in deutscher Sprache folgen: der Roman
„Man Running“ von Selwyn Jepson. Hitchcock machte daraus „Die rote Lola (Stage
Fright)“. All diese Texte zu sichten ist für mich ein endloses Faszinosum. Ich
prüfe dann nicht nur ihre Bühnentauglichkeit, sondern auch, ob sie zu mir
passen, ob ich der geeignete Interpret bin, um sie einzulesen und auf der Bühne
darzustellen. Manche Bücher funktionieren in der Hörfassung, aber
bedauerlicherweise nicht auf der Bühne. „Über den Dächern von Nizza“ war so ein
Fall. </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Auf Deiner Website steht präsent als
allererster Satz, dass Du begeistert warst, als Du eine Truhe aus Doris Days
Nachlass ersteigern konntest. Mit „Celluloid“ hast Du 2020 ein ganzes
Musikalbum mit Filmsongs eingesungen, die Dir etwas bedeuten. Und am 16.
November erscheint nun auch Dein Buch „How to Hitchcock. Meine Reise durch das
Hitchcock-Universum“ bei dtv. Woher kommt Deine Faszination für die
Vergangenheit des Films? </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>Es gibt für mich nichts Schöneres als durch Filme,
Literatur oder Musik in andere Welten abzutauchen. Die heile Welt, die zum
Beispiel in den Doris Day Filmen aufgerufen wird, ist für mich wie „Heiße Milch
mit Honig“ oder der Teller Hühnersuppe, der die Erkältung verjagt.
Filmklassiker wie Billy Wilders „Some Like it Hot (Manche mögen‘s heiß)“ sind
aus gutem Grund unsterblich. Der Film ist auch nach über fünfzig Jahren noch
quicklebendig, da schwingt etwas mit, das ich am ehesten mit Wahrhaftigkeit
umschreiben könnte. Und das obwohl die Geschichte ja alles andere als
realistisch ist. Auch Hitchcocks Filme sind wahr, ohne naturalistisch zu sein.
Sie bilden keine äußere Realität-, sie bilden eine innere<i> </i>Realität ab;
und zwar die der Personen, die im Mittelpunkt des Films stehen und mit denen
wir uns identifizieren.<span> </span> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Es ist eine Binse, dass Filme von den
Schauspielerinnen und Schauspielern leben, die darin auftauchen. Du selbst hast
schon mit einer ganzen Reihe von Legenden auf der Bühne gestanden. Volker
Lechtenbrink war in Bad Hersfeld Dein Regisseur, Du hast mit Gerda Gmelin
gespielt und mit Charles Regnier vor dem Mikrofon gesessen. An wen erinnerst Du
Dich besonders? Welche Begegnungen sind Dir im Kopf geblieben?</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck:</b> Charles Regnier hat mich sehr beeindruckt; auch, wenn ich
nur in einem einzigen Hörspiel sein Partner war. Er hatte eine ganz besondere
Art zu sprechen und eine natürliche Autorität, man spürte einfach seinen
Intellekt, seinen Humor, seine Klasse. Trotz seiner Diskretion und
Bescheidenheit, ein Mann mit Grandezza. Sehr gerne habe ich mit Ralf Schermuly
gespielt, ich war der Klosterbruder neben seinem weisen Nathan. In meiner Zeit
am Ernst-Deutsch-Theater stand ich auch ein paar Mal mit Friedrich Schütter auf
der Bühne. Und natürlich denke ich voller Bewunderung an Gisela Trowe, mit der
ich häufig im Studio saß. Eine außergewöhnliche Schauspielerin mit einer
Jahrhundertstimme und einem Blick, der – wenn er Dich traf und sie Dich
wahrnahm – wie ein Ritterschlag wirkte. Am Lee Strasberg Institute in New York
wurde ich von einigen großartigen Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Paul
Newman war einer von ihnen. Doch vor allem sind mir vier Schauspielerinnen in
Erinnerung, deren Kurse ich besuchen durfte. Shelley Winters, Julie Harris -
die mit James Dean in „East of Eden (Jenseits von Eden)“ gespielt hat und eine
großartige Theaterschauspielerin war, Maureen Stapleton und Sandy Dennis, die
für „Who’s afraid of Virginia Woolf? (Wer hat Angst vor Virginia Woolf?)“ den
Oscar als beste Nebendarstellerin gewann. Da jede dieser Damen ihren Unterricht
sehr persönlich gestaltete, lief ich nie Gefahr, mich an eine bestimmte Art des
Spiels zu gewöhnen und es mir damit bequem zu machen.<span> </span>Ihre Persönlichkeiten waren einfach zu
verschieden. Ständig gab es neue Konfrontationen, neue Auseinandersetzungen,
alles sehr konstruktiv und inspirierend. In New York bekam ich viele
schauspielerische Impulse und habe gelernt, flexibel zu bleiben. Das hat mir
später geholfen, mich auf die unterschiedlichsten Regisseure und Regisseurinnen
und Bedingungen einzustellen. </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Eine letzte Frage, lieber Jens: Auf
Deiner Website ist zu lesen, dass Du noch eine ganze Reihe von Projekten in der
Schublade hättest. Welche sind das? </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck:</b> Ich möchte sehr gerne ein weiteres Gesangsalbum
veröffentlichen. In den letzten Jahrzehnten bin ich überdies von Kolleginnen
und Kollegen immer wieder gefragt worden, ob ich nicht Lust hätte, einmal
selbst zu inszenieren. Auch das könnte ich mir inzwischen vorstellen. Und da
jetzt bald mein Buch „How to Hitchcock“ erscheint, mache ich mir auch Gedanken
darüber, einen Hitchcock-Abend der ganz anderen Art auf die Bühne zu bringen.
Mir schwebt ein Ritt durch das Hitchcock-Universum vor, der sich vom Singen von
Songs aus den Hitchcock-Filmen über Filmausschnitte und gelesene Passagen
erstrecken könnte. – Ansonsten schließe ich auch nicht aus, noch einmal für
längere Zeit ins Ausland zu gehen und einen Filmführer zu schreiben, der über
Hitchcock hinausgeht. </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small;">Tobias Lentzler: Es klingt wirklich so, als hättest Du
gerade erst begonnen...</span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"> </span></h4>
<h4 class="MsoNormal" style="margin-bottom: 5pt; mso-layout-grid-align: none; text-align: justify; text-autospace: none;"><span style="color: #cccccc; font-family: inherit; font-size: small; font-weight: normal;"><b>Jens Wawrczeck: </b>...erwachsen zu werden (<i>lacht</i>). Manchmal fühlt es
sich so an. Obwohl ich sehr früh angefangen habe, bin ich ein Spätentwickler.
Es braucht bei mir sehr lang, bis ich etwas final durchdacht und ausgebrütet
habe. Deshalb denke ich manchmal: Das Leben ist zu kurz, um all das unterzubringen,
was ich vielleicht noch machen möchte. Denn unabhängig von all dem, was mich
beruflich reizt, habe ich ja auch noch ein Privatleben, dass nicht zu kurz
kommen sollte. Wobei sich meine Faszination für Filme, Literatur und Musik gar
nicht so streng von meinem privaten Ich trennen lässt. Leider oder
glücklicherweise.</span></h4>
<p style="text-align: left;"><style><font size="3"><font size="3" style="color: rgb(204, 204, 204);">@font-face
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einen sehr schönen <a href="https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/schoen-war-es-nie-kindheitserinnerungen-ans-ruhrgebiet-15951985.html">Aufsatz</a> darüber geschrieben, in dem er festhält, dass das Ruhrgebiet eigentlich eine Konstruktion ist, die es so nie gegeben
hat. – Aus heutiger Sicht habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Region. Wenn ich dort hinkomme, habe ich das Gefühl, dass eine gewisse Tristesse und auch ein gewisser Fatalismus hindurch wehen. Die Region befindet sich mitten in einem lange andauernden Umbauprozess, die Armutsquote ist höher als im Bundesdurchschnitt. Andererseits finde ich es als jemand, der in Berlin lebt, sehr schön von irgendwo anders zu kommen.</p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Kommen wir vom Biographischen auf Ihre wissenschaftliche Arbeit zu sprechen. In einem alten "ZEIT Magazin"-Portrait von Heinrich Wefing habe ich gelesen, dass Wissenschaft für Sie ein "Ruheraum für Reflexion" sei. Sinngemäß haben Sie dort auch gesagt, dass es möglich sein müsse, Gesellschaften so zu analysieren, dass sich die Ergebnisse auch einmal gegen die Erwartungen einer Gesellschaft stellen. Diese beiden Äußerungen stehen exemplarisch für die Idealtypen des unabhängigen Wissenschaftlers, aber auch des öffentlichen Intellektuellen. Wenn ich versuche, diese Idealtypen mit unserer Gegenwart übereinzubringen, in der das Uneindeutige ein Opfer geworden zu sein scheint, dann frage ich mich zweierlei. Zum einen: Ist die Figur des <i>public intellectual </i>aus Ihrer Sicht tot oder quicklebendig? Und zweitens: Wie begreifen Sie diese Figur selbst?</b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers:</b> Ich habe mich nie rollentheoretisch verstanden, sondern immer von meinen Interessen aus gedacht. In die Figur des öffentlichen Intellektuellen bin ich ein bisschen hineingeraten und ich frage mich manchmal, ob ich dieser auch wieder entschlüpfen könnte. Um das Ganze vielleicht doch noch einmal biographisch zu wenden: Bis ich 35 war, habe ich gedacht, ich würde einfach Theorie treiben, doch dann bin ich, u.a. durch das Schreiben von Artikeln, auch in die Praxis hineingeraten. Seitdem jongliere ich beständig zwischen beidem. Als das Portrait von mir im "ZEIT Magazin" erschien, waren die Erwartungen an öffentliche Äußerungen noch deutlich weniger normativ aufgeladen. Man kann auch sagen: Es war wesentlich idyllischer. Natürlich ist es Unsinn zu behaupten, die Meinungsfreiheit sei heute unter Druck. Aber was sich schon feststellen lässt, ist dass es wesentlich mehr vorformatierte Diskurse zu geben scheint. Ich glaube aber nicht, dass dadurch die Figur des öffentlichen Intellektuellen stirbt. Der ist schon häufig genug totgesagt worden. Man muss für sich persönlich die Entscheidung treffen, wie sehr man sich am öffentlichen Diskurs beteiligen will. Ich habe das Privileg, dass ich mich auch auf meine akademische Laufbahn zurückziehen und nur noch Dinge tun könnte, die gesellschaftlich vielleicht als irrelevant angesehen werden. Das ist gewissermaßen sehr tröstlich für mich.</p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Nun haben Sie ja durch Ihre öffentlichen Auftritte, Zeitungsartikel o.ä. aber auf jeden Fall einen Äußerungstrieb. Gibt es irgendwelche Debatten, die Sie gerne anstoßen oder stimulieren würden?</b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers:</b> Ich muss noch mal einen Schritt zurückgehen und reflektieren, woher dieser Äußerungstrieb kommt. Ich bin das Kind eines Erwachsenenbildners. Verfassungsrecht hat eine sehr theoretische, sehr abstrakte Ebene; zugleich ist die Verfassung ja aber für uns alle da. Das zu erklären – auch ganz basal oder naiv – scheint mir wichtig. Daher habe ich mit erklärenden Sachbüchern angefangen. Das Teilnehmen an öffentlichen Debatten ist nicht unbedingt mein erster Reflex. Ich bin also eher an die Öffentlichkeit getreten, um komplexe Themen erklärbar zu machen. Gerade Juristinnen und Juristen neigen dazu, sich unerklärbar zu machen und damit Herrschaftswissen an sich zu reißen. Zugespitzt könnte man sagen: Mein Gegenimpuls, die Dinge verständlich zu machen, war sozialdemokratisch-aufklärerisch geprägt. Natürlich ist das aber nicht durchhaltbar. Epistemologisch ist es sogar naiv. Denn durch das Erklären verformt man natürlich die Dinge, die in Rede stehen. Um nun zu Ihrer Frage zu kommen: Es gibt sicher verschiedene Debatten, die aus meiner Sicht in unterschiedlichen Ländern schräg laufen und zu denen ich etwas beitragen könnte. Aber so zu tun, als hätte ich einen kompletten Überblick über alle möglichen laufenden Debatten, ist mir fremd. Wenn ich mich irgendwo einschalte, versuche ich, das Ganze auf mein Fach zurück zu beziehen. </p><p style="text-align: justify;"><br /></p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Exemplarisch für Ihr Verständnis des Eingreifens in die öffentliche Debatte scheint mir Ihr Aufsatz "<a href="https://www.zeit.de/kultur/2017-06/demokratie-parteien-politik-rechtsextremismus/komplettansicht">Wir, die Bürger(lichen)</a>" von 2017, den Sie im "Merkur" veröffentlicht haben. Er beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Autoritarismus und Demokratie und der Frage, wie Menschen, die sich selbst als "Mitte" begreifen, sich in dieser Debatte positionieren oder eben auch nicht. Der Essay wendet sich natürlich an ein intellektuelles Publikum, ist aber zugleich sehr zugänglich. Sätze wie "Niemand mag politische Parteien, und das ist nichts Neues" haben eine gewisse Flapsigkeit, treiben das Argument des Essays aber auch voran. In der Einleitung Ihres Buches "Freiheitsgrade" (2020) nennen Sie den Aufsatz zudem explizit eine Vorüberlegung des Buches. An einer Stelle Ihres Essays schreiben Sie von der "bürgerlichen Verachtung" gegenüber demokratischen Prozessen. Was genau meinen Sie damit?</b></p><p style="text-align: justify;"><b><br /></b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Viele Menschen meinen, dass ihre Teilnahme an der bürgerlichen Gesellschaft und auch alle Phänomene des bürgerlichen Erfolgs sich keinen politischen Prozessen verdanken würden. Das ist eine sehr verführerische, aber bei näherem Hinsehen sofort falsche Annahme. Denn alles hat einen bestimmten politischen Prozess durchlaufen. In aller Regel war dieser nicht egalitär. Die Selbstaufklärung, dass man nichts, was man hat, verdient, würde nach meiner Ansicht dazu führen, dass ein bürgerliches Publikum ein demokratisches Politikverständnis entwickelt. Natürlich heißt das nicht, dass all diese Menschen autoritär denken – es heißt eher, dass viele den letzten Schritt dessen, was Politik bedeutet nicht gehen können oder wollen. Denn wenn man der Überzeugung ist, dass alles, was man besitzt auf dem eigenen Verdienst beruht, fühlt man sich von dieser Erkenntnis vielleicht entwertet. </p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Sie illustrieren dies in Ihrem Essay mit der quasi vorauseilenden Entschuldigung vieler Bürger, dass sie sich ja im Privaten engagieren würden – sei es für Flüchtlingsinitativen, als Nachhilfelehrer oder Tafel-Mitarbeiter. Die Mühen der Ebene, die Kärrnerarbeit des Parteidaseins lernt man so natürlich nicht kennen. Zugleich muss man jedoch konstatieren, dass ziviles Engagement in die Politik hineinwirkt. – Wenn wir einmal Ihren Befund ernstnehmen, dass politische Prozesse vor allem durch das Engagement in Parteien beeinflusst werden können, sieht es nicht gerade gut aus. Bis auf Bündnis 90/Grüne und die AfD, und in den letzten zwei Jahren auch die FDP, verlieren vor allem die Volksparteien seit vielen Jahren Mitglieder – durch Austritt, aber auch durch Tod. Von einem Wachstum politischen Engagements kann man also nicht sprechen. </b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Der Fall der AfD ist interessant. Ich habe das Gefühl, dass diese feste Verwurzelung im Osten Deutschlands für diese Partei eine große Stärke ist. Denn die Menschen im Osten haben die Erfahrung gemacht, dass man Regierungen stürzen kann, dass alles endlich ist. Völlig unabhängig davon, was man von der Partei politisch hält, kann man hier eine gewisse Politikfähigkeit konstatieren. Die kann ich in den Gebieten der alten Bundesrepublik so nicht erkennen. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Die AfD ist Ausdruck eines Zutrauens in Politik. Auch, wenn wir uns vielleicht eine andere Form derselben wünschen würden. Diese Stärke müssen wir verstehen lernen und uns im Anschluss fragen, was man daraus auch für andere Formen der Politik machen kann. Mir erscheint vor allem das Zutrauen darin, dass man mit einer Mischung aus Kampagnen- und Parteiarbeit etwas erreichen und Menschen mobilisieren kann, das zu sein, was allen anderen Parteien zurzeit fehlt.</p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: In den Debatten der Gegenwart, in denen interessanterweise die beiden wachsenden Parteien an den entgegengesetzten Enden ihre Positionen beziehen, sprechen wir derzeit häufig davon, dass das "Moralische" (was auch immer das im Einzelnen sein soll), das Politische ablöse. Häufig geht es in Diskussionen als nicht mehr vordergründig um politische Entscheidungen, sondern moralische Abwägungen. Wie kommen wir da wieder heraus? </b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Jedenfalls nicht damit, dass die Mehrheitsparteien ein schlechtes Gewissen haben. Die Ausstrahlung der Politik in Bezug auf das Erstarken der AfD wirkt sehr defensiv. Häufig hat man das Gefühl, dass Politiker dieser Parteien annehmen, sie seien tatsächlich Schuld am Aufstieg der AfD. Uns fehlt ein republikanisches Selbstbewusstsein. – Es kommt hinzu, dass man als in der alten Bundesrepublik Geborener überhaupt keine Erfahrung mit politischen Auseinandersetzungen hat. Der Betrieb wird in gewisser Weise "durchverwaltet". Eine Form offensiven Bundesrepublikanismus gibt es nicht. Vielleicht wäre es gut, sich in dieser Hinsicht zu schulen. Die Bundeszentrale für politische Bildung kann dabei sicher nicht die einzige Lösung sein. </p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Jan-Werner Müller hat in diesem Zusammenhang jüngst in der "<a href="https://www.zeit.de/2023/36/konflikte-demokratien-spaltung-zusammenhalt">ZEIT</a>" davon gesprochen, dass Demokratien die Bereitschaft bräuchten, konstruktiv zu streiten. Es wirkt derzeit so, als versuche die Politik verzweifelt, aufreißende Gräben zuzuschütten. Aber wenn ein Graben geschlossen ist, tut sich kurz darauf ein neuer auf. Vielleicht müssen wir diese Konflikte für den Moment aushalten und austragen.</b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Vor allem muss man den Leuten jeweils klar sagen, dass sie unrecht haben. Es wirkt paternalistisch, wenn zunächst Verständnis geheuchelt wird: "Ihr habt ja recht" und im nächsten Satz heißt es: "Politisch habt ihr euch aber verirrt". Entscheidend ist, konfliktbehaftete Themen – seien es zum Beispiel die Klimapolitik oder auch die Flüchtlingspolitik – offen zu problematisieren. Nehmen wir das Beispiel Migration: Diese ist objektiv betrachtet eine Herausforderung. Vor dieser stehen wir aber als Deutschland nicht alleine. Auch andere europäische Länder, ebenso die USA, müssen sich damit auseinandersetzen. Wir müssen klar benennen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, damit umzugehen. Keine wird alle zufriedenstellen. Dass man politisch Verfolgten Asyl gewährt, sollte in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein. Aber die Politik muss ihre Abwägungsprozesse besser erklären – auch, wenn das angesichts einer zunehmend fragmentierten Medienlandschaft schwierig ist. </p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Das Stichwort Medienlandschaft möchte ich gerne aufgreifen. Sie haben im April 2023 der "taz" ein Interview gegeben, in dem Sie einen Gedanken aus "Freiheitsgrade" ausführen. Dieser lautet, dass Freiheit, aber auch Demokratie eine körperliche Komponente haben. Die Digitalisierung hat ja zweifelsohne dazu geführt, dass unser Leben sich stark verändert hat. Kaum ein Prozess ist davon nicht betroffen. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung Ihrer Meinung nach auf das Politische?</b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Ich bin ehrlich gesagt immer weniger zufrieden damit, die Digitalisierung als Erklärung für irgendetwas gelten zu lassen. Wir wissen mittlerweile zum Beispiel ja, dass die Filterblasen-Theorie nicht stimmt. Der Rückzug politischer Parteien oder gesellschaftlicher Akteure auf ihr
Stammpublikum ist sicher real, aber ein Digitalisierungsphänomen ist
das nicht. Denken Sie an die Fragmentierung der Gesellschaft des Kaiserreichs oder die Entstehung der Arbeiterbewegung. Das sind Phänomene, die man unter diesem Gesichtspunkt analysieren müsste. Der Rückzug auf Teilöffentlichkeiten, den man beispielsweise auch bei Zeitungen beobachten kann, lässt sich aus meiner Sicht nicht rein technisch begründen. – Ich bin kein Medientheoretiker, aber ich fände es interessant, statt von der Digitalisierung einmal von der Körperlichkeit her zu denken. Wenn wir uns fragen, was in den letzten Jahrzehnten anders geworden ist, so ist das selbstverständlich die Möglichkeit, jeden sofort ohne irgendwelche materiellen Schwellen erreichen zu können. Wenn ich früher einen Brief geschrieben habe, habe ich ihn vorher natürlich noch einmal durchgelesen. Ich musste ihn adressieren, eine Briefmarke draufkleben und dann zur Post bringen. Dabei konnte ich mir mehrfach überlegen, ob ich den Brief wirklich abschicken will. Diese Schwelle der unterlassenen Kommunikation ist eingerissen. Vielleicht fehlt uns diese Möglichkeit heute. Wenn wir dafür aber allein die Digitalisierung verantwortlich machen, schreiben wir die Geschichte der großen Digitalunternehmen mit und überhöhen ihre Bedeutung. Diese Unternehmen erschaffen die Illusion eines Zugriffs auf die Welt, der uns aber in keiner Weise dabei hilft, Probleme wie den Klimawandel in den Griff zu bekommen.</p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Die Welt zu beklagen, ist laut Wolf Lepenies seit jeher ein Topos der Intellektuellen. Liest man seine Dissertation "Melancholie und Gesellschaft" (1969), hält er an einer frühen Stelle fest, dass aus dieser Form des Beklagens utopisches Denken entstehen kann – frei paraphrasiert heißt es dort: Der Intellektuelle leidet an der Welt und erfindet eine bessere, die die Melancholie vertreiben soll. Wenn man diesen Ansatz mit Ihrem Buch "Die Möglichkeit der Normen" (2015) verbindet, in dem Sie Normen als "positiv markierte Möglichkeiten" begreifen, stellt sich für mich die Frage, welche Rolle Intellektuelle bei der Schaffung von Normen spielen.</b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Das Buch hat ja einen analytischen Zugriff. Es ist sein Anspruch, den Normenbegriff zu entmoralisieren. Als Agenda für öffentliche Intellektuelle erscheint es mir daher nicht brauchbar. Denn wenn wir uns die Figur einmal anschauen, stellen wir fest, dass wir sie über viele Jahrzehnte stark normativ aufgeladen haben. Vielleicht sollte es aber eher darum gehen, den Intellektuellen als Mittler zu verstehen; als jemanden, der Erklärungen für bestimmte gesellschaftliche Phänomene anbietet. In einem Satz: Intellektuelle sollten nicht sagen, was sein soll, sondern warum etwas aus etwas anderem folgt. </p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Trotzdem lässt sich aus meiner Sicht eine Verbindung zwischen der als "positiv markierter Möglichkeit" definierten Norm und der Figur des Intellektuellen ziehen – gerade, wenn man sie mit dem von Lepenies entwickelten utopischen Denken verknüpft. </b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Wenn man sich auf diese Verknüpfung einlässt, dann könnte man sagen, dass es in dem Buch darum geht, Pfadabhängigkeiten zu beschreiben, die auch verlassen werden können. Allerdings ohne den normativen Überschuss, den Intellektuelle häufig produzieren. </p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Die Welt ist also nicht nur alles, was der Fall ist, um Wittgenstein einmal abzuwandeln.</b></p><p style="text-align: justify;"><b><br /></b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Genau. Aber natürlich benötigen alle anderen möglichen Pfade ebenfalls einer Rechtfertigung. Das unterscheidet die Argumentation im Buch übrigens in meinen Augen vom utopischen Denken, dass ja eher als Fluchtpunkt gedacht wird. </p><p style="text-align: justify;"> </p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Richten wir den Blick zum Schluss noch einmal auf die Zukunft – ganz ohne utopische Gedanken. Welche Themen treiben Sie aktuell in Ihrer Arbeit um? </b></p><p style="text-align: justify;"><b> </b></p><p style="text-align: justify;"><b>Christoph Möllers: </b>Ich glaube, meine Existenz rechtfertigt sich vor allem darüber, dass ich neben dem Exoterischen auch Fachliteratur schreibe. Es wäre unglücklich, wenn das nicht mehr funktionieren würde (<i>lacht</i>). Gerade sitze ich an einem rechtsphilosophischen Buch, in dem es darum geht, die Ambivalenz der Rechtsformen klarzumachen. Denn auf der einen Seite wünschen sich Menschen Verrechtlichung; auf der anderen Seite ist das zunächst ein leeres Instrument. Alle Ordnungen – auch autoritäre – haben Recht. Diese Ambivalenz theoretisch zu beschreiben, ist das Oberthema des nächsten Buches. </p><p style="text-align: justify;"><br /></p><p style="text-align: justify;"><b>Tobias Lentzler: Herr Möllers, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch. </b><br /></p><br /><p style="text-align: justify;"><b> </b><br /></p><p style="text-align: justify;"><br /></p>Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-80808844600795879612023-03-29T08:43:00.008+02:002023-05-24T16:39:51.738+02:00Der Erfahrungsraum der Gegenwart. – Ein Nachruf auf Wolfgang Schivelbusch. <p style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><i>Der
anregende Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch ist am 26. März 2023
im Alter von 81 Jahren gestorben. Dieser Text ist eine persönliche
Erinnerung und Würdigung. Zugleich führt er knapp in einen – aus meiner
Sicht zentralen – Gedanken in Schivelbuschs Werk ein, der hilft, es zu systematisieren. <br /></i></span></p><p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;">„Erlösung im Zurück“, das war
Wolfgang Schivelbuschs letztes, unvollendet gebliebenes Projekt, das er seit
2020 am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Eigenregie
verfolgte. In kondensierter Form ruft er in der Beschreibung des Forschungsvorhabens
noch einmal einige jener Gegenstände und Studien in Erinnerung, die ihn in den
vergangenen vier Jahrzehnten beschäftigt und zu einem der interessantesten
Gelehrten der Kultur- und Geschichtswissenschaften gemacht haben. So nennt er
die Untersuchung von Verlusterfahrungen oder die geänderten Raum-, Zeit- und
Lebensformen durch technologische Durchbrüche wie die Eisenbahn. </span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;">Mit einer „Geschichte der
Eisenbahnreise“ trat Wolfgang Schivelbusch 1977 an die Öffentlichkeit; ein
Buch, das noch heute als stilbildend gilt und sich der Frühphase der
industriellen Revolution annäherte, in der Menschen die Eisenbahn als
„Vernichtung von Raum und Zeit“ (Schivelbusch 2007 [1977], S. 35) wahrnahmen. Wenige
Jahre später bearbeitete er in „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“
(1980) die große Frage, welche Rolle Genussmittel in der Entwicklung der
Geschichte des neuzeitlichen Menschen gespielt hätten. Anhand des schlichten
sprachlichen Hinweises auf die leicht verschobene Bedeutung des Wortes „stimulants“
in englischer wie französischer Sprache im Gegensatz zu ihrem deutschen Pandant "Genussmittel",
kommt er zu einer seiner Ausgangsthesen: „(…) nicht nur zum reinen
paradiesischen Genuß haben diese Stoffe gedient. Sie haben immer auch gleichzeitig
<span>»Arbeit« geleistet. (…) Die Vorgänge, die die
Genußmittel im menschlichen Organismus bewirken, vollenden sozusagen chemisch,
was geistig, kulturell und politisch schon vorher angelegt war“ (Schivelbusch
1980, S. 11f.).</span></span> </p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;">Nach den frühen Studien, die sich
der Stofflichkeit von Gegenständen und ihrer Wirkung auf den Menschen
verschrieben sahen, vollzog Schivelbusch Anfang der 1980er-Jahre einen ersten
Wechsel der Blickrichtung. Er wandte sich der geistigen Arbeit zu, schrieb eine
<i>Intellectual History </i>über die Frankfurter Intelligenz der 1920er Jahre, arbeitete
später an einer Geschichte über das Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit („Intellektuellendämmerung“,
1982 und „Vor dem Vorhang“, 1995). In den letzten zwanzig Jahren
setzte er sich dann intensiv mit der „Kultur der Niederlage“ (2001) oder dem
militärischen „Rückzug“ (2019) auseinander oder stellte die Frage, ob eine
„Entfernte Verwandtschaft“ zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und<i> New
Deal </i>vorläge (2005). Weitere Bücher schrieb Schivelbusch z.B. über die
Geschichte der künstlichen Helligkeit (1983) oder zur Bibliothek von Löwen, die
sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach wieder
aufgebaut worden war (1988). </span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;">Scheinbar abseitige Themen, kühne
Gedankensprünge, meisterhafte Synthesen aus einer unermesslichen Fülle an
Material, gesammelt über Monate in Archiven und Bibliotheken dies- und jenseits
des Atlantiks – das zeichnete Schivelbusch aus. </span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;">Geboren wurde Wolfgang
Schivelbusch am 26. November 1941 in Berlin, wuchs in Frankfurt am Main auf und
studierte nach einem Volontariat beim „Wiesbadener Kurier“ Literaturwissenschaften,
Philosophie und Soziologie – zunächst für ein Semester an der FU Berlin, dann
an der Goethe-Universität in Frankfurt und später wiederum in Berlin. Er
schloss sein Studium Anfang der 1970er-Jahre mit einer Promotion bei Hans Mayer
ab. Während seiner Studienzeit besuchte er unter anderem die Vorlesungen oder Seminare
von Theodor W. Adorno und Peter Szondi. In seiner glänzenden Autobiographie „Die
andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin“ (2021) schilderte
er seine Erlebnisse in den Vorlesungen und Seminaren Adornos so: „<span>«</span>Erleben<span>» hieß (…) in meinem Fall: andächtig
zuhören, ohne selber ein Wort zu sagen. Nicht als Lehrfach hatte ich mir die
Philosophie vorgestellt, sondern als <i>Selber Philosophieren</i>. Also das,
was mir später unter der Bezeichnung «</span>Spekulation<span>» bekannt
wurde“ (Schivelbusch 2021, S. 30). </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: center;"><b><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>***</span></span></b></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>Das „freie
Spekulieren“ brachte mich und Wolfgang Schivelbusch Anfang 2022 zusammen,
nachdem wir Ende 2021 im Zuge der Veröffentlichung seiner Autobiographie schriftlich
miteinander in Kontakt gekommen waren. Ich traf ihn in seiner Wohnung im Berliner
Westend mit dem festen Ziel, ein Interview für meinen Blog zu führen. Am Ende
saßen wir über drei Stunden zusammen und bewegten uns frei von Gegenstand zu
Gegenstand – ein klassisches Interview war das nicht mehr. Dies ist eine
Erfahrung, die Menschen offenbar häufig machten, wenn sie Wolfgang Schivelbusch
begegneten. Peter Richter schreibt in seinem Nachruf für die „SZ“ treffend: „Er
wollte die ganze Zeit viel lieber selber lernen, im Austausch mit dem Gegenüber
die eigenen Gedanken entwickeln, manchmal verwickeln, und dann wieder aufrauen
und stachlig machen“.</span></span></p><p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>„Erzählen
Sie“, sagte er also, kaum das wir uns mit einem Stück Kuchen und einer Tasse
Kaffee in sein Arbeitszimmer zurückgezogen oder ein Café betreten hatten. Und
so begann ich, begannen wir. Alltagsbeobachtungen, Lektüreerlebnisse,
Erkenntnisse aus meiner Archivarbeit für meine Dissertation über die Kritiker
der Gruppe 47. In unserem gedanklichen Spaziergang passierten wir geschwungene
Autokarosserien (ein mir völlig unvertrautes Gebiet), die Eigenarten der <i>first
name basis</i> in den Vereinigten Staaten und wie deutsche Professoren sich
Schivelbuschs Erinnerung nach damit schwertaten: „Die redeten sich auf Englisch
mit ihren Vornamen an und sagten dann am Rande der Konferenz `Nachher sind wir
wieder bei ‚Sie‘, Herr Kollege‘“.</span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>Vor allem
das große, sperrige, weil mit Bedeutung aufgeladene Wort „Nostalgie“ umkreisten
wir in unseren Treffen immer wieder. Kein anderes Konzept (ich nutze dieses
Wort in Ermangelung eines treffenderen und bin nicht sicher ob es Wolfgang
Schivelbusch gefallen hätte) hat uns beide in unseren Gesprächen mehr
interessiert. In ihm drücken sich Sehnsucht und Schmerz aus, Verlust und die
Unmöglichkeit zurückzukehren. Gleichzeitig – und hier wird es dialektisch – ist
diese spezifische <i>Erfahrung</i> (und vermutlich ist dies das Wort, das Schivelbusch
weit passender gefunden hätte) ohne den Fortschritt nicht denkbar. So ist denn die
Erforschung des (technologischen) Fortschritts, gestützt jedoch auf historische
Quellen, auf Augenzeugenberichte, Studien, Aufsätze einer längst vergangenen
Zeit, eines der Hauptthemen in Schivelbuschs Werk gewesen. Er betrachtete den
Fortschritt also quasi im Rückblick. Somit erweiterte er den Erfahrungsraum der
Gegenwart. </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>Schivelbuschs
Arbeiten waren empirischer Natur, entsprangen der intensiven, monate- oft jahrelangen
Beschäftigung mit dem „Material“ (ein von ihm häufig gebrauchtes Wort, dessen
Betonung mir beim Niederschreiben vertraut in den Ohren klingt) und folgten
zugleich keinem klaren bis zum Ende durchdachten Konzept. Sie waren geprägt von
„glücklichen Zufällen“, wie er in unserem ersten Gespräch im Januar 2022
berichtete und nahmen den Gegenstand, dessen Aufmerksamkeit Schivelbuschs
jeweiliges Werk gerade galt, als für sich genommen ernst. </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>Dass diese
Hingabe an einen Gegenstand nicht ohne eine Wirkung auf den sich mit ihm
beschäftigenden Menschen abgeht, hat Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch „Das
verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion“ (2015) festgestellt. Wenn
man nach einer Systematik hinter Schivelbuschs Büchern sucht, so wird man hier
am ehesten fündig. Zentral für Schivelbusch ist in diesem schmalen Band der
Begriff der „Konsumtion“, den er Marx entlehnt. Ebenso steht einmal mehr der
Begriff der Arbeit im Fokus, der bereits frühere seiner Bücher durchzog. </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>Es ist die
Leistung dieses Textes, den Prozess der Konsumtion – dessen physischen Vorgang
er auch Assimilation nennt – genau nachzuvollziehen und festzuhalten, dass
Gegenstand und Mensch einander wechselseitig beeinflussen: „Bildlich kann man
sich den Vorgang vorstellen als ein Hinüberfließen des personalen Fluidums des
Trägers auf den Gegenstand. Gleichzeitig verläuft der Strom jedoch in der
umgekehrten Richtung“ (Schivelbusch 2015, S. 24). In den (mechanisch)
verfertigten Gegenständen, seien es z.B. Schuhe, stecke immer auch etwas von
ihrem jeweiligen Produzenten. So wie sich ein Schuh bei der Benutzung (ihrem
Verbrauch) nach und nach dem Besitzer anpasst, passt auch der Besitzer oder
dessen Körper sich dem Schuh an. Es mag sich Hornhaut ausbilden, eine bestimmte
Fußstellung einüben o.ä. </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>Im Verlauf
seines Textes reflektiert Schivelbusch, wie die Umstellung von der mechanischen
auf die industrielle Produktion von Gütern das Verhältnis zwischen Mensch und
Gegenstand verändert hat, spielt die Beziehung entlang des technischen
Fortschritts durch bis in die nähere und nahe Vergangenheit, in der die
hergestellten Produkte ihre Gestalt wandeln und zu Abbildungen im Bereich
Fotografie, Fernsehen, Film werden. Es ließe sich hieran anschließend sehr gut fragen,
ob die zunehmende Entfernung zwischen Produzent und Gut einen Einfluss auf
deren Beziehung hat – gerade, wenn wir z.B. an Umweltzerstörung und Klimawandel
denken, die Schivelbusch auf der letzten Seite des Textes benennt. </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>Den
Verlust, der sich im Zuge eines jeden Fortschritts zwangsläufig ergibt,
beschreibt Schivelbusch in seinen Büchern immer wieder. Sein letztes Projekt
hätte den daraus resultierenden Blick zurück („Goldene Vergangenheit“) genauer
untersuchen sollen, ebenso wie dessen ins Futur gewendetes Gegenbild „Goldene
Zukunft“. Man hätte diese Arbeit gerne gelesen; gerade unter dem Eindruck
aktueller politischer oder gesellschaftlicher Entwicklungen. </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-family: inherit; font-size: small;"><span>Leider wird
seine letzte Arbeit unvollendet bleiben. Der inspirierende Denker und wache
Beobachter Wolfgang Schivelbusch ist am 26. März 2023 mit 81 Jahren in Berlin
gestorben. </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><br /></p>Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-36335057791929894682022-07-07T12:11:00.002+02:002023-09-28T13:29:35.033+02:00Stabilität und Utopia. – Die Vielzahl gegenwärtiger Krisen und einige subjektive Voraussetzungen für Visionen.<p style="text-align: justify;"><i>"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Dieses Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (1918-2015) wird immer wieder dann gerne hervorgeholt, wenn die ausgetretenen Pfade der Realpolitik verlassen werden. Doch welche Antworten auf die multiplen Krisen, die wir derzeit erleben, kann die Realpolitik geben? Und welche Rolle könnten Visionen dabei spielen, diese zu überwinden? Ein Essay über Stabilität und Utopie. </i></p><p style="text-align: justify;">"Was hat dich bloß so ruiniert?", fragen die "Sterne" in ihrem 1996 erschienenen, gleichnamigen Song auf dem Album "Posen". Manchmal möchte man ob der gegenwärtigen Ereignisse aus dem "dich" ein "uns" machen. Egal, ob es um den Klimawandel, den Krieg in der Ukraine, eine dräuende Wirtschaftskrise oder die Beschneidung elementarer Rechte der Selbstbestimmung von Frauen über ihren eigenen Körper geht (Supreme Court-Entscheidung gegen das "Roe vs. Wade"-Urteil, welches Frauen in den Vereinigten Staaten das grundsätzliche Recht auf eine Abtreibung gab). Es scheint allzu leicht, am gegenwärtigen Zustand der Welt zu verzweifeln. Klug ist es nicht. </p><p style="text-align: justify;">Ohne Zweifel sehen wir uns derzeit mit einer neuen Phase der Instabilität konfrontiert. Der (noch nie selbstverständliche) Zuwachs eines immer mehr an Rechten für immer mehr Menschen ist ins Stocken geraten, die Zukunft liegt nicht mehr vor uns wie eine Verheißung - manche empfinden sie gar als bedrohlich. Ähnlich wie jemand, der sich unbemerkt von hinten anschleicht und uns plötzlich an der Schulter packt, erschrecken wir, fahren zusammen. Dabei blicken wir auf das Gewesene, das uns nun - denn wir bewegen uns ja doch Schritt für Schritt - je weiter wir uns davon entfernen, so vertraut vorkommt: Augenblick: Verweile doch! Du bist so schön! </p><p style="text-align: justify;">Es ist wie in Georgi Gospodinovs Buch "Zeitzuflucht", in dem er von
einem Glauben in den Anden berichtet, der annimmt, die Zukunft läge
hinter-, das Vergangene vor uns. Er schreibt: "Sie [<i>die Zukunft, TL</i>]
kommt überraschend und unvohersehbar hinter deinem Rücken hervor, doch
die Vergangenheit hast du immer vor Augen, sie ist schon geschehen"
(Gospodinov, 2022, S. 316f.). <br /></p><p style="text-align: justify;">Es ist dieses Spannungsverhältnis von einer uns stabil erscheinenden Vergangenheit und einem brüchigen Zukunftsversprechen, das uns vor der Vielzahl gegenwärtiger Krisen so starr und matt erscheinen lässt. Stabilität und Utopia stehen in einem Missverhältnis. - Eine derzeit häufig gegebene Antwort in der Politik ist, dass es nun pragmatische, "realpolitische" Lösungen brauche. Es wäre falsch, dies einfach abzutun. Denn selbstverständlich bedarf es bei gegenwärtigen Bedrohungen wie einer steigenden Inflation, dem durch Russland vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Ukraine, der grassierenden Waffengewalt in den Vereinigten Staaten oder einer sich verschärfenden globalen Hungerkrise schneller und "zielgerichteter" Lösungen. Aber allein mit der Eindämmung dieser Krisen ist es nicht getan. Denn je mannigfaltiger diese werden und auf je mehr Lebensbereiche sie abstrahlen, desto unwahrscheinlicher wird es, allein mit dem "Instrumentenkasten" (ein häufig gehörtes Wort unserer Zeit) der Realpolitik erfolgreich zu sein. Wir brauchen den Mut, uns umzudrehen, uns der Zukunft zuzuwenden und sie mit Visionen bewohnbar zu machen. </p><p style="text-align: justify;">Drei subjektive Voraussetzungen, die allein der Illustration dienen mögen, wie wir zu diesen Visionen kommen können, möchte ich exemplarisch skizzieren: <br /></p><p style="text-align: justify;"><b>(1) Zusammendenken, was zusammengehört</b></p><p style="text-align: justify;">Vor unser aller Augen breitet sich ein Panorama an Problemlagen aus. Diese könnten - alle für sich genommen - bearbeitet werden. Allerdings verkennt das einzelne Abarbeiten von Problemen (ausgelegt auf eine kurzfristige Lösung) seine Grenzen. Je mehr Probleme auftauchen, desto schwieriger wird es, sie auch für sich genommen zu lösen. Die Gründe hierfür liegen in ihrer jeweiligen Komplexität, dem monetären und personellen Aufwand (der sich vergrößert, je mehr Einzelprobleme vorliegen) und teils gegenläufigen gesetzlichen Regelungen, die zur Lösung der in Rede stehenden Themen getroffen werden. Konkurrierende Politikfelder und die manchmal unklare Zuständigkeit der jeweiligen politischen Ebenen (Kommune, Land, Bund) runden das Bild ab. Ein - allzu banal klingender - Lösungsansatz lässt sich unter dem Stichwort "Bündelung" zusammenfassen. Die Sammlung einer Reihe von ähnlich gelagerten Einzelproblemen und ihre gemeinsame Lösung setzt Kapazitäten und monetäre Mittel frei, um weitere Problembündel anzugehen. Zusammendenken, was zusammengehört heißt, mutig sein, Menschen mit unterschiedlichen Expertisen zusammenzubringen und diese gemeinsame Leitlinien für Problemkomplexe erarbeiten zu lassen. Dabei ist es lohnend, auch "fachfremde" Menschen in spezifische Themen einzubinden. Auch, wenn es zunächst seltsam anmutet: Es kann durchaus lohnend sein, einen Dichter und eine Finanzexpertin miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn die Kraft der Poesie liegt darin, mit Worten neue Türen zu öffnen. </p><p style="text-align: justify;"><b>(2) Sagen, was ist</b></p><p style="text-align: justify;">Demokratien leben vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Für eine umfassende Meinungsbildung bedarf es verlässlicher und vertrauenswürdiger Informationen durch Medien und Politikerinnen und Politiker, die in verständlichen Worten erklären, wie und warum sie bestimmte Themen bearbeiten. Darüber hinaus braucht es auch Foren der Verständigung: Regelmäßige Bürgerversammlungen und Konsultationsprozesse mögen hier ein Ansatz sein, um den Austausch zwischen Politik und Gesellschaft zu fördern. - Engagement benötigt zudem Vorbilder. Daher ist es wichtig, nicht nur die komplexen Problemlagen zu beschreiben, mit denen wir uns konfrontiert sehen, sondern auch "Geschichten des Gelingens" zu erzählen. Exemplarisch hierfür dienen Reportagen wie die von Deborah und James Fallows, die für das US-Magazin "The Atlantic" kleine Städte in den USA (fernab der überregionalen Berichterstattung) besucht haben, um sich ein Bild davon zu machen, wie fernab einer paralysierten Politik auf Bundesebene, kleine Ortschaften zu gemeinsamen kommunalen Lösungen finden. Trotz all der Probleme, mit denen sich auch diese Dörfer und Städte konfrontiert sehen, beschreiben die Fallows, wie viele Menschen in ihren "Communities" dafür arbeiten, das Leben vor Ort besser zu machen. Auch für andere Länder wären solche Reisen und Berichte sicherlich lohnend. Die Artikelsammlung lässt sich hier abrufen: <a href="https://www.theatlantic.com/our-towns/ ">https://www.theatlantic.com/our-towns/ </a></p><p style="text-align: justify;"><b>(3) Erforschen, was war<br /></b></p><p style="text-align: justify;">Es gab Zeiten, in denen sich die Vorstellung davon, was in Zukunft möglich wäre, geradezu überschlugen. Die Visionen in der Mitte des 20. Jahrhunderts beispielsweise reichten von Kolonien auf dem Mars (eine in unserer Zeit wieder recyclete Vorstellung) bis hin zu Atomantrieben für Autos. Ford hatte dafür schon 1958 ein Konzeptfahrzeug mit dem Namen "Nucleon" vorgestellt. Aber natürlich reicht das utopische Denken viele Jahrhunderte weiter zurück und lässt sich in den Konstruktionen eines Leonardo da Vinci oder der Vorstellung von Maschinen im Zeitalter der Aufklärung (Stichwort: "mechanische Ente" von Jacques de Vaucanson im Jahre 1738) erkennen. </p><p style="text-align: justify;">Auch politische Utopien wurden in den vergangenen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden immer wieder entworfen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" zu lesen, in dem er - wenn auch mit deutlich marxistischem Blick - eine Entdeckungsreise durch politische Utopien der vergangenen Jahrhunderte (beispielsweise eines Solon oder Thomas Morus) unternimmt. Gleich in seiner Einleitung schreibt er treffend: "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen" (Bloch, 1973, S. 1). </p><p style="text-align: justify;">Zu erforschen, was war, indem wir persönliche Streifzüge durch Literatur und Politik, durch Naturwissenschaften und Vergangenheit unternehmen, schult den eigenen Blick auf die Gegenwart. Wir erkennen Muster, wir entdecken neues. Und wir lernen zu hoffen, indem wir wagen zu träumen. </p><p style="text-align: justify;"><b>Abschluss</b></p><p style="text-align: justify;">Diese drei sehr subjektiven Voraussetzungen, um zu neuen Visionen zu kommen, mögen nicht für jede oder jeden hilfreich sein. Sie mögen sogar Widerspruch anregen. Doch gerade das macht sie produktiv. Sie befreien uns aus der Bängnis, die uns alle beim Blick auf die Krisen dieser Welt befallen mag. <i>Utopia </i>heißt so viel wie "Nicht-Ort". Machen wir daraus einen "Noch-Nicht-Ort" und zeigen wir uns offen gegenüber Lösungsansätzen, die wir routinemäßig vielleicht als Tagträumerei abgetan hätten. <br /></p><p style="text-align: justify;"> <br /></p><p style="text-align: justify;"><br /></p>Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-63496182457561369952022-05-03T23:08:00.003+02:002022-05-06T14:10:07.192+02:00Essay: Der Mensch und die Digitalisierung. Eine phänomenologische Abschweifung.<p style="text-align: justify;"><i>Philosophieren
heißt das Offensichtliche in Frage stellen, das Unausgesprochene in
Worte fassen, das Denken entdecken. Was passiert also, wenn wir uns
fragend der "Digitalisierung" nähern, die sich in immenser
Geschwindigkeit vollzieht und (beinahe) alle Lebensbereiche beeinflusst?
Welchen Einfluss hat sie darauf, was wir unter Menschsein verstehen?
Dieser Text versucht eine Annäherung in Form einer Abschweifung.<br /></i></p><p style="text-align: justify;">Der
Begründer der "Neuen Phänomenologie", Hermann Schmitz (1928-2021), hat
Philosophie einmal als ein "Sichbesinnen des Menschen auf sein
Sichfinden in seiner Umgebung" definiert.<i> </i>Philosophie ist danach
eine Methode, eine Antwort darauf zu geben, was der Mensch sei. Schmitz
hat sich dieser Frage im Anschluss an Edmund Husserl über die "Sachen
selbst" als Phänomene genähert. Abschließende Antworten auf die Frage,
was der Mensch sei, gibt es nicht. Die Frage stellt sich immer wieder
neu. Und vielleicht drängt sie gerade in einer Zeit, die so reich ist an
Umwälzungen und Umwertungen, mit neuer Macht in unser Bewusstsein. Viel
ist darüber geschrieben worden, wie allumfassend die Digitalisierung
unser aller Leben verändere, welche Verheißungen, welche Gefahren damit
verbunden seien. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob die
Digitalisierung unseren Blick darauf, was der Mensch sei, wandelt. <br /></p><p style="text-align: justify;">(1) Digitalisierung ist <i>Verlagerung</i>.
Nach und nach wandern Tätigkeiten, Gegenstände oder Emotionen, gar
Menschen aus dem analogen in den digitalen Raum ab. Raum meint hier
schlicht den "Ort, an dem das Digitale sich abspielt". Raum heißt: die
Möglichkeit haben, Dinge in Beziehung zueinander zu setzen. Wenn der
physisch vorhandene Raum sich auf ein Rechenzentrum verengt, kommt unser
<i>Wahrnehmung </i>von Raum eine andere Bedeutung zu. Es stellen sich
Fragen wie: Was verbindet uns im digitalen Raum? Wie nehmen wir das
Internet als "Ort" wahr? Welche Bedeutung hat unser physischer Standort
für unsere Wahrnehmung des Internets als Ort?<br /></p><p style="text-align: justify;">(2) Digitalisierung bedeutet <i>Entkörperlichung und Ent-grenzung</i>.
Was vorher einen festen, einen physischen Ort hatte, ist nun dem
Anschein nach ortlos. Oder schwächer formuliert: örtlich verlagert. Ein
Livekonzert in New York City lässt sich - bei stabiler
Internetverbindung - ohne Schwierigkeiten und mit kaum vernehmbarer
zeitlicher Verzögerung irgendwo in der norddeutschen Tiefebene empfangen
(Entkörperlichung). Erforderte die Teilnahme an einem Konzert in "Big
Apple" für einen Menschen aus Norddeutschland früher einen
Interkontinentalflug, den Übertritt einer Landesgrenze, ein Visum, eine
Anpassung an die Zeitverschiebung, lässt sich diese Erfahrung nun anders
machen (Ent-grenzung). Doch fragt sich z.B. wie diese Möglichkeit unser
Erleben eines solchen Ereignisses verändert und welche neuen Grenzen
diese Ent-grenzung setzt.<br /></p><p style="text-align: justify;">(3) Digitalisierung heißt <i>Vereinzelung. </i>Ein
virtuell empfangener Kuss als "Emoji" ist nicht auf den Lippen oder der
Haut spürbar. Auch die Wärme, die das Gesicht des Gegenübers abstrahlt,
der Duft eines Parfums, das Flirren und Beben, lassen sich virtuell
nicht übertragen. Der virtuelle Kuss bleibt in seiner Bedeutung gleich.
Er ist Ausdruck von Zuneigung; und diese ist im Inneren des den Kuss
Empfangenden wahrnehmbar. Er oder sie ist jedoch auf sich selbst
zurückgeworfen. Zuneigung findet somit in Abwesenheit der Person statt,
der die Zuneigung gilt bzw. die diese zeigt. Welche Bedeutung hat ein
Gefühl, dass erst über einen Intermediär (in diesem Fall das Emoji)
vermittelt werden muss, statt aktiv er<i>lebt </i>zu werden? </p><p style="text-align: justify;">(4)
Digitalisierung ist die Simulation von Realität, die zugleich Realität
formt. Eine im Netz ausgesprochene Drohung von einiger Schwere kann
strafrechtliche Konsequenzen haben. Nicht nur droht die Verbannung von
einer bestimmten Plattform, sondern auch eine in der analogen Welt
eingeleitete Ermittlung, an deren Ende ein Verfahren und eine
Verurteilung stehen können. Wie, also, wirkt der digitale Raum zurück in
die physische, in die analoge Welt? Und umgekehrt: Welche Konsequenzen
haben Handlungen im Analogen im digitalen Raum?<br /></p><p style="text-align: justify;">Schon
diese vier Miniaturen und die Fragen, die sie abschließen, zeigen, dass
die Digitalisierung keinesfalls bloß ein technischer Prozess ist. Sie
macht auch nicht schlagartig das Leben aller Menschen "einfacher", wie
gerne verkündet wird. Obgleich wir alle uns zunächst freiwillig dazu
entschieden haben "ins Netz zu gehen", ist die Wahrnehmung desjenigen,
der sich dort tummelt doch, dass aus einem einst grobmaschig geknüpften
Gebilde nun ein feinporiges geworden ist, das nur noch weniges
"durchlässt". Das heißt zum einen, dass es enorme Kraft kostet, sich aus
diesem Netz zu befreien, zum anderen, dass es kaum etwas gibt, dass
nicht schon davon "eingeholt" worden wäre.<span> </span> <br /></p><p style="text-align: justify;">Für
Immanuel Kant ließ sich das Feld der Philosophie auf vier Fragen
bringen, auf welche diese Antworten geben könne. Sie lauten: "Was kann
ich wissen?"; "Was soll ich tun?"; "Was darf ich hoffen?" und (wen
wundert es): "Was ist der Mensch?" Kant selbst stellte einen
unmittelbaren Bezug zwischen den ersten drei Fragen zur letzten her und
es erscheint sinnvoll, sie vor dem Hintergrund des digitalen Wandels
wieder einmal neu zu stellen. Meine Abschweifungen sind nicht mehr als
eine Probebohrung. Sie können
im Idealfall Hinweise für mögliche Forschungsfragen geben oder Anstoß
für andere sein, sich mit der Frage zu beschäftigen. </p><p style="text-align: justify;">Es
ist jedenfalls eine der erschütterndsten und zugleich beglückendsten
Erfahrungen desjenigen, der Philosophie treibt, dass
Begriffe, die man zumeist nur achtlos oder wenigstens gedankenlos im
Munde führt, zu flirren beginnen, unscharf oder uneindeutig werden, wenn
man sie befragt. Im Falle der Digitalisierung scheint mir die zentrale
Erkenntnis, dass - solange wir unsere physische Existenz nicht aufgeben
(können) - eine Wechselbeziehung zwischen dem Analogen und dem Digitalen
besteht. Der Mensch macht das Digitale, doch das Digitale macht auch
ihn. Die Frage, was der Mensch sei, muss heute zwangsläufig auch
über eine Annäherung an das Digitale stattfinden. <br /></p><p style="text-align: justify;"><br /><br /></p>Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-880362417328490992022-02-05T18:54:00.006+01:002023-09-28T13:29:23.548+02:00Von glücklichen Zufällen. – Eine Begegnung mit Wolfgang Schivelbusch. <p style="text-align: justify;"><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><i>Es ist ein kühler Tag Ende Januar als Wolfgang Schivelbusch und ich uns
in seiner Berliner Wohnung im Westend treffen. Über mehrere Stunden werden wir
sprechen und dabei nicht nur sein Leben als Lesender und Forschender, sondern
auch die Zeitläufte streifen. Von der griechischen Mythologie, über die
amerikanische Flagge bis hin zu Schivelbuschs Refugium in Brandenburg und den
Begriff der Nostalgie als analytische Kategorie – nichts bleibt unberührt.
Schivelbusch nennt diese Form des Gesprächs treffend „Spekulieren“. </i></span></span></p><div class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><p><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">Glaubt man dem „Leibniz-Zentrum
für Literatur- und Kulturforschung“ (ZfL), an dem Wolfgang Schivelbusch seit 2014
als Senior Fellow tätig ist, zählt dieser seit den 1970er-Jahren zu einem der
„international meistgelesenen deutschen Historiker“. Schon vor unserem Treffen
in Berlin frage ich mich, ob Historiker wohl die treffende Bezeichnung für ihn
ist. Sicher, Schivelbusch hat mit seiner bis heute als Standardwerk geltenden
„Geschichte der Eisenbahnreise“ (1977) oder seiner Geschichte der Genussmittel
„Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ (1980) Material- und
Kulturgeschichte getrieben. Doch viel eher charakterisiert ihn aus meiner Sicht
der etwas altmodische und zugleich so treffende Begriff eines Privatgelehrten. Schivelbusch selbst
verwendet diesen Begriff für sich auch – allerdings immer in Anführungszeichen.
</span><span style="font-family: inherit;"></span><span style="font-family: inherit;"> </span></span></p><p><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">Fern vom akademischen Betrieb hat
er sich einem Leser- und Forscherleben hingegeben, welches er in dem
exzellenten Gesprächsband „Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New
York und Berlin“ (2021) noch einmal Revue passieren lässt. Das Ideal an zwei
Orten heimisch zu sein, in der alten und der neuen Welt, die Welt also immer
aus der Perspektive eines Menschen zu sehen, der im Aufbruch begriffen ist
oder, um in einem Reisebild zu bleiben, auf gepackten Koffern sitzt, hat
Schivelbusch zu einem sehr originellen Beobachter gemacht.</span></span></p><p><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">In unserem Gespräch scheint diese
Beobachtungsgabe zusammen mit seiner Lust am Unkonventionellen immer wieder
durch. So schildert er, wie ihm die amerikanische Flagge über viele Jahre als
ein Symbol weltweiter Geltung erschienen sei. Für ihn ließen sich auf die
„stars and stripes“ alle positiven Bilder, die man von den USA haben konnte,
projizieren. Er nennt sie eine „menschenfreundliche Fahne“. Eines Tages – in
Livorno oder irgendeinem anderen italienischen Hafen – sieht Schivelbusch eine
Yacht unter amerikanischer Beflaggung. Er sagt: „Ich weiß, es gab keinen
Anlass. Aber plötzlich hatte ich ein Gefühl, von dem ich denken würde, dass so
ein Christdemokrat in den Zeiten des Kalten Krieges die Flagge der Sowjetunion
oder der DDR betrachtet hätte. Nämlich als das absolut Fremde, gar Feindliche.
Ohne, dass ich sagen könnte, wie diese Wende in mir herangereift ist, hat sich
mir dieses Bild stark eingebrannt“. Schivelbusch ist ein Meister starker Bilder
und Worte. Vielleicht ist es seine geistige Unabhängigkeit, die manch einem
unbequem sein mag, die ihn bis heute als einen (ehemals) klassischen Linken
ausweist. Zugleich ist diese Schilderung Ausdruck eines Denkens, dass als mehrdimensional
beschrieben werden könnte. Schivelbusch blickt nicht nur auf einen Gegenstand –
er hebt ihn auch an oder schaut dahinter. Der Titel seines jüngsten Buches „Die
andere Seite“, ist hier also durchaus programmatisch zu verstehen.</span></span></p><p><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">Ebenso wichtig für das
Verständnis seines Gesamtwerkes ist jedoch der Zufall – noch treffender wäre
der englische Begriff der <i>serendipity</i>,
des glücklichen Zufalls oder des Findens von etwas, dass man nicht gesucht hat.
In unserem Gespräch und seinem jüngsten Buch beschreibt Schivelbusch, wie seine
Arbeit im Archiv – das „Hineinschaufeln“ an Unmengen von Material – zunächst
nicht zielgerichtet gewesen sei. Eher habe sich aus dem Gelesenen ein Bild
gefügt oder eine Frage ergeben, der er dann näher nachgegangen sei. Ein Grund für
dieses Vorgehen mag gewesen sein, dass Schivelbusch sich nie als großen
Theoretiker verstanden hat. In der Rückschau lässt sich jedoch zumindest eine
„Methode“ (und ich verwende hier bewusst Anführungszeichen, da dies reine
Spekulation meinerseits ist) erkennen. Man könnte sie Schivelbuschs
persönliches <i>e pluribus unum </i>nennen.
Aus <i>vielem</i> – oder besser – einer
Fülle an Material, leitet er <i>eine</i>
Fragestellung ab, die er dann durch die Jahrhunderte verfolgt. Seine Liebe zu
kleinen Details, die das „große Ganze“ zu charakterisieren im Stande sind und
seine Sprache, die aus der Gegenüberstellung von Gegensätzlichkeiten
Verbindungen herzustellen vermag, sprechen dafür. </span></span></p></div><div style="text-align: justify;"><p><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">
</span></span></p></div><div class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><p><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">Für mich hat Wolfgang
Schivelbusch eine Sprache gefunden, die es ermöglicht, hinter den Dingen eine
weitere Sinnebene wahrzunehmen. Diese geht quasi natürlich von Gegenständen aus
– sie ist sogar körperlich spürbar. Doch muss erst jemand kommen, der diese
Geschichten zu erzählen vermag. Wolfgang Schivelbusch tut dies seit vielen
Jahrzehnten und es ist uns zu wünschen, dass er dies weiterhin tun möge. Denn
Schivelbusch lesen heißt Staunen lernen. </span></span></p></div>Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-65459082098071243372021-06-30T15:28:00.001+02:002023-09-28T13:27:56.509+02:00Beobachtungen: Joachim Löw und die Frage: Was bleibt?<p style="text-align: justify;"><i>Mit der Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen England am 29. Juni in Wembley (0:2) endet die Ära Joachim Löws als Bundestrainer. Was bleibt von ihm? - Neben der Rekordzahl von 113 Debütanten in seiner Amtszeit (2006-2021), sind dies vor allem eine vielfältige Nationalmannschaft und der Respekt seiner Spieler für ihn. Und natürlich: Fünf Turnierteilnahmen als Cheftrainer, die die Mannschaft mindestens bis ins Halbfinale trugen, der WM-Titel 2014 und der Confed-Cup-Triumph 2017.</i></p><p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Die deutsche Nationalmannschaft
ist nach 2018 abermals früh bei einem großen Turnier ausgeschieden. Das Achtelfinale der nachgeholten Europameisterschaft (EURO 2020) ging mit 0:2 gegen England im prestigeträchtigen Wembley-Stadion verloren. Trainer
der Nationalmannschaft damals wie heute: Joachim Löw. <br />Schon seit dem Vorrunden-Aus der
Nationalmannschaft bei der WM in Russland gilt Löw seinen Kritikern als angezählt. In
bunten Variationen las man davon, dass er „die Mannschaft nicht mehr erreiche“,
die falschen Spieler daheim gelassen habe (2018 traf dies Leroy Sané – der bei
dieser EM medial übrigens heftig kritisiert wurde) oder zunächst zu spät den
Umbruch eingeleitet habe (im Anschluss kritisierte man die „Ausbootung“ von
Mats Hummels, Jérome Boateng und Thomas Müller und forderte, Löw müsse die Spieler zurückholen).</p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Es war klar, dass Löw nach der Europameisterschaft den Staffelstab weiterreichen
würde. Sein Nachfolger ist sein ehemaliger Co-Trainer Hansi Flick, der beim FC
Bayern in der Corona-Saison 2019/20 alle Titel eingesammelt hat, die es im
Vereinsfußball zu gewinnen gibt. Doch bevor Flick übernimmt, wird Joachim Löws
Amtszeit von 82 Millionen Bundestrainerinnen und -trainern beurteilt werden – ebenso wie von der Sportpresse des Landes.
Schon heute Morgen (30.06.) schrieb die ZEIT davon, dass nun „bleierne Jahre“
enden würden – der „kicker“ vermisste ein „schlüssiges Konzept“ für die
Einwechselspieler gegen England und zitierte ehemalige Nationalspieler wie
Michael Ballack, die den Aufritt der Nationalelf kritisierten. </p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Können wir es uns wirklich so
einfach machen?</p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Sicher: Joachim Löw hat in seiner
Amtszeit Fehler gemacht. Wie jeder große Fußballtrainer. Man denke nur an den
allseits verehrten Pep Guardiola, der sowohl mit dem FC Bayern als auch (bisher) mit
Manchester City daran scheiterte, die Champions League zu gewinnen. </p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Vielleicht hätte Löw auf dem
Höhepunkt des Erfolges – also nach dem WM-Titel 2014 – seine Karriere als
Bundestrainer glanzvoll beenden können. Aber er war sich sicher, dass er den
deutschen Fußball noch einmal neu denken und prägen könnte – für ihn stand die
Mannschaft nicht am Ende eines langen Weges, sondern befand sich noch mitten
auf ihm. In einem notorisch unruhigen Deutschen Fußballverband waren Löw, seine
Co-Trainer und auch der viel kritisierte Oliver Bierhoff (Direktor Nationalmannschaften und
Akademie) Ruhepole, die der Nationalmannschaft einen Weg wiesen. Lange Zeit war
dieser geprägt von großen Erfolgen und denkwürdigen Spielen. Falls jemand einen
Beweis dafür sucht, dass Löw auch nach 2014 und der EM 2016 noch einen klaren
Plan hatte und eine Mannschaft anzuleiten wusste, schaue er noch
einmal den Confed-Cup aus dem Jahr 2017 an. Mit einem Kader, dem viele damalige Stammspieler fehlten und der die Besetzung der heutigen Nationalmannschaft auf einigen Positionen erstaunlich präzise vorzeichnet, gewann Löw das Turnier. <br /></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Löw
hat eine Ära geprägt und den deutschen Fußball vorangebracht. Immerhin ist er
einer von nur vier Weltmeistertrainern. Herberger (1954), Schön (1974),
Beckenbauer (1990), Löw (2014) – das ist die Reihe. </p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Die einzelnen Stationen von Löws
Wirken nachzuzeichnen, übersteigt die Länge dieses Gedankenabrisses. Wer einen Eindruck von der Ära Löw gewinnen will, findet mit "Joachim Löw - Die Story: Aus dem Breisgau zum Bundes-Jogi" einen ersten Überblick in der ARD-Mediathek. <br />Von meiner Seite nur so
viel: Unter Löw (ab 2004 als Co-Trainer, ab 2006 dann als Cheftrainer) ist die
Nationalmannschaft viel mehr zu einem Abbild unserer bunten Nation geworden,
als sie es vorher noch gewesen war. Die Zeit des „Rumpelfußballs“, die noch unter Klinsmanns
und Löws Vorgängern dominiert hatte, ist endgültig überwunden - dass sie wiederkommen wird, ist nahezu ausgeschlossen. Und auch das
Talentförderungssystem und das Vertrauen in junge Spieler hat vor allem Löw
maßgeblich mitgeprägt. In seiner Ära haben 113 Spieler bei der
Nationalmannschaft debütiert. Der Letzte war Jamal Musiala vom FC Bayern
München, den Löw somit für den DFB „gesichert“ hat. Denn Musiala hätte auch für
die englische Nationalmannschaft spielen können. In 198 Spielen unter Löw errang die
Nationalmannschaft 124 Siege (40 Unentschieden, 34 Niederlagen). Das entspricht 2,09 Punkten pro Spiel. – Allein diese
Zahlen beeindrucken. </p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Neben dem Platz hat Löw es (fast)
immer geschafft, seine Spieler von seinem Weg zu überzeugen – viele haben über
die Jahre sehr beeindruckt von ihm gesprochen (auch hier ist Musiala als
Letzter zu nennen, der sich – nach meiner Erinnerung – nach einem Gespräch mit
Löw für den DFB entschieden hat). Und auch langjährige Nationalspieler wie
Philipp Lahm, Per Mertesacker, Bastian Schweinsteiger oder Lukas Podolski
sprechen bis heute voller Respekt von Löw. </p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">Von der Fußballnation Deutschland
wurde Löw nie geliebt – so stand es heute Morgen aller Orten zu lesen. Man habe
ihn lange respektiert, doch das sei nach der WM 2018 auch ein wenig abgeebt. Wir
machen es uns aber zu leicht, wenn wir Joachim Löw nur an den letzten beiden
Turnieren messen und an ein paar schmerzhaften Niederlagen. </p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;">In den besten Momenten spielte
Löws Nationalmannschaft begeisternden Hurra-Fußball, war getragen von
ausgezeichneter Team-Chemie und einem entspannten und doch akribischen Trainer.
In den schwächsten Momenten unter Löw hat die Nationalmannschaft zu wenig
Dynamik nach vorne entwickelt und die zweifellos vorhandenen Spielideen nicht
auf den Platz bringen können. Doch blickt man zurück auf Löws lange Jahre bei
der Nationalmannschaft, überwiegen die positiven, die glanzvollen Momente. Nun
davon zu sprechen, dass „bleierne Jahre“ enden würden, greift viel zu kurz. Es ist ungerecht und es verkennt die Leistungen, die Joachim Löw und sein Team in den letzten 15
Jahren vollbracht haben. </p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"> </p><br />Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-54331176413285641122021-05-21T18:28:00.003+02:002023-09-28T13:27:45.393+02:00Essay: Gesellschaftliche Spaltung. – Warum Demokratie Nähe braucht.<p style="text-align: justify;"><i>Immer wieder lässt sich lesen, dass unsere Gesellschaft sich zunehmend spalte oder schon gespalten sei und es nur noch darum gehen könne die Tiefe der Gräben zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen (und innerhalb derselben) zu ermitteln und die entstandenen Klüfte wieder zuzuschütten. Wo fängt man da bloß an? - Ein Debattenbeitrag.<br /></i></p><div style="text-align: justify;">Einer Gesellschaft zu attestieren, dass sie gespalten sei oder zu zerbrechen drohe, ist kein neues Phänomen. Mit großer Zuverlässigkeit wird alle paar Jahre darüber geschrieben oder debattiert, geklagt oder davor gewarnt. </div><div style="text-align: justify;">Viel Lärm um Nichts also? - Nicht ganz. Denn das Warnen vor gesellschaftlicher Spaltung ist immer Ausdruck einer Unwucht innerhalb derselben. Am Anfang mag man sie kaum bemerken. Allenfalls jene, die ein besonders feines Gespür dafür haben, erfühlen eine Veränderung. Je stärker die Unwucht wird, desto manifester wird sie aber: Es ruckelt. Es wird ungemütlich. </div><div style="text-align: justify;">Oftmals geht diesem Phänomen eine Veränderung voraus, die das bisherige "Gleichgewicht" einer Gesellschaft verändert. Uns allen fallen Ereignisse der letzten Jahre ein, die als unabhängige Variablen oder Erklärungsansätze untersucht werden könnten. <br /></div><div style="text-align: justify;">Die Corona-Pandemie, die reale Sorge vor irreversiblen - durch den Menschen verursachten - Veränderungen des Klimas, die von bisher marginalisierten Gruppen öffentliche geäußerte Einforderung der ihnen zustehenden Rechte und ihr Wunsch nach Anerkennung oder durch Kriege oder klimatische Veränderungen angetriebene Migrationsbewegungen, sind nur einige dieser Ereignisse. </div><div style="text-align: justify;"> </div><div style="text-align: justify;">Um eines gleich vorweg zu nehmen: Die Komplexität jedes einzelnen dieser Ereignisse macht es unmöglich, das <i>eine</i> Phänomen zu identifizieren, dass verantwortlich dafür ist, dass Wissenschaft und Politik, Journalistinnen oder Intellektuelle vor einer (zunehmenden) gesellschaftlichen Spaltung warnen. Und um noch eines ganz klar zu formulieren: Die <i>eine</i> Erklärung gibt es ohnehin nicht. Und es soll hier auch nicht darum gehen, diese Phänomene zu analysieren. Sie sind vielmehr Beispiele dafür, entlang welcher Linien sich Konflikte in den letzten Jahren entzündet haben. </div><br /><div style="text-align: justify;">Für gewöhnlich haben Gesellschaften recht lange Kontinuitätslinien. Das heißt, dass etwa bestimmte Muster oder für gesellschaftsprägend erachtete Normen oder Praktiken entlang der Generationen weitergegeben werden. Mal wirken die Rituale und Praktiken, Normen oder Werte stärker, mal weniger stark. Und natürlich gibt es Brüche mit Traditionen, Wiederentdeckungen von Ritualen oder die Entwicklung neuer Perspektiven auf die jeweils in Frage stehenden Aspekte, die eine Gesellschaft formen. </div><div style="text-align: justify;"><br /></div><div style="text-align: justify;">Die Tatsache, dass wir gegenwärtig in so vielen Lebensbereichen miteinander darum ringen, was die "richtige" Haltung, was die "richtigen" Werte oder Überzeugungen seien, ist ein Hinweis darauf, dass wir das Ende einer Kontinuitätslinie erreicht haben könnten. In vielen Bereichen unseres Zusammenlebens stellen wir zurecht unser Handeln auf den Prüfstand. Wir diskutieren Machtfragen, Begriffe, Beurteilungen. </div><div style="text-align: justify;"> </div><div style="text-align: justify;">In einer offenen Gesellschaft sollte es selbstverständlich sein, das Miteinander beständig zu reflektieren. Das sollte nicht dazu beitragen, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen auseinanderzutreiben. </div><p style="text-align: justify;">Dass uns dies nicht besonders gut gelingt, sich - im Gegenteil - die Anzahl an blindwütig geführten Twitter-Debatten, hämisch bis strafrechtlich relevanten Kommentaren unter Youtube-Videos, Facebook-Posts oder in Zeitungsforen zu erhöhen scheint, es also regelmäßig zu "Filter-Clashs" (Bernhard Pörksen) zwischen sich diametral gegenüberstehenden Ansichten kommt, macht darauf aufmerksam, dass die Form der Auseinandersetzung ungenügend ist. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei in meinen Augen das heute häufig bevorzugte (oder zumindest das meist rezipierte) Medium der Auseinandersetzung: Das, was wir "Social Media" nennen. </p><p style="text-align: justify;">Demokratie lebt von ihrer physischen Komponente. Für Hannah Arendt ist gerade das (politische) Handeln eng mit dem öffentlichen Raum verknüpft. Demokratie lebt von Begegnung und Konfrontation, dem Austausch von Argumenten, dem Gespräch zwischen Menschen in einer Bürgerversammlung, der Gemeinderatssitzung, beim Museumsbesuch oder am Rande der Theatervorstellung. Der Umgang mit Vielfalt und Komplexität, auch der Gemeinsinn lassen sich am besten vor Ort einüben. </p><p style="text-align: justify;">Diese physische Komponente fehlt den digitalen Medien und macht sie damit untauglich, gesellschaftliche Spannungen zu überwinden. Natürlich können sie ein wichtiger Seismograph dafür sein, welche Themen Menschen "in dieser Sekunde" bewegen und welche Themen Menschen auseinandertreiben. Zugleich sind sie aber auch trügerisch, da Menschen hier nicht vor allem aus innerem Antrieb chatten oder posten, sondern auch aufgrund der aufmerksamkeitsökonomischen Logiken der jeweiligen Netzwerke. Es geht den Netzwerkbetreibern nicht so sehr darum, <i>was </i>unter einen Beitrag kommentiert wird, es geht darum <i>das </i>etwas gepostet wird. In dem Strom aus missliebigen Kommentaren, interessanten Artikeln und unterstützenswerten Petitionen nicht unterzugehen, verlangt Menschen andere Kompetenzen ab, als wenn es darum geht, sich aktiv in eine politische Debatte einzubringen. <br /></p><p style="text-align: justify;">Demokratie wird dort lebendig, d.h. physisch erlebbar, wo ein Mensch das "Wagnis der Öffentlichkeit" (Karl Jaspers) sucht. Dies geschieht nur dann, wenn es der Bürgerin geboten erscheint. Die Konfrontation oder Debatte sucht, wer aus innerer Überzeugung handelt. Einem inneren Impuls folgt sodann ein externes Feedback.<br />Digital finden all diese Prozesse laufend und jeweils ausschließlich im Inneren eines einzelnen Menschen statt. Der Wunsch sich zu äußern, der Gedanke wie etwas zu formulieren sei, die Gedanken zu den Reaktionen Einzelner auf den jeweiligen Beitrag. Das sorgt nicht unbedingt dafür, dass ein Mensch die Position eines Anderen besser nachvollziehen kann, da er kein unmittelbares Feedback eines Gegenübers erhält. Natürlich entstehen extern zum Beispiel optische Reize - aber alle anderen Sinne - der Gehörsinn oder der Geruchssinn beispielsweise - werden nicht im gleichen Maße stimuliert wie wenn eine Person ihre Äußerungen in einem zu kleinen und überhitzten Gemeindesaal an einem kalten Winterabend in der Uckermark tätigt. Es öffnet sich der Person ein anderer Erfahrungsraum, der Verständnis für einem entgegenstehende Positionen ermöglicht. </p><p style="text-align: justify;">Darüber hinaus sind "soziale Netzwerke" geschlossene Systeme. Sie sind in einer gewissen Weise exklusiv, da sie zum Beispiel erfordern, dass Menschen sich in ihnen anmelden und damit den AGBs oder Regeln der Netzwerkbetreiber zustimmen oder sie eine eigene Form der Sprache (Codes) erlernen müssen, um sich zu verständigen (z.B. TL;DR - "too long, didn't read" auf Plattformen wie Twitter). <br />Natürlich hat auch der öffentliche Raum damit zu kämpfen, dass er nicht überall barrierefrei oder inklusiv ist und somit die gesellschaftliche Teilhabe für Mitglieder unserer Gesellschaft erschwert - im Gegensatz zu digitalen Plattformen jedoch, können wir die Spielregeln einer Gesellschaft unmittelbar mitgestalten. So können wir auch hier gesellschaftliche Spaltung überwinden, indem wir uns auf die "kleinste gemeinsame Wirklichkeit" (Mai Thi Nguyen-Kim) verständigen. <br /></p><p style="text-align: justify;">Demokratie braucht Nähe und physische Präsenz. Bei all den Debattenanstößen und heiteren Kleinigkeiten, die die "sozialen Medien" uns geschenkt haben, können sie das nicht ersetzen. Wollen wir gesellschaftliche Spaltung überwinden, müssen wir als
Bürgerinnen und Bürger von unserem Recht Gebrauch machen, uns in politische
Debatten über Grundüberzeugungen, Werte, Normen oder auch "nur" die Frage, ob in der Kommune ein neues Schwimmbad entstehen sollte, einzubringen - und zwar vor Ort. </p><p></p><p><i><b> </b></i></p><p><i><u><b>Hinweis: </b></u><b>Die oben stehenden Überlegungen setzen natürlich voraus, dass wir die Corona-Pandemie überwunden haben. </b></i><br /></p>Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-47059126025178999492021-02-01T15:50:00.006+01:002023-09-28T13:27:37.401+02:00Gesellschaften lesen lernen. – Eine digitale Begegnung mit Insa Wilke. <p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><i><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">Seit Februar
2020 planen Insa Wilke und ich ein Gespräch in Berlin. Dann kommt Corona.
Mehrere Versuche, uns persönlich zu treffen scheitern am Lockdown oder an einer
vorsorglichen Quarantäne auf meiner Seite. Schlussendlich verlegen wir unser
Gespräch ins Digitale, treffen uns im November 2020 zum Interview. - Es wird
ein Gespräch über Insa Wilkes Vita, Kultur in Zeiten von Corona, das Lesen und
Schreiben - und darüber, was es heißt, eine Intellektuelle zu sein. </span><span style="font-family: inherit;"><br /><br /></span></span></i><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">Die Frage, was ein Intellektueller sei, lässt sich wohl am besten
beantworten, wenn man Intellektuelle nach einer Selbstverortung fragt. Denn
folgt man Alex Demirović, so ist die „Bestimmung des Intellektuellen (…)
eine Selbstbestimmung“. Als ich Insa Wilke frage, was es für sie heiße, eine
Intellektuelle zu sein, antwortet sie treffend: „Eine intellektuelle Person ist
eine, die lesen kann. Lesen
meine ich hier ganz allgemein: Es geht um das Lesen von Situationen oder der
Gesellschaft und das Herstellen von Zusammenhängen“. Insa Wilkes Vita ist
geprägt davon, eben jene Zusammenhänge durch verschiedene Medien hindurch
herzustellen. </span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">
</span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">
</span></span></p><p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">Ausgangspunkt
ihrer Faszination für das Lesen ist ihre Mutter, die Insa Wilke und ihrer
Schwester abends vorgelesen hat. In ihrem Zuhause gab es viele Bücher, was dazu
führte, dass sie diese früh als etwas Wertvolles und das Lesen als etwas
Wichtiges verstanden hat.</span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"></span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><br />In
ihrer Jugend liest sie viel, zum Beispiel Fantasyromane wie die von Wolfgang
und Heike Hohlbein. Die Klassiker – Goethe oder Kleist in etwa – lernt sie erst
in ihrem Studium der Germanistik kennen, dass sie aufnimmt, weil ihr ein
Psychologie-Studium ausgeredet wird. „Naja, Literatur ist ja wie Psychologie“, sagt
sie mir lachend. Sie lernt in Göttingen, Rom und Berlin. Ein studienbegleitendes
Volontariat am Literarischen Zentrum in Göttingen ab 2004 bringt sie mit der
Gegenwartsliteratur in Berührung; ebenso wie mit dem Schreiben erster
Literaturkritiken für die „Frankfurter Rundschau“. Wie kam es dazu? Insa Wilkes
Antwort: „Hauke Hückstädt hat damals das Literarische Zentrum geleitet. Einmal
hatte er plötzlich keine Zeit, eine mit der FR vereinbarte Rezension zu
schreiben und fragte mich, seine Volontärin, ob ich einspringen wolle. Das habe
ich dann gemacht und Ina Hartwig, die damals Literaturredakteurin bei der FR
war und die mir viel beigebracht hat, war einverstanden es mit einer Anfängerin
zu probieren. Daraus hat sich in gewisser Weise ein Schneeballsystem ergeben.
Eines ergab das andere – richtig geplant war das nicht“.</span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"></span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"> </span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><br />2009
wird sie an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über den Dichter
Thomas Brasch promoviert, übernimmt in dieser Zeit auch Lehraufträge an der FU
im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Nach und nach kommen immer neue
Medien hinzu, die sie bespielt. Zunächst ist es das Radio. „Mir wurde zu Beginn
von meinem Kollegen Michael Kohtes gesagt, dass sich im Radio die Dinge anders
vermitteln als über einen Text – nämlich über Atmosphäre“, erklärt Insa Wilke
mir. Basis sei für sie allerdings immer das Schreiben geblieben: „Da muss man
sich präzise Gedanken darüber machen wie man formuliert und was genau in Texten
man analysieren möchte. Ohne das zu tun, bestünde aus meiner Sicht die Gefahr,
oberflächlich zu werden“. Dies gilt umso mehr, seit das Fernsehen hinzugekommen
ist. Neben Ijoma Mangold (DIE ZEIT) und Denis Scheck ist sie festes Mitglied
des „lesenswert“-Quartetts im SWR: „Im Fernsehen spricht man lockerer und ist
weniger eng am Text. Wenn man da nicht die Rückbindung hat, zum Beispiel genau
die Form zu analysieren, dann fehlt einem da etwas“. </span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><br />Liest
man Insa Wilkes Rezensionen, so fällt auf, dass sich in ihnen häufig ein
Leitmotiv findet. Früh im jeweiligen Text wird ein Satz vorangestellt, ein Bild
aufgegriffen, ein zentrales Wort eingeführt. Egal, ob es sich um
Reiseliteratur, literaturhistorische Betrachtungen oder feministische Lyrik
handelt. Wilke schafft es so, ihren Leserinnen und Lesern eine Brille für einen
Text zu leihen, der sie Werke anders entdecken lässt als ohne diesen geliehenen
Blick. Literaturkritik ist also nicht bloß Urteil, sondern auch eine Einladung,
Autorinnen und Autoren zu entdecken. Es scheint daher treffend, wenn Insa Wilke
ihr Verständnis von ihrer Rolle als Moderatorin beschreibt: „Das Moderieren
ermöglicht mir einen anderen Zugang zu Autorinnen und Autoren. Da geht es nicht
primär um ein Urteil, sondern um die Frage: ‚Was ist das Interessante an einem
Werk?‘ oder ‚Worum kreist es?‘“</span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><br />Eine
Grundhaltung ihres Verständnisses von Literaturkritik und dem Literaturbetrieb,
schimmert durch diese Antwort hindurch. Auf meine Frage, was sie an ihrem Beruf
störe, antwortet sie in Bezug auf den Literaturbetrieb: „Vieles daran ist Show,
man selbst läuft Gefahr in Routinen zu geraten oder sich selbst zu wichtig zu
nehmen. Das ist manchmal für mich frustrierend, manchmal macht es mir auch
Angst, weil ich es wichtig finde, dass man die Sachen ernst nimmt. Literatur
ist ja zumeist etwas Ernstes. Denn viele Leute haben da viel Lebenszeit
reingesteckt. – Kurz gesagt: Die Rückbindung an Lebenswirklichkeiten ist mir
wichtig“. In diesem Zusammenhang kommt sie auch auf Clemens Setz‘ Rede beim
Ingeborg-Bachmann-Preis 2019 zu sprechen. Er verglich dort den Literaturbetrieb
mit Wrestling, was Insa Wilke nach eigener Aussage sehr eingeleuchtet habe. Die
oberste Regel beim Wrestling sei es, so Setz, nicht aus der Rolle zu fallen (<i>Kayfabe</i>). Den versammelten Kandidatinnen
und Kandidaten im Wettbewerb gab er mit, die Regeln (und somit wohl auch
Rollen) der deutschsprachigen Literatur zu kennen und diese zugleich dringend
zu meiden.</span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"></span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><br />Insa
Wilke beweist während unseres Gesprächs, dass sie diese Rollen gut kennt –
ebenso wie sie die Bedeutung der Kultur im Allgemeinen als Herstellungsleistung
von Gemeinschaftlichkeit zu würdigen weiß. In Bezug auf die schwierige Zeit,
die Solokünstlerinnen, Veranstalterinnen oder Freiberufler im Kulturbereich in der Corona-Pandemie durchmachen, sagt sie: „Natürlich ist die Tätigkeit
einer Ärztin oder eines Krankenpflegers unmittelbar erst einmal wichtiger. Aber
gerade Lesungen oder regionale Literaturfestivals tragen auch bei zur
Herstellung oder Aktivierung einer politischen Öffentlichkeit“. Zugleich stört Wilke
in der Kulturszene eine gewisse Larmoyanz. Es wäre gut, meint sie, aus einer
Haltung der Stärke zu argumentieren und auch zu sehen, welche Möglichkeiten die
Kultur – im Gegensatz zu einer 400-Euro-Fußpflegerin oder einer nicht
festangestellten Reinigungskraft hat – Öffentlichkeit für sich herzustellen. Es
werde viel zu häufig aus einer Position der Schwäche Kritik an
Benachteiligungen geübt. Wobei Öffentlichkeit eben manchmal weniger nütze als
die Verhandlungen in Hinterzimmern, in denen die Chefs von Banken, Auto- und
Stromkonzernen ein und aus gehen. Und sie weist darauf hin, dass es eine ganze
Reihe von Behörden gibt, denen möglicherweise das Verständnis dafür fehle,
warum Kultur auch und gerade in Krisenzeiten wichtig und auch ein
Standortfaktor sei. „Es ist in Krisensituationen wie dieser wahrscheinlich
wirklich ein Problem, dass es in der Kulturszene keine Gewerkschaft gibt. Klar,
es gibt den Kulturrat, aber nicht wirklich eine organisierte Institution. In
den zuständigen politischen Institutionen wiederum arbeiten zu wenig Menschen,
die wissen wie eine selbständige Künstlerin lebt, wie ihr Alltag aussieht, was
sie verdient und wie. Dann ist man eben allein von der Selbstorganisation abhängig“,
stellt Wilke fest.</span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"></span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"></span><span style="font-family: inherit;"></span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><br /><br />Die
Corona-Krise hat die bunte Kulturszene ihrer Präsenzkomponente beraubt.
Lesungen finden, wenn überhaupt, nur digital statt, Literaturfestivals müssen
ebenso im Netz ausgestrahlt werden wie Konzerte; die Museen sind geschlossen.
Umso wichtiger ist es, dass Intellektuelle wie Insa Wilke unser aller Leben
unter geänderten Vorzeichen lesen lernen, ihre Weltsichten entwerfen und diese
mit der Öffentlichkeit teilen: „Ich merke im Moment tatsächlich, dass wir in
einer Situation sind, die einem Angst machen kann – ebenso wie die gesellschaftliche
Entwicklung der letzten Jahre. Egal an welchem politischen Pol man sitzt. Als
Gegenpol braucht man ganz dringend Lebensfreude“. Gerade hierbei müsse sie oft
an Roger Willemsen denken, dessen Nachlassverwalterin Wilke ist. Willemsen habe exemplarisch bewiesen,
wie man Gesellschaft lesen könne, ebenso wie er Lebensfreude verkörpert habe.
Zugleich schimmere in Willemsens Werk eine Melancholie hindurch, die vielleicht
erst eine jüngere Generation entdecken könne. </span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"></span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;"><br /></span></span><span style="font-size: small;"><span style="font-family: inherit;">Insa
Wilke und ich sprechen in diesem Zusammenhang über die nachgelassene Rede „Wer
wir waren“, die auf der einen Seite Sorgen vor der Zukunft formuliere, diesen
auf der anderen jedoch eine produktive Lesart entgegenstelle. Die Idee, dass
man aus der Zukunft auf die Gegenwart schaue, berge ja eben die Hoffnung, dass
es eine Zukunft gäbe, stellen wir fest. </span></span></p>
<p class="MsoNormal" style="text-align: justify;"><i><span style="font-family: "Times New Roman",serif; mso-fareast-font-family: "Times New Roman"; mso-fareast-language: DE;"> </span></i></p>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-50536905784529176122020-07-08T18:23:00.001+02:002023-09-28T13:29:09.968+02:00Essay: No Future? – Politische Rhetorik nach der Corona-Pandemie.<div style="text-align: justify;">
<i>Die Corona-Pandemie hat Staaten rund um den Globus getroffen. In einigen Ländern sind die Zahlen der Neuinfektionen mittlerweile rückläufig, in anderen - wie den Vereinigten Staaten von Amerika - werden seit einigen Tagen wieder deutlich steigende Fallzahlen gemeldet. Klar ist: Die Pandemie ist nicht vorüber und zeigt die Fragilität dessen, was wir als "normales" Leben ansehen. Wie wird die Politik reagieren? </i></div>
<div style="text-align: justify;">
<i><br /></i></div>
<div style="text-align: justify;">
Das Jahr 1977 gilt als Geburtsstunde des Schlagwortes "No Future". Die britische Punk-Band "Sex Pistols" hatte es in ihrem bekannten Song "God Save the Queen" geprägt. Seither gab es reihenweise Interpretationen dieses Slogans und popkulturelle Referenzen. Eine besonders im deutschsprachigen Raum bekannte dürfte noch immer Falcos "Helden von heute" (1982) sein. Er singt darin: "Brot und Spiele san gefragt/ "No future" extrem angesagt". </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Das Schlagwort "No Future" charakterisierte den drastischen, sehr allgemein formulierten Wunsch, dass "System zu zerstören" (so hat es "Sex Pistols"-Sänger Johnny Rotten in seiner Autobiografie formuliert), aber auch die Verzweiflung vieler Menschen angesichts der realen Bedrohung durch einen Atomkrieg im Kontext des Kalten Krieges oder des immer weiter in den Blick tretenden Ausmaßes an Umweltzerstörung. Zur Erinnerung: Der "Club of Rome"-Bericht "Die Grenzen des Wachstums" war 1972 erschienen. Ölteppiche auf den Weltmeeren, kahle und verdorrte Bäume oder Betonwüsten wurden zu Vanitas-Gemälden, die den Menschen ihre eigene Vergänglichkeit bewusst machten. Politisches Handeln wurde von einigen als nicht ausreichend beschrieben - die Zukunft stand aus ihrer Sicht auf dem Spiel. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Der Reflex die Zukunft abzuschreiben und von einer "verlorenen Generation" zu sprechen, zeigt sich auch während der Corona-Pandemie. Auf verschiedenen Ebenen wird die Systemfrage gestellt, werden Strukturen und Institutionen hinterfragt und angezählt. Gleichzeitig zeigen sich verloren geglaubte Reflexe (Stichwort: Solidarität) und Zukunftsoptimismus (viel wird von der "Krise als Chance" oder der sich beschleunigenden Digitalisierung als "Hoffnungsschimmer" gesprochen). Unabhängig davon, wie man jene Reaktionen des Menschen auf die gegenwärtige Krise bewertet, so ist zu konstatieren, dass darin Unmut mit der gegenwärtigen Lage zum Ausdruck kommt. Weder in Bezug auf Fragen der Globalisierung oder Digitalisierung, noch in Bezug auf angemessene Reaktionen auf den Klimawandel oder gesellschaftliche Herausforderungen wie Ungleichheit auf verschiedenen Ebenen, passiert den sich in ihren Forderungen und Interessen mal mehr, mal weniger überschneidenden Akteuren genug. Darüber hinaus offenbart die Corona-Pandemie, wo genau Menschen Probleme am eigenen Leibe erfahren oder Herausforderungen vermuten.<br />
Die Analyse einzelner Probleme würde den Rahmen dieses Essays sprengen - sie ist an anderer Stelle bereits voll im Gange. Jutta Allmendinger hat in der <a href="https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/familie-corona-krise-frauen-rollenverteilung-rueckentwicklung/komplettansicht" target="_blank">"ZEIT"</a> vor einer "entsetzlichen Retraditionalisierung" von Frauenrollen gewarnt, Heinz Bude im "<a href="https://www.ndr.de/kultur/Soziologe-Heinz-Bude-ueber-Corona-Weltgeschichtliche-Zaesur,corona2504.html" target="_blank">NDR</a>" - die Pandemie als "weltgeschichtliche Zäsur" bezeichnend - die wiedererstarkende Rolle des Staates betont. Jürgen Habermas, der wichtigste deutsche Philosoph nach Ende des Zweiten Weltkrieges, hat in der "<a href="https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/juergen-habermas-coronavirus-krise-covid19-interview-13642491.html" target="_blank">Frankfurter Rundschau</a>" wiederum herausgestellt, dass es noch nie so viel "Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen" gab. Viele andere Felder - Bildungs- und Sozialpolitik, ökonomische Folgen für Einzelpersonen, Familien, Berufsgruppen oder Staaten sowie multilaterale Entwicklungen - werden ebenfalls aus einer "Corona-Perspektive" betrachtet.<br />
<br />
Die Chance all dieser Perspektiven besteht darin, dass die Politik sich nun noch einmal neu ausrichten kann. Viele Probleme (seien es soziale Ungleichheit, die noch immer bestehende Verbindung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, der Klimawandel oder die (gesetzliche) Regulierung des Internets) sind bereits seit langer Zeit bekannt. Viele empfanden die Politik in diesen Bereichen in den letzten Jahren als zu zaghaft.<br />
Die Corona-Pandemie gibt der Politik jedoch nun ein einfaches Mittel sich eingehender mit den als drängend empfundenen Problemen zu beschäftigen: Rhetorisch lässt sich sehr einfach behaupten, dass diese Krise gezeigt habe, dass auf dem Politikfeld x und in Bezug auf Gesetz oder Verordnung y noch dringender Handlungsbedarf besteht. Die Politik kann hier also auf vorher weniger bestellten Politikfeldern an (Output)-Legitimität gewinnen, wenn sie rhetorisch plötzlich die Verbindung zwischen einem schon länger bestehenden Problem und der Pandemie herstellt. <br />
<br />
Zugegeben: Diese Form der politischen Rhetorik verschweigt den Umstand, dass einige Probleme von den unterschiedlichen Parteien mal mehr, mal weniger vernachlässigt wurden. Sie birgt auch die Gefahr, dass Wählerinnen und Wähler die entsprechenden Parteien an der Urne abstrafen, weil sie dieser Rhetorik nicht auf den Leim gehen. Klar ist jedoch, dass Politik in allen Feldern lange "in Bezug auf Corona" stattfinden wird und es daher sehr wahrscheinlich ist, dass sich diese Form der politischen Rhetorik häufiger zeigen wird. Wenn das am Ende dazu führt, dass demokratische Politikerinnen und Politiker ihr Handeln neu ausrichten und die in vielen Bereichen seit Jahren bekannten Probleme neu bewerten, so ist dies ein Hebel für den notwendigen politischen Wettbewerb in einer Demokratie. Wettbewerb zwischen den demokratischen Parteien bestünde dann nicht im
Umstand, ob eine Partei ein bestimmtes Problem als solches erkannt habe,
sondern welche Lösung sie dafür vorbrächte.<br />
Denn Demokratie ist auch und vor allem ein Wettstreit der Ideen. Politik ist nie ein in sich geschlossener Kosmos mit Patentlösungen für jede unvorhergesehene Wendung. Die politische Rhetorik hilft dabei, die Verbindung zwischen hinlänglich bekannten Missständen und geänderten Rahmenbedingungen herzustellen.</div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-65836790404227847412020-03-11T17:37:00.001+01:002023-09-28T13:27:29.246+02:00Essay: Norm und Wirklichkeit. – Versuch über eine "Ethik des Verbindenden".<div style="text-align: justify;">
<i>Oft genug wird unter Einsatz des Begriffs "Moral" derzeit das Handeln einer Person, die gegenläufige Meinungen zu denen einer anderen vertritt, abqualifiziert. Eine mögliche Begründung für dieses vertraute Muster gegenwärtiger Debatten ist die Absolutsetzung reaktionärer wie progressiver Normen. Dieser Text plädiert für eine in drei Bausteinen (Kriterien) beschriebene "Ethik des Verbindenden", die das Ringen um einen Minimal-Konsens wieder in den Mittelpunkt stellt. </i></div>
<br />
<div style="text-align: justify;">
Betrachtet man die gegenwärtig in der Öffentlichkeit und auch im Privaten ausgetragenen Gespräche, so fällt auf, dass wir häufig davon sprechen, dass diese "moralisch aufgeladen" seien. Es gibt Ewiggestrige, die jedwede Form von Veränderung mit wüsten Anwürfen zurückweisen und sich in ein non-existentes "Damals" oder "Früher" zurückwünschen, und es gibt jene, denen der Wandel gar nicht schnell genug gehen kann und die das Hinterfragen bestimmter Ideen schon als Affront interpretieren und sich den Kritikern gegenüber unversöhnlich bis unbarmherzig zeigen. Was beide Seiten eint, ist ein Hang dazu, ihre jeweiligen handlungsleitenden Prinzipien absolut zu setzen. Mir ist wichtig, dass es in diesem Text weder um die Bewertung der Qualität der reaktionären, noch der progressiven Normen geht, ebenso wie es mir notwendig erscheint klar zu machen, dass der Ausgangspunkt meines Denkens von jeher die Unantastbarkeit der Würde jedes und jeder Einzelnen war und mir die Menschenrechte als Orientierung in der Welt dienen. </div>
<div style="text-align: justify;">
Was mich in diesem Text interessiert, ist die Frage, wie wir mit "Leidenschaft und Augenmaß" (Max Weber) zu einer (normativen) <i>Ethik des Verbindenden</i> kommen können. Meine These ist hierbei, dass bei all der Relevanz, die Moral (zumindest als Begriff) in unseren gegenwärtigen Debatten zu spielen scheint, ihr Ausgangspunkt (eine ihr zugrunde liegende Ethik also, die ein bestimmtes Verständnis von Moral begründet) vollkommen unklar ist. Eine seit jeher in diesem Zusammenhang gestellte Frage lautet: Was soll ich tun? (siehe z.B. die Kantischen Fragen).<br />
<i></i></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<div style="text-align: justify;">
Christoph Möllers hat in seinem luziden Buch "Die Möglichkeit der Normen" (2015) Normen als "positiv markierte Möglichkeiten" charakterisiert, die "auf einen möglichen Zustand oder ein mögliches Ereignis" verweisen. Er sieht in ihnen die Möglichkeit "Distanz von der Welt" zu nehmen, ohne dass man sich zu früh "dem Problem der Rechtfertigung" (der Normen) zuwendet. - Diese Möglichkeit Distanz von der Welt zu nehmen und sich somit die Frage zu stellen wie sie sein könnte, ist in meinen Augen der erste Baustein einer <i>Ethik des Verbindenden</i>. Jeder konkreten Verhaltensregel und dem Handeln danach liegt ein Nachdenken darüber zugrunde. Dabei mündet das Nachdenken über die Möglichkeiten einer Norm noch nicht zwangsläufig in Appellative. Diese entfalten sich erst auf Basis der Zusammenschau verschiedener Normen zu einer bestimmten Vorstellung von Moral. - Die Frage wie etwas sein könnte, ist grundsätzlich eine produktive. Sie weist in die Zukunft und eröffnet neben einer von Grund auf neu gedachten Idee wie Welt zu organisieren sei, auch die Möglichkeit diese Zukunft nach einem bereits bestehenden (oder gar vergangenen) Modell zu entwickeln. Wichtig ist, dass all diese Ideen eine Unsicherheit in sich tragen, weil sie die Stabilität der gegenwärtig existenten, in Frage stehenden Norm (und daran angeschlossener Verhaltensweisen o.ä.) erst einmal erodieren. Dies zu begreifen, ist wichtig, um den Wandel anderen, die sich unterscheidende Vorstellungen haben, nachvollziehbar machen zu können. Dieser Umstand weist auf die Relevanz von Verständigung zwischen unterschiedlichen Interpretationen von Welt hin, die der zweite Baustein aufgreift.<br />
<br />
Dieser zweite Baustein einer <i>Ethik des Verbindenden </i>muss die - kaum überraschende - Einsicht beinhalten, dass nichts im Leben eines Menschen so stetig ist wie der Wandel. Einen Anspruch auf dauerhaft gültige Normen und ewig bestehende Moralvorstellungen gibt es daher nicht. Weiter oben habe ich darauf verwiesen, dass gerade dieser Absolutheitsanspruch derzeit jedoch sowohl im reaktionären wie auch im progressiven Lager verfängt. Dabei müsste statt einer Absolut-Setzung die Fähigkeit zur Aushandlung eines Minimal-Konsenses stehen, ebenso wie ein stärkerer Fokus auf der Begründung der jeweiligen Vorstellungen. Nur so bleiben unterschiedliche Interpretationen der Welt und dessen, was und wie sie sein könnte, miteinander vereinbar (um nicht zu sagen: möglich). Der Raum dessen was möglich wäre, entfaltet sich erst da, wo Welt unterschiedlich ausgedeutet werden kann. Die Schwierigkeit besteht darin, auch bei diametral gegenläufigen Interpretationen von Welt untereinander sprachfähig zu bleiben. Mit anderen Worten: Es bedarf gewisser Grundkonzepte, auf die man sich in ihrer Bedeutung einigen können muss, um dann um ihre genaue Umsetzung (Konzeption) zu ringen (concept/conception-Unterscheidung nach Rawls).<br />
Für den Begriff der Gerechtigkeit, beispielsweise, gilt laut der <i>Stanford Encyclopedia of Philosophy </i>die Beschreibung des Begriffs der Gerechtigkeit in den <i>Institutiones Iustiniani </i>als plausibelste Grunddefinition des Konzepts. Hierbei wird Gerechtigkeit als "beständiger und andauernder Wille jedem das Seine zukommen zu lassen" definiert (Lateinisches Original: "<i>iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens</i>", I. 1.1). Basierend auf diesem Grundverständnis kann nun um die daraus folgenden Normen oder Handlungsanweisungen gerungen werden.<br />
Zur Erzielung eines Minimal-Konsenses erscheint es grundsätzlich sinnvoll, die Geschichte von Begriffen und die Bedeutung einzelner Normen und Moralvorstellungen nachzuvollziehen. Sie alle nehmen zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext ihren Ausgang und vollziehen im Laufe der Jahrhunderte mehr oder weniger große Wandlungen. Eine möglichst schlüssige Herleitung der eigenen Überzeugung, was die Möglichkeit einer bestimmten Norm sei, macht eine Verständigung über gemeinsame Grundüberzeugungen wesentlich leichter. Zugleich fördert sie offensichtlich unvereinbare Ideen zutage. Hier muss nun der Wille das Verbindende zu suchen, einsetzen. Präzise Nachzeichnungen der Begriffsgeschichte bedeutender Grundkonzepte der Philosophie (z.B. Gerechtigkeit, Freiheit, Wille) könnten hier einen großen Beitrag leisten.<br />
<br />
Neben den zwei zuvor genannten Bausteinen (Kriterien) einer <i>Ethik des Verbindenden </i>- Normen als Möglichkeit Distanz von der Welt zu nehmen (1) und die Suche nach einem Minimal-Konsens zwischen unterschiedlichen Interpretationen von Welt (2) - muss ein dritter Baustein die grundsätzliche Rahmung des Nachdenkens über eine bestimmte Moral und ihre Begründung (Ethik) bilden. Meines Erachtens nach bilden die Menschenrechte in ihrer Unveräußerlichkeit eben diesen Rahmen.<br />
<br />
Der US-amerikanische Rechtshistoriker Samuel Moyn nennt sie "das letzte Utopia" (The Last Utopia, 2010). Eine tiefgreifende Bedeutung bekommen die Menschenrechte laut Moyn erst in den 1970er-Jahren; in dem Moment, als andere Utopien für eine bessere Zukunft - er nennt hier beispielsweise den Kommunismus - ihre Strahlkraft verlieren oder in sich zusammenfallen. Was die Menschenrechte zu einer solch überzeugenden Utopie macht, so meine ich, ist die Gedoppeltheit ihrer Vision. Zum einen versprechen die Menschenrechte jedem und jeder Einzelnen eine Welt in der ihm oder ihr das gleiche Maß an Würde und Respekt zuteil wird, jeder also in seiner Individualität anerkannt wird. Zum anderen verweisen die Menschenrechte auf eine universelle Gültigkeit, die alle Menschen als Gleiche unter Gleichen betrachtet. In der Verbindung zwischen individueller Anerkennung und universeller Gültigkeit zeigt sich die herausgehobene Stellung der Menschenrechte als Basis einer <i>Ethik des Verbindenden</i>.<br />
Thomas Pogge hat die besondere Bedeutung der Menschenrechte in ihrer Unveräußerlichkeit wie folgt definiert: "(...) das Recht selbst verankert die Menschenrechte in einer Weise, die über das Recht hinausweist: In Form einer Normativität nämlich, die in ihrer Existenz nicht vom Recht abhängt und nicht durch eine gesetzliche oder juristische Anordnung bzw. durch andere Mechanismen der Gesetzgebung wie Verträge oder internationale Bräuche verändert oder aufgehoben werden kann (...) Ein unveräußerliches Recht ist ein Recht, welches seine Besitzer nicht verlieren können; durch nichts was sie selbst tun (Verzichtserklärung oder Verwirkung), noch durch irgendetwas was andere z.B. durch Veränderung des Rechts tun" (Pogge 2019 [Englisches Original: 2011]).<br />
<br />
Eine <i>Ethik des Verbindenden </i>besteht aus ebenso abstrakten wie konkreten Elementen. Während ihre Basis das Nachdenken über Normen auf Basis der Menschenrechte in Anerkennung der Wandelbarkeit von Begriffen ist, sind einmal gesetzte Normen unmittelbar. Sie wirken sich auf das Handeln und Denken von Menschen aus und dienen als Orientierung in der Welt.<br />
Ziel dieses kurzen Textes war es, ein paar Grundüberlegungen zu einem neuen Nachdenken über eine Ethik anzustellen, die es ermöglicht, sich unversöhnlich gegenüberstehende Gruppen wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Konkrete Fallbeispiele, detaillierte Begründungen der Notwendigkeit einer neuen Ethik und ihre Ausgestaltung, sind im Rahmen dieses Textes nicht möglich. Möge er anderen eine Inspiration für genau diese Überlegungen sein. </div>
<div style="text-align: justify;">
</div>
</div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-16441043183075405682020-02-06T17:30:00.001+01:002023-09-28T13:27:21.064+02:00Essay: Wie Wandel gelingen kann. – Zwei Miniaturen.<div style="text-align: justify;">
<i>Die 2010er-Jahre haben uns eine Reihe drängender Fragen hinterlassen. In zwei kurzen Miniaturen versuche ich zu zeigen, was uns dabei helfen kann, zu einem gelingenden Wandel beizutragen.</i></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Wer in den letzten Wochen durch Magazine oder Zeitungen geblättert hat, auf Instagram oder Twitter aktiv war oder Websites quergelesen hat, wurde immer wieder mit groß angelegten Bilanzen der 2010er-Jahre konfrontiert. Der "Sound" vieler Artikel lag irgendwo zwischen Ernüchterung und Krisenmodus, zwischen sehr leisem Optimismus und lähmender Verzagtheit. Am Ende eines Jahrzehnts Bilanz ziehen, heißt auch aus der gegenwärtigen Gemütsverfassung der jeweiligen Autorin oder des jeweiligen Autors heraus abzurechnen. Die Bewertung der vergangenen Jahre erfolgt aus der "breiten Gegenwart" (Hans Ulrich Gumbrecht) heraus, oft beeinflusst durch Heuristiken wie den "availability bias", der uns eindrückliche Ereignisse wie Terroranschläge, Flugzeugabstürze oder ähnliches wahrscheinlicher erscheinen lässt, als sie es statistisch sind. Bewertungen der vergangenen Dekade sind also mindestens mit Vorsicht zu genießen - eine gewisse Distanz wird Ereignisse der 2010er-Jahre noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lassen. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Klar ist: Die 2010er-Jahre haben uns eine ganze Menge Fragen hinterlassen. Diese reichen vom Klimawandel und all seinen nachgelagerten Herausforderungen über die Digitalisierung, die neben Fragen der Privatsphäre auch Fragen nach Arbeitsplatzschaffung und -rationalisierung aufwirft, Migration und Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften sowie die Bedrohung konsolidierter Demokratien durch Populisten. </div>
<div style="text-align: justify;">
Es ist leicht angesichts der Herausforderungen, die die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten begleiten werden, zu verzagen. Ratsam ist es nicht. Eine der zentralen Aufgaben der 2020er-Jahre wird es sein, mit den teils überlebensgroßen Herausforderungen umgehen zu lernen. Zwei Dinge können uns hierbei in meinen Augen helfen:</div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<b>(1) Die Wiederbelebung der Öffentlichkeit in Politik und Gesellschaft oder: Über Kompromisse.</b></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Der Begriff Öffentlichkeit kennt eine ganze Reihe von Definitionen. <i>Ex negativo </i>umreißt er das Nicht-Private. Schon diese Definition und ihre Auslegung könnten Gegenstand eines langen Exkurses sein. Um diesen abzukürzen, erlaube ich mir an dieser Stelle eine Setzung: Ganz im Sinne Seyla Benhabibs möchte ich Öffentlichkeit im Raum des Politischen verorten. In meinen Augen entfaltet sich der Raum des Politischen zwischen dem Staat mit all seinen Institutionen und Amtsträgern und der Gesellschaft, die sich aus Individuen und ihren je eigenen Bezügen aufeinander zusammensetzt. Öffentlichkeit verweist auf den Aushandlungsprozess politischer Fragen zwischen Staat und Gesellschaft. Außerdem bildet sie das Forum für neue Ideen, die einer der vorgenannten Akteure in den politischen Raum einbringt.<br />
Allerorten wird beklagt, dass staatliches Handeln und gesellschaftliche Realität derzeit viel zu oft getrennt voneinander zu sein scheinen. Ich denke, dass Staat und Gesellschaft schon immer in einer Art und Weise voneinander getrennt waren; sie sind nicht deckungsgleich. Zwar ist der Souverän in einer Demokratie das Volk, welches verfassungsgebend ist und von dem alle Staatsgewalt ausgeht (Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 2). Jedoch ist damit meines Erachtens nicht gemeint, dass staatliches Handeln und gesellschaftliche Realität bzw. Wünsche Einzelner an den Staat von vornherein deckungsgleich sein müssen.<br />
Von entscheidender Bedeutung ist hierbei der (politische) Aushandlungsprozess, die Suche nach Kompromissen. Gegenwärtig wird dieser Prozess kaum wertgeschätzt. - Eine mündige Bürgerin bzw. ein mündiger Bürger zu sein heißt, sich seiner je eigenen Verantwortung für politische Entscheidungen bewusst zu sein und diese - beharrlich und ohne den Einsatz von Drohungen oder physischer Gewalt - im öffentlichen Raum zu vertreten. Die Politik muss den Vorstellungen und Wünschen der Bürger Rechnung tragen, indem sie diese anhört, aufnimmt und in den politischen Prozess einfließen lässt.<br />
Auch in einer repräsentativen Demokratie gibt es viele Möglichkeiten, sich zu engagieren, seine Meinung in den Prozess der Aushandlung einzubringen oder - und vielleicht gar vor allem - selbst Verantwortung zu übernehmen. Wichtig dabei ist, dass das Vertreten seiner eigenen Interessen niemals nur Selbstzweck sein darf und nicht von egoistischen Motiven geleitet sein sollte. Eine liberale Gesellschaft anerkennt die Freiheit jedes Einzelnen, misst ihm daher aber auch Verantwortung für sein Handeln zu. Dieses Leitmotiv erkennt in dieser Verantwortung auch die Notwendigkeit an, andere in den eigenen Vorschlägen mitzudenken, sie einzubeziehen oder sich einer Gruppe anzuschließen, die für die eigenen Überzeugungen einsteht. Ebenso bedeutet Verantwortung aber auch, duldsam und tolerant gegenüber anderen Gesellschaftsentwürfen zu sein - so sie denn auf dem Boden unserer Verfassung stehen. Schlussendlich bedeutet sie auch, kompromissbereit zu sein. Denn ohne Kompromisse, werden Aushandlungsprozesse allzu schnell zu Schaukämpfen ohne Ergebnis.<br />
<br />
<br />
<b>(2) Das Prinzip Hoffnung oder: Die Rolle des Pragmatismus. </b><br />
<br />
Jüngst hat Jonathan Franzen mit seinem Essay "What if We Stopped Pretending?" (The New Yorker, 08. September 2019) ein auf den ersten Blick sehr düsteres Bild für die Zukunft gezeichnet. Er schreibt, es gäbe zwei Möglichkeiten über den Klimawandel und seine Folgen nachzudenken, wenn man sich um den Planeten sowie die Menschen und Tiere auf der Erde sorge. Entweder, man hoffe, dass die Katastrophe noch abwendbar sei und würde von der Tatenlosigkeit der Welt von Tag zu Tag frustrierter oder wütender, oder man akzeptiere, dass ein "Desaster" eintrete und begönne von Neuem darüber nachzudenken, was es heiße Hoffnung zu haben.<br />
Wie so oft in unserer (in vielerlei Hinsicht) überhitzten Zeit der unausweichlich unmittelbaren Reaktionen, wurde Franzens Essay als Nackenschlag für all jene interpretiert, die sich gegen den Klimawandel stemmen oder auf die Straße gehen, um der Öffentlichkeit immer wieder die Notwendigkeit zu handeln vorzuhalten. Man warf Franzen vor ein Pessimist zu sein, ein Zyniker gar. Zynismus gibt der Essay jedoch nicht her - vor allem dann nicht, wenn man die Definition dieses Wortes noch einmal genau studiert. Im "Großen Wörterbuch der deutschen Sprache" findet man das Wort "zynisch" unter anderem definiert als "eine gefühllose, mitleidlose, menschenverachtende Haltung zum Ausdruck bringend (...)". Wenn Franzens Essay eines nicht ist, dann menschenverachtend. Ganz im Gegenteil: Er ist getragen von einer humanistischen (auch kommunitaristischen) Grundhaltung, welche angesichts der dräuenden Katastrophe, die es zu akzeptieren gelte, die Bedeutung kleiner Schritte hervorhebt. In Franzens eigenen Worten klingt dies so: "Keep doing the right thing for the planet (...) but also keep trying to save what you love <i>specifically </i>- a community, an institution, a wild place, a species that's in trouble - and take heart in your small success".<br />
Natürlich kann man Franzen Resignation vorwerfen; man kann der Meinung sein, dass seine Vorstellung davon, wie die Zukunft sich gestalten werde, zu düster sei. Jedoch erscheint diese Reaktion zu kurz gedacht - zu unmittelbar. - Denn welch produktive Gedanken beinhaltet Franzens Essay?<br />
Wenn man seinen Text bloß überfliegt, kann man ihn als Entlastung lesen. Getreu dem Motto: "Wir können eh nichts tun, deshalb können wir uns der Katastrophe auch ergeben". Das genau sagt Franzen jedoch nicht. Er will, dass wir handeln - gemeinsam und jeder für sich. Er strukturiert jedoch unsere Erwartungen neu; er lässt uns eine neue Form des Pragmatischen erkennen. Wir können nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass wir das Unter-Zwei-Grad-Ziel (noch) erreichen werden, daher müssen wir einen neuen Umgang mit dem Klimawandel finden. Wir müssen uns ambitionierte, aber realistische Ziele setzen, den Fokus auf die Prävention vor Feuern und Fluten legen, Strategien zum Umgang mit vom Klimawandel bedrohten Staaten und Menschen finden sowie unsere Demokratien stärken, um zu verhindern, dass sie in Zeiten größten Drucks zusammenbrechen. All diese Punkte nennt Franzen - und er nennt sie zurecht. Was auf dem Spiel steht, was zu bewältigen wäre, ist immer noch gewaltig, aber es ist zweifelsohne leichter beispielsweise Vorkehrungen gegen massive Überschwemmungen zu treffen, als die weltweiten Emissionen auf Null zu senken. Noch einmal: All das entbindet uns nicht von der Verantwortung alle Anstrengungen für die Erreichung des Unter-Zwei-Grad-Zieles zu bündeln, aber es zeigt uns eine "second best option" auf, die uns immer noch in die Pflicht nimmt. Unmittelbarer sogar als es das erste Ziel tut. Ein Feld kann ich alleine bestellen und darauf für gute, ökologische Bedingungen sorgen - das kann ein Signal für andere sein, sich auch für eine bessere Landwirtschaft, ein nachhaltigeres Denken und Handeln einzusetzen.<br />
<br />
Was diese beiden Miniaturen exemplarisch zeigen ist, dass die großen und zum Teil bedrohlichen Fragen unserer Zeit nicht gelöst werden können, wenn wir vor ihrer schieren Größe verzagen. Sie verlangen von uns, sie anders und neu zu stellen - sie darauf zu prüfen, ob sie uns vielleicht schon Wege vorgeben (ob alt und lange nicht mehr betreten oder neu und erst Stein für Stein gebaut) und sie weisen Kompromiss und Pragmatismus - zwei derzeit nicht sehr beliebten Kategorien des Politischen - eine entscheidende Rolle zu.<br />
Wie sich unser Zusammenleben in Zukunft gestaltet, entscheidet sich in der Rolle, die wir der Öffentlichkeit beimessen und darin, wie wir lernen, scheinbar ausweglose Situationen so zu rahmen, dass unser Handeln die Hoffnung auf Veränderung erhält. <br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br /></div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-26230452907213584632019-11-09T13:13:00.004+01:002023-11-30T10:11:43.039+01:00Essay: Konfrontation und Begegnung. Die Digitalisierung und wir. – Ein Plädoyer für mehr Differenzierung. <div style="text-align: justify;">
<i>Viele Debatten unserer digitalen Gegenwart kranken an einer angemessenen Form der Differenzierung und bleiben so häufig Konfrontation. Die Dinge erscheinen uns somit entweder schwarz oder weiß. Die Ursache hierfür liegt in meinen Augen darin, dass es uns zumeist an der Fähigkeit zu moderieren fehlt. </i></div>
<div style="text-align: justify;">
<i><br /></i></div>
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Die Großstadt mit all ihren Verlockungen, all ihren Reizen, den dunklen Ecken, dem Lärm, dem Gestank, der Vielfalt, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Quelle nicht enden wollender Inspiration, aber auch Überforderung für Lyriker unterschiedlicher Strömungen wie Erich Kästner oder Georg Heym. </div>
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Das Internet der Gegenwart erinnert an dieses wilde Nebeneinander des Schönen und Schrecklichen, des Anrührenden und Abstoßenden. Allein, die Großstadt bot dem Einzelnen Räume sich zu verstecken. Er konnte sich in die nächste Kneipe flüchten, in seine Wohnung oder hinaus aufs Land. Das ist im Netz ohne weiteres nicht möglich. Sicher, man kann auf den breitgetretenen Pfaden der Nachrichtenportale wandeln, seinen Facebook-Freundeskreis auf jene beschränken, die einem auch im echten Leben lieb und teuer sind und doch ist da am Ende die permanente Konfrontation mit dem Anderen. Sei es eine kurz aufgeschnappte Schlagzeile, ein Kommentar unter einem Youtube-Video, ein von Freunden geteiltes Meme. Sozial ist das Internet in dem Sinne, dass es es den Einzelnen immer in Beziehung zu etwas oder jemand anderem setzt. Das Gesehene oder Gelesene ruft im Individuum zwangsläufig eine Reaktion hervor. </div>
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Natürlich kann ich als Einzelner mein Smartphone ins Nebenzimmer verbannen oder den Computer ausschalten; aber angesichts der Tatsache, dass ein Großteil des wirklichen Lebens mittlerweile "in Bezug auf" das Netz stattfindet, ist das auf Dauer keine Option. Der permanente Konfrontationsmodus, in welchem wir durch das Internet streifen, überträgt sich in meinen Augen auf unsere Begegnungen in der Offline-Welt. </div>
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An sich sind Begegnungen nach einer auch offline zwangsläufigen Konfrontation ("Da steht jemand" oder "Da hat mich jemand angesprochen") ein Abtasten: Mit den Augen, mit eingeübten Floskeln ("Wie geht es Ihnen?"), im Smalltalk. Das Internet verhält sich hier hingegen wie ein Monolith. Video, Bild oder Text, dem wir begegnen, steht für sich. Der Monolith erklärt sich nicht. Er ist einfach da. Je nachdem, zu was ich mich verhalten muss, sehe ich zunächst entweder bloß schwarz (Opposition) oder weiß (Zustimmung). Der nächste Schritt nach dieser Konfrontation wäre in der Offline-Welt jener Prozess des Abtastens, den ich oben benannt habe. Der ist im Netz jedoch kaum möglich: Die Logik des Internets gibt mir nur eine begrenzte Anzahl an Optionen zu reagieren: Ignorieren, kommentieren, teilen, melden. Das macht unser digitales Zusammenleben weniger differenziert als es bei einer realen Begegnung sein kann. </div>
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Da wir alle - egal ob "digital natives" oder "silver surfer" - noch kaum Erfahrung mit dem Netz als Begegnungsraum haben, sind wir an sich permanent überfordert. Von Hass und Hetze, von Meme um Meme, von der Bilder- und Nachrichtenflut. Unsere Fähigkeit zu differenzieren scheint mir durch die permanente kognitive und emotionale Überforderung auf der Strecke zu bleiben. </div>
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Die Digitalisierung und das Netzrauschen verlangen von allen Menschen nicht nur die Fähigkeit ihre Meinung zu äußern, sondern auch die Fähigkeit Gesagtes oder Geschriebenes zu moderieren. Wir müssen mit anderen Aussagen und Meinungen auf unsere Aussagen viel ungefilterter umgehen als in der prä-digitalen Zeit.</div>
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Zum Moderieren gehört die Fähigkeit zur Differenzierung. Wenn diese jedoch - wie oben dargelegt - permanent durch Konfrontation unterbunden wird, fördert dies unser Bedürfnis uns gegen das Geschriebene oder Gesagte zu verteidigen. So wogt im Netz nach meiner Empfindung vor allem deshalb so viel Negativität auf und nieder, weil Menschen permanent daran scheitern Debatten zu moderieren und sich in einer Art Dauerverteidigung befinden. </div>
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Wenn wir das Netz als Medium der Debatte nutzen wollen, als Instrument der Demokratisierung, welches es zumindest in Teilen zweifelsohne sein könnte, so müssen wir zunächst in der Offline-Welt lernen Gespräche zu moderieren. Umgekehrt - so ist derzeit zu beobachten - hält die mangelnde Differenzierung der "Netzgespräche" auf teils erschreckende Weise Einzug in unseren Alltag. </div>
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Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-16883145885106795932019-10-05T15:57:00.000+02:002019-10-05T15:57:32.201+02:00Essay: Populismus, Legitimität und der Nationalstaat.<div style="text-align: justify;">
<i>Kaum ein Begriff wird gegenwärtig so hitzig debattiert wie der des Populismus. Er ist Ausdruck einer Re-Politisierung des öffentlichen Lebens. Allein, seine Antworten sind unzureichend, gestrig und allzu oft anti-demokratisch. Wer Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit - den menschengemachten Klimawandel, Weltarmut oder inter- und intranationale Ungleichheit - geben will, muss einen Blick über den Nationalstaat hinauswerfen. - Die hier entwickelten Gedanken nehmen zum Teil Bezug auf meine Masterarbeit "How Populism Can Contribute to Forming a World State - A Cosmopolitan Argument", die ich am 04. Oktober 2019 an der Universität Witten/Herdecke eingereicht habe.</i></div>
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Unsere Gegenwart ist, wer würde dies bestreiten wollen, höchst politisch. Wir erleben Grabenkämpfe zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten, zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten, zwischen den Generationen. Die Themen sind mannigfaltig, die Gemüter erhitzt. </div>
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Gerade in der Art und Weise wie Argumente ausgetauscht werden zeigt sich, dass wir uns an einem kritischen Punkt befinden. Offenheit und Dialogbereitschaft werden als Werte der Stunde gehandelt - wirklich danach handeln, scheinen die meisten jedoch eher in einem behüteten, vertrauten Umfeld. Vor allem in digitalen Sphären regieren Zuspitzung und Konfrontation. </div>
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Dieser Umstand macht es nahezu unmöglich sich dem Mahlstrom der Stellvertreter-Debatten zu entziehen. Zu oft sind empörenswerte Äußerungen, Einzelbeobachtungen oder Trump-Tweets Gegenstand eines Reigens an Gegenreden, Artikeln oder Kurznachrichten. Das "große Ganze" gerät dabei allzu oft aus dem Blick. Damit ist nicht gemeint, dass Einzelfälle nicht zu diskutieren seien, dass sie zu vernachlässigen oder zu ignorieren seien; vielmehr soll damit darauf hingewiesen werden, dass diese Debatten allzu selten zum Kern des jeweils verhandelten Gegenstandes vordringen und vor-politisch sind.</div>
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Im Zusammenhang mit Forschungsprogrammen hat Imre Lakatos einmal von einem "harten Kern" und einer Reihe von Hilfsannahmen gesprochen, die wie ein Schutzgürtel um eine Ansammlung von Theorien liegen, die das Innere des Forschungsprogrammes ausmachen. Wenn wir das Programm prüfen, so werden zunächst die Hilfsannahmen desselben widerlegt (die im Anschluss durch neue Hilfsannahmen ersetzt werden können); nicht aber der Kern des Programms. Ob ein Programm schlussendlich für "progressiv" (und damit für gute Wissenschaft) oder "degenerativ" (und damit für schlechte Wissenschaft) befunden wird, lässt sich dadurch feststellen, ob es neue Fakten oder Vorhersagen ermöglicht. </div>
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In Bezug auf den Gegenstand dieses Essays ist dieser Gedanke in zweierlei Hinsicht produktiv: Zunächst macht er deutlich, dass Stellvertreter-Debatten notwendigerweise zur Erörterung eines bestimmten Gegenstandes gehören, zum anderen zeigt er aber auch, dass wir an diesem Punkte nicht aufhören können - was wir gegenwärtig allzu oft tun. </div>
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Ob eine Debatte uns gesellschaftlich voranbringt, lässt sich nur feststellen, indem wir zu ihrem Kern vordringen und prüfen, ob sie neue Erkenntnisse und damit politische Handlungen hervorbringt. - Folgende Einschränkung sei hier angemerkt: Natürlich unterscheiden sich wissenschaftliche Forschungsprogramme von gesellschaftlichen Debatten. Der von mir gezogene Vergleich trifft also mit Sicherheit nur <i>cum grano salis</i>. </div>
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Dies vorausgeschickt, wage ich folgende These: Populismus ist nicht vordringlich eine Reaktion auf die unbefriedigenden Lebensumstände bestimmter Bevölkerungsgruppen; er ist auch nicht nur Ausdruck von Unsicherheit und Entwurzelung in Zeiten der Globalisierung mit all ihren Folgen. Populismus ist in meinen Augen vor allem Ausdruck eines unzureichenden Legitimitätsbegriffs unserer Gegenwart. Legitimität verstehe ich nach Joseph Raz als "Rechtfertigung von politischer Autorität". </div>
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Demokratische Politikerinnen und Politiker stehen heute vor der Herausforderung, Gesetze, Regeln oder Absprachen, die auf internationaler und supranationaler Ebene getroffen wurden, in ihren jeweiligen Nationalstaaten zu rechtfertigen. Dadurch, dass internationale und supranationale Institutionen jedoch nicht ausreichend legitimiert sind, die Ausübung ihrer Autorität also nicht immer vollständig zu rechtfertigen ist, entsteht eine Spannung zwischen dem Souverän, also den Bürgerinnen und Bürgern und denjenigen, die in ihrem Sinne handeln sollen. </div>
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Dieser Spannung bedienen sich Populisten: Sie behaupten, dass Politiker den "Willen des Volkes" (den sie als uniform ansehen) nicht ausreichend repräsentieren würden und nur einer kleinen "Elite" (wie auch immer sie geartet sein möge) dienstbar seien. So lässt sich leicht eine "Wir gegen die"-Situation schaffen, die Populisten kreieren, um sich selbst als die wahren "Vertreter des Volkes" zu inszenieren. Boris Johnson oder Donald Trump tun dies, indem sie sich (oft recht erfolgreich) über gefestigte Institutionen hinwegsetzen und an ihnen "vorbeiregieren". Auf internationaler Ebene steigen sie so aus Verträgen aus (die USA z.B. aus dem INF-Vertrag oder dem Pariser Klimaabkommen), auf nationaler Ebene setzen sie - wenn nötig - das Parlament aus (wie Johnson im Vereinigten Königreich). </div>
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Es ist ein Trugschluss demoraktischer Politikerinnen und Politiker den Blick nun wieder verstärkt nach innen zu wenden, vor den Folgen einer zu schnellen europäischen Integration zu warnen oder nationale Interessen wieder stärker in den Mittelpunkt ihres Tuns zu rücken. </div>
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Da das Legitimitätsdefizit auf internationaler und supranationaler Ebene entstanden ist, muss an dieser Stelle dafür gesorgt werden, dass sich diese erhöht. Meiner Meinung nach kann dies nur funktionieren, wenn wir auf Basis des existierenden UN-Systems Reformen anstreben, die auf den Prinzipien der Partizipation (durch zunehmende Bürgerbeteiligung z.B. durch Wahl eines Weltparlamentes), Stabilität (in Form einer globalen Verfassung) und zugleich Flexibilität (erreicht durch dynamische Gesetzgebung in Form von ständiger Re-Evaluierung der bestehenden Gesetze) sowie Subsidiarität beruhen. </div>
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Stellvertreter-Debatten können uns einen Hinweis darauf geben, wo genau die Politik ansetzen kann; sie dürfen allerdings nicht - wie gegenwärtig - den Blick auf das wahre Problem der global zu denkenden Politik im 21. Jahrhundert verstellen. </div>
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Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-72972877435000196922019-05-29T14:55:00.005+02:002023-06-22T11:02:24.508+02:00"Für Intellektuelle sollte Wandel kein Grund zum Klagen sein". – Ijoma Mangold im Interview.<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><i>Ich treffe Ijoma Mangold, Kulturkorrespondent im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT, Anfang April 2019 in seinem Berliner Büro. Gerade arbeitet er an einem Interview mit Philipp Ruch vom "Zentrum für politische Schönheit", daher klingelt ab und zu das Telefon. Ijoma Mangold erledigt die Anrufe, tippt ein, zwei Änderungen in seinen Computer und nimmt anschließend unser Gespräch mühelos dort wieder auf, wo es durch das Klingeln unterbrochen wurde. - Wir sprechen über seine Lebensgeschichte, die er in seinem fabelhaften Buch "Das deutsche Krokodil" aufgeschrieben hat, die Rolle von Intellektuellen in bewegten Zeiten, die einmalige Kombination aus Lesen und Googeln sowie die Frage, ob es heute (noch) einen Bildungskanon braucht. Es ist das bisher ausführlichste Gespräch auf diesem Blog. </i></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Lieber Herr Mangold, Sie gelten als einer der bedeutenden deutschen Intellektuellen. Mich würde interessieren, wie Sie persönlich diese Rolle begreifen. Damit meine ich nicht nur die Rolle des Intellektuellen allgemein, sondern vor allem auch Ihre eigene. Haben Sie ein Problem mit dieser Zuschreibung?</b></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Ich gehöre zu einer Generation, geboren 1971, die mit einem sehr überhöhten Begriff des Intellektuellen als moralische Instanz aufgewachsen ist. Gerade als junger Mensch hat man für hohle Begriffe ein sehr genaues Ohr – und der Begriff des Intellektuellen war in jener Zeit ein solcher. Es war also klar: So etwas will man lieber nie sein, ein Intellektueller. Nun fiel die Hochkonjunktur dieses Begriffes aber irgendwann komplett in sich zusammen. Vielleicht war das auch verknüpft mit einem Medienwandel. In den Neunzigerjahren hatte die Fernseh-Talkshow die Zeitung als politisches Leitmedium abgelöst. Plötzlich verschwand also die große Bühne für die Intellektuellen. Die meisten haben den Schritt ins Fernsehen nämlich nicht geschafft. Ein Walter Jens schrieb noch in der „ZEIT“, und selbst wenn er ein paar Mal im Fernsehen war, vielleicht in „Talk im Turm“ bei Erich Böhme, es kommt mir gerade so vor, so war das Personal der Talkshows insgesamt doch ein völlig anderes.</span></span><br />
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass der Begriff des Intellektuellen einen gewissen Wertverfall hingenommen hatte. Für mich wurde er somit wieder attraktiv. Man konnte ihn wieder verwenden, weil er mit seiner gesellschaftlichen Relevanz eben auch seine Prätention verloren hatte. Und da Sie gefragt haben: Ich persönlich finde es heute gar nicht schlecht, mich so zu nennen. Natürlich sollte das dann nicht verblasen klingen. In meiner Vorstellung ist es Aufgabe des Intellektuellen, gesellschaftliche Probleme auf eine möglichst überraschende Art sichtbar zu machen und sie zu analysieren. Damit ist allerdings keine moralische Privilegierung gemeint! Ich glaube nicht, dass Intellektuelle einen direkteren Zugang zur politischen Wahrheit haben. Ebenso scheint mir entscheidend, nicht zu allem etwas sagen zu müssen. Sonst besteht die Gefahr, nur in Plattitüden zu verharren. Umgekehrt darf es aber auch nicht nur Experten überlassen sein, die Welt zu erklären. </span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Idealerweise langweilt sich der Intellektuelle – der auch immer ein bisschen ein Snob sein sollte – schnell, wenn er zu oft dasselbe sagt, und ist dadurch gezwungen, um nicht über seine eigenen Redundanzen einzuschlafen, in eine neue, eine überraschende Richtung zu denken. </span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Gibt es für Sie derzeit solche Intellektuellen? Personen, die aufregende Gedanken aufbringen und in die Öffentlichkeit tragen? </b></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Auf jeden Fall! Viele von denen kommen aus der Akademie. Natürlich gibt es unendlich viele öde Professoren, aber ich denke – wenn ich das mal nestbeschmutzerisch sagen darf – dass es mehr Intellektuelle in der Wissenschaft gibt als im Journalismus. Jetzt studieren Sie in Witten/Herdecke: Selbstverständlich würde ich Dirk Baecker für ein Musterbeispiel eines aufregenden Denkers halten. Sein Denken schafft einen anderen Blick auf die Welt. Das liegt daran, dass seine Terminologie deutlich abstrakter ist, als wir es uns im Journalismus leisten könnten. Der politische Leitartikel ist wichtig, aber vielleicht klebt dessen Analyse manchmal noch zu nah an den Phänomenen.<span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;">Als Student habe ich das bei Luhmann gelernt: Man muss die Abstraktionsgrade erhöhen, um zu überraschenden Einsichten zu kommen. Die Dinge werden dann überhaupt erst greifbar. – Ich könnte nun eine Menge Persönlichkeiten aufzählen, die mich interessieren und eine solche Fähigkeit zum aufregenden Denken besitzen: Staatsrechtler wie Christoph Möllers, zum Beispiel. Mit Begeisterung lese ich gerade Essays von Dan Diner, der die interessante These verfolgt, dass viele Phänomene, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, im Kalten Krieg eingefroren waren. In seinen Augen schließen wir jetzt quasi an die Zwanzigerjahre an. </span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><b><br /></b></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Kommen wir zu Ihrem Buch „Das deutsche Krokodil“. Es ist ja, so kann man wohl sagen, in eine politisch aufgeraute Zeit hineingeschrieben worden. Die liberale Gesellschaft scheint an vielen Stellen auf dem Rückzug, Rassismen treten wieder sehr offen zutage. Letzteres beschreiben Sie in Ihrem Buch, als Sie über die Reaktionen auf Ihren vernichtenden Verriss eines Machwerks von Akif Pirinçci berichten. Mir ist bei diesen Reaktionen offen gestanden schlecht geworden. – Wie betrachten Sie im Lichte unserer Gegenwart und dieser Reaktionen Ihre eigene Kindheit und Jugend? Denn ein Buch, wie Sie es mit dem „Deutschen Krokodil“ vorgelegt haben, entsteht ja möglicherweise auch unter dem Eindruck einer Veränderung. </b></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Auf Kuba nannte man die Neunzigerjahre <i>Período especial</i>, weil Castro in dieser Zeit eine leichte marktwirtschaftliche Öffnung zuließ. Im Rückblick mag mir mein Aufwachsen in der alten Bundesrepublik auch als eine <i>período especial </i>erscheinen. Der Schrecken über die Gräueltaten und Verbrechen der Nationalsozialisten, der gnadenlos betriebene Rassismus, der dort zu Politik wurde, steckte den Menschen so tief in den Knochen, dass dies zu einer gewissen Affekthemmung führte. Für einen kurzen Zeitraum wurde Rassismus historisch gebändigt. Meine Generation ist mit dieser vermeintlichen Gewissheit aufgewachsen und war überzeugt, dass es ja auch gar nicht anders sein könne. Gegenwärtig lernen wir: Oh doch – das kann es sehr wohl! Die Gewissheit war trügerisch. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;">Wir wuchsen mit der Vorstellung auf, dass die Geschichte eine klare Richtung eingeschlagen hatte. Eine Geschichte der Universalisierung, der Liberalisierung, der fortschreitenden Emanzipation, des Zurücktretens nationaler Grenzen und so weiter. Über Francis Fukuyama haben sich viele interessanterweise immer lustig gemacht, als er das „Ende der Geschichte“ verkündete. Dabei waren die meisten selbst genauso drauf. Denn was heißt es denn, überzeugt davon zu sein, die Geschichte kenne nunmehr bloß noch eine Richtung? Das ist nichts anderes als ein „Ende der Geschichte“. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;">Mich hat die Entwicklung der letzten fünf, sechs Jahre auch sehr kalt erwischt. Im Rückblick finde ich es natürlich absurd, dass man je davon überzeugt war, die Geschichte komme an ihr Ende. – Warum sollte plötzlich nichts mehr kommen? Nichts ist ewig. Reiche werden aufgebaut und fallen ein, Systeme stürzen oder werden überwunden. Und es ist nicht immer nur das Bessere des Guten Feind. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span></span><br />
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Ich bin nicht so vermessen, mir anzumaßen, beurteilen zu können, ob die Dinge in fünfundzwanzig Jahren schlimmer sein werden als heute, nur weil sie anders sind, als wir sie uns vor zehn Jahren ausgemalt haben. – Ich versuche mir selbst Mut zuzusprechen und mir zu sagen: Erfreue Dich an dem ganzen Wandel. Wie langweilig wäre es, wenn alles absehbar wäre. Für Intellektuelle sollte Wandel kein Grund zum Klagen sein, sondern genau das, was man sich wünscht, weil sie dann beweisen können, was sie drauf haben. Unübersichtlichkeit macht es lohnend, noch einmal neu und offen auf alles zu schauen. </span></span></div>
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<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Gerade der letzte Aspekt Ihrer Antwort führt mich zu einer Frage, die wahrscheinlich so alt ist wie die Menschheit selbst. Es ist die Frage, wie man das Staunen, welches Sie in der Freude am Wandel anklingen lassen, Heranwachsenden mitgibt. In meinen Augen ist das eng mit Bildung verknüpft. Denn nur, wenn man gebildet ist, stellen sich einem ja immer wieder von neuem Fragen. Ein solches Erlebnis beschreiben Sie in „Das deutsche Krokodil“ bei Ihrer ersten Lektüre von Joyce‘ „Ulysses“. Sie fühlen sich verloren in dem Werk wie in einem Hochgebirge – bis irgendwann eine Hütte zum Rasten kommt. Das sind die Passagen, die Ihnen zugänglich sind. Wie würden Sie jungen Menschen Bildung vermitteln oder besser: Begeisterung für das Gebildet-Sein? </b></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Was heißt Bildung? Es heißt den Ausschnitt dessen, was ich von der Welt wahrnehme, zu erweitern. Das tun wir durch das Lesen, aber auch dadurch, dass wir anderen Menschen sehr nahekommen. Seit dem 18. Jahrhundert ist der klassische Weg der Welterschließung natürlich das Reisen. Entscheidend scheint mir, Distanz hineinzubringen. Wir dürfen nie identisch mit uns selber sein und nie mit der Welt, die uns umgibt. Erst wenn wir Distanz zu der Gesellschaft einnehmen, in welcher wir leben, können wir sie betrachten wie ein Ethnologe, der einen eingeborenen Stamm im Amazonas beobachtet. So stellen wir fest, worin sie komisch, lächerlich oder auch liebenswert erscheinen mag. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;"> </span></span><br />
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Zu erklären, was an Bildung so aufregend ist, erübrigt sich für denjenigen, der sich je in ein Buch vertieft hat. Ich kann nicht erklären, warum eine Rose schön ist. Sie ist schön. Das ist sie nicht um eines anderen Zweckes willen. Sie ist es für sich. Wenn man an der Welt und ihren Gegenständen interessiert ist, wird man immer wieder von neuem neugierig sein.</span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
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<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Der Distanzgedanke erscheint mir dahingehend sehr interessant, als er ein weites Feld öffnet, welches ich aufmachen wollte. Ich meine das der Digitalisierung. Die Möglichkeit an Wissen zu kommen war noch nie so unmittelbar. Wie – falls überhaupt – verändert das unsere Art, zu denken oder Dinge zu verstehen? </b></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b> Für mich ist die Kombination aus Lesen und googeln einmalig! Man liegt daheim in seinem Bett und kann alles nachschauen, was in einem Buch als Referenz angegeben wird oder was man für eine solche hält. Gerade für Bücher, die historische Ereignisse verarbeiten, ist es toll, sich einfach noch einmal in den Kontext des jeweiligen Werkes einzulesen. Das ist wie „Stereolesen“. Ich finde das sehr fruchtbar. </span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Ich habe das Gefühl, dass diese Art zu lesen und zu denken eine neue Form des Intellektuellen begründen könnte. Natürlich springt man – Stichwort „Hyperlink-Kultur“ – sehr häufig hin und her; jedoch ist das auch produktiv, wenn man diese Gedanken einem reichen Nährboden zuführen kann. </b></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Die Hyperlink-Kultur ist eigentlich schon immer ein Sehnsuchtsort der Literatur gewesen. Es gab schon immer eine Poetologie der Abschweifung, die genau das wollte. Denken Sie an Lawrence Sternes „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“. Die Abschweifung, der Exkurs, das vom Steinchen aufs Stöckchen Kommen, ist eigentlich eine alte Vorstellung. Es gibt die enzyklopädische, nach Wissensgebieten sortierte Welt und dann gibt es das, was Sie eben als „Hyperlink-Kultur“ bezeichnet haben. In dieser Struktur wird das Unverwandte, das Nicht-Ähnliche miteinander verknüpft. Für die Literatur war das schon immer ein spannendes Erzählprinzip. Dass diese Poetologie der Abschweifung jetzt so leicht umzusetzen ist, ist an sich schon aufregend. </span></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Nach dem Tod meiner Mutter habe ich aus Anhänglichkeit manche ihrer Bücher in meine Bibliothek übernommen. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch dort schon der Wunsch nach Verlinkung bestand. Diese herzustellen wurde mit einem – aus heutiger Sicht sehr anrührenden – Sammeln von herausgeschnittenen Zeitungsartikeln versucht, die in ein thematisch verwandtes Buch reingelegt wurden. </span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Noch einmal zurück zu unserer politisch aufgewühlten Gegenwart. In meinen Augen scheint diese durch ein hohes Erregungspotenzial charakterisierbar zu sein. Politik und Kultur waren ja schon immer miteinander verquickt. In ihrem Buch beschreiben Sie, wie kritisch Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ in Essaysammlungen auseinandergenommen wurde oder wie schwierig die Rolle Richard Wagners wenige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer war. Mir scheint sich gegenwärtig – auch im Lichte sich wandelnder Normen – einmal mehr die Kunst/Künstler-Frage zu stellen. Es gab Debatten um Eugen Gomringers „avenidas“ an der Alice-Salomon-Hochschule, die Frage, ob man Balthus noch ausstellen dürfe. Wo liegen für Sie die Grenzen einer solchen Debatte?</b></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Wir reden neuerdings nur noch über die Sensibilität, die von einem Menschen gegenüber einem anderen verlangt wird. Das Schlimmste, was man jemand anderem unterstellen kann, ist somit, dass er keine Empathie habe. Allein schon diese Aussage spricht nach meiner Auffassung von einer maßlosen Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung des eigenen moralischen Standpunktes. Mir schlackern da die Ohren. – Wir leben in einer sehr gouvernantenhaften Zeit. Ich komme mir vor wie im tiefsten viktorianischen 19. Jahrhundert, als die Kirche über die einwandfreie Lebensführung eines jeden Einzelnen wachte. Viele Teile der Gesellschaft scheinen das heute wieder aufgreifen zu wollen. Alle sollen so leben, wie es moralisch einwandfrei ist. Dafür gibt es klare Instanzen, die darüber wachen und abwägen, wo man sich sensibel/unsensibel verhalten hat. Das alles finde ich grauenvoll. </span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Wie gehen Sie denn damit um? </b></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><br /></span>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Ich finde all diese Fragen – soll bzw. muss man gendern, darf man bestimmte Kunstwerke noch ausstellen und dergleichen mehr – überhaupt nicht degoutant. Im Gegenteil. Sie sind wichtig und auch bereichernd, denn sie bringen ja einen Diskurs voran. Aber ich kann nicht ganz daran glauben, dass die Geschichte in Richtung einer eschatologischen Erlösung unterwegs ist. Ich halte sie für ein dynamisches Chaos. Somit ist für mich das Gendersternchen auch keine letztgültige Erlösung. Aber darüber zu diskutieren kann sehr fruchtbar sein. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;"> </span></span><br />
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Ich selber finde es absurd, wenn die Sprache die Rolle einer Gesamtrepräsentanz identitätspolitischer Kollektive dieser Gesellschaft erfüllen soll. Das läuft meiner Vorstellung des anarchischen Potenzials von Sprache zuwider. Allerdings gehört es selbstverständlich zur Wahrheit, dass viele Minderheitengruppen über Jahrhunderte hin extrem schlecht abgeschnitten haben. Auch in der Gegenwart ist das in vielen institutionellen Formen noch zu greifen. Das darf infrage gestellt und angegriffen werde<a href="https://www.blogger.com/null" name="_GoBack"></a>n – keine Frage! Ich bedaure jedoch, dass es derzeit kein offenes, wildes Nachdenken über diese Fragen gibt, sondern eine ziemlich rigide Moral, die am Ende immer auf identitätspolitische Kollektive abzielt. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;">Das Individuum in seiner universellen Freiheit und unsere Rolle als Bürger drohen unterzugehen, weil wir nur noch als Repräsentanten identitätspolitischer Fraktionen, die immer kleinteiliger werden, über uns sprechen und über alles das Opfernarrativ legen. <b> </b></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><br /></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Sehen Sie in dieser Hinsicht auch eine gewisse Verzagtheit in Bezug auf den journalistischen Berufsstand? Der vor allem aus rechtspopulistischer Ecke formulierte Vorwurf, es gäbe ein „linkes Meinungsdiktat“ ist ja sehr präsent in gegenwärtigen Debatten. Hier wird ja – wenn auch in sehr plumper Weise – auf diesen eben von Ihnen beschriebenen, moralisierenden Ton abgehoben. Ich habe große Probleme mit dieser Zuschreibung von rechter Seite, aber mich interessiert, wie Sie und Ihre Kollegen mit diesen Anwürfen umgehen. </b></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Ein linksliberales Diktat gibt es ganz sicher nicht. Was es selbstverständlich gibt, sind Selbstdynamiken. Das ist unvermeidlich. Die gibt es im Übrigen aber mittlerweile auch ganz stark von rechts. Auf rechten Blogs oder Plattformen herrscht in gewisser Weise Gleichschaltung. In diesem Fall erlaube ich mir dieses Wort einmal. In sehr kurzer Zeit haben die Rechten ihr eigenes Vokabular aufgebaut und wiederholen es – wie der Kuckuck in der Kuckucksuhr seinen Schrei zu jeder vollen Stunde. Da herrscht ein sehr stark formatierter Meinungskorridor. Ich glaube, die Rechten halten sich manchmal noch für Anarchisten, sind aber längst rechte Konformisten geworden. Die Rechten machen ja alles den Linken nach, jetzt auch noch deren Konformismus.<span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;"> </span></span><br />
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Prozesse der Herdenbildung an sich sind unvermeidlich. Die gibt es im Journalismus deshalb so stark, weil es dort besonders auffällig ist. Als Ingenieur fiele es Ihnen möglicherweise nicht ganz so sehr auf, dass sie ganz genauso denken wie ihr Milieu, weil Sie sich nicht so oft äußern. Journalisten sind in der unglücklichen Rolle, jeden Tag die Welt erklären zu müssen. Im Rückblick fällt also deutlicher auf, wie herdenmäßig sie das manchmal tun. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;"> </span></span><br />
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Zeitungen sind deshalb gut beraten auch innerhalb ihrer Redaktionen kontrapunktisch zu sein. Natürlich verlangt das manchmal Mut und Rückgrat und Durchhaltevermögen. – Ich habe das Gefühl, dass vor 15 Jahren in der Mitte so viel möglich war; dieser Platz schrumpft. Deshalb ist an den Rändern, den Extremen so viel los. Das führt zu der merkwürdigen Situation, dass man – wenn man alles sagt – heute sehr leicht ganz links oder ganz rechts eingeordnet wird. Vor 15 Jahren war man damit vielleicht noch in der Mitte. </span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Vor kurzem hat Ihr Chefredakteur, Giovanni di Lorenzo, in einem Gespräch mit Klaus von Dohnanyi bei Markus Lanz genau diesen Aspekt aufgegriffen. Er sagte, die Mitte sei eigentlich viel zu leise, die Ränder zu laut. In diesem Zusammenhang vielleicht noch einmal eine Frage, die Aspekte der Bildung und der Kultur aufgreift. Gibt es Ihrer Meinung nach Kulturgüter – Romane, Musik –, die eine einigende Wirkung haben könnten? </b></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Ich bin zu sehr von Luhmann geprägt, als dass ich von der Einheit her denken würde. Ich möchte die Gesellschaft nicht als Gemeinschaft haben. Gesellschaften sollten meines Erachtens nach nicht in einem gefühlsmäßigen Sinne zu stark zusammengehalten werden. Ich finde Traditionen herrlich, aber ich möchte andere nicht darauf einschwören, sich zu diesen Traditionen zu bekennen. Wir sind ein Staatswesen von Bürgern. Selbstverständlich gibt es da eine Leitkultur im Sinne der Verfassung und in gewisser Weise bestimmt auch im Sinne unserer sprachlichen und kulturellen Herkunft, aber alles, was darüber hinaus geht, wäre mir an Wärme der Gemeinschaft zu viel. Helmuth Plessner spricht von den „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Distanzkultur ist für das Überleben des Individuums immer sehr wichtig, finde ich. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span><span style="font-family: inherit;"> </span></span><br />
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Ich käme jedenfalls nicht auf die Idee, den Menschen einen Roman aufzudrängen, den alle lesen sollen, weil sie Teil desselben Überlieferungszusammenhanges sind. Schon Goethe konnte man nicht ernsthaft als einigendes Element der Nation verstehen. Mit ihm ließ sich kein nationaler Staat machen. Dafür war er viel zu anti-nationalistisch, viel zu Napoleon-freundlich, zu kosmopolitisch in seinen Interessen. Gleichzeitig war er in seinen politischen Tätigkeiten der Kleinstaaterei verpflichtet. <span style="mso-tab-count: 1;"> </span></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Trotzdem ist es natürlich schön, wenn andere ähnliche Bücher lesen wie man selber, damit man sich auf sie beziehen kann, um zu streiten. In dem Sinne würde ich die Idee eines Bildungskanons immer verteidigen. Es führt einfach zu mehr gesellschaftlichem Gespräch, wenn jeder ähnliche Bücher liest, als wenn jeder etwas anderes auf dem Nachttisch liegen hat. </span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Das verstehe ich als defensive Verteidigung des Kanons. Zu Beginn unseres Gespräches hatte ich fast den Eindruck Sie sprächen sich vielleicht sogar dagegen aus. </b></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>In Wahrheit glaube ich deutlich fester an einen Kanon, als ich das bisher zum Ausdruck gebracht habe. Ich glaube an Meisterwerke. Das tut man heute eigentlich nicht mehr, aber in meinen Augen gibt es eine ästhetische Meisterschaft. Das geht ein bisschen in die Richtung von Harold Blooms „Western Canon“. </span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Sie haben bei Barbara Bleisch im Schweizer Fernsehen und auf anrührende Weise in Ihrem Buch vom Tode Ihrer Mutter erzählt. Im Zentrum dieser Geschichte steht die Rezitation der Gedichte von Storm und Fontane. Fontane kommt mit seinem „Herrn von Ribbeck“ auch noch an anderer Stelle vor. Mir kam er vor wie einer Ihrer Hausheiligen, wenn ich das so sagen darf. Welche Autoren wünschten Sie sich auf eine einsame Insel? </b></span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Ijoma Mangold: </b>Zunächst zu Fontane. Ich habe anlässlich seines 200. Geburtstages noch einmal über ihn nachgedacht und festgestellt, dass er für mich eine überraschend große Rolle spielt; auch wenn er weltliterarisch kein absoluter Achttausender ist. Auf die einsame Insel würde ich daher selbstverständlich eher Tolstois „Krieg und Frieden“ mitnehmen als Fontanes „Schach von Wuthenow“.</span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Trotzdem hat Fontane für mich eine besondere Rolle gespielt, weil er in meiner Jugend eine Welt aufrief, die zum einen bereits lange untergegangen war, zum anderen aber auch nicht zugänglich war. Sie lag hinter dem „Eisernen Vorhang“. Als die Mauer fiel, war da für mich und auch meine Mutter plötzlich wieder die Möglichkeit, in Fontane-Landschaften zu reisen. Wanderungen durch den märkischen Sand erschlossen uns einen lange im Dornröschen Schlaf liegenden historischen Hallraum. Ich habe eine starke Pietät an alles, was untergegangen ist. Das ist nicht nur ein sentimentaler, konservativer Impuls, es ist auch ein damit verbundenes historisches Interesse. Die Welt des märkischen Adels, die gibt es nicht mehr. Und natürlich weine ich ihr nicht nach. Aber in Verbindung bleiben möchte ich doch mit ihr, denn ich glaube, dass all das, was es plötzlich nicht mehr gibt, immer noch nachwirkt. Wir sollten uns nicht täuschen: Vermutlich sind wir stärker davon geprägt, als wir es uns vorstellen können. Fontane war als 1848er Revolutionär und zugleich als „Dichter der Mark“ selbst immer hin- und hergerissen zwischen Revolution und Reaktion. Diese Zerrissenheit, diese Ambivalenz interessiert mich.</span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;">Auf die einsame Insel hingegen würde ich schon aus ökonomischen Gründen andere Meisterwerke mitnehmen. An erster Stelle natürlich Prousts umfängliche „Recherche“. Kafkas „Parabel vor dem Gesetz“ ist natürlich brillant. Aber wenn Sie den Rest Ihres Lebens auf einer einsamen Insel verbringen müssen, ist diese halbe Seite vielleicht doch nicht genug. Es sei denn, Sie entwickelten auf der Insel eine neue talmudische Tradition und legten Kafkas Parabel immer wieder neu aus. Aus Freude an der Sprache würde ich auch Nabokov mit auf die Insel nehmen. Keiner vermag so wunderbar mit der Sprache zu spielen. Aufgrund meiner Anhänglichkeit an die antike Welt würde ich auch Vergils „Aeneis“ einpacken. Das Zusammenspiel aus Staatsgründung und Literatur ist hochinteressant und poetisch produktiv. </span></span></div>
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<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: inherit;"><b>Tobias Lentzler: Lieber Herr Mangold, vielen Dank für das Gespräch.</b></span></span></div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-201229585175966182019-03-14T19:01:00.003+01:002019-06-07T10:08:26.344+02:00Essay: Wie die Schülerstreiks für den Klimaschutz der Demokratie helfen<div style="text-align: justify;">
<i>Wie jüngst bekannt wurde, ist die 16-jährige Schwedin Greta Thunberg, die seit Mitte 2018 jeden Freitag für das Klima streikt, für den Friedensnobelpreis nominiert worden. Diese ist nur eine von vielen Nachrichten, die weltweit rezipiert werden. Der eigentliche Zweck ihrer Protestaktion, der Schutz des Klimas, droht in den Hintergrund zu geraten - auch und gerade wegen der teils doch sehr rückständig ausgetragenen Diskussion darüber, ob Schüler den Unterricht schwänzen dürfen oder nicht. Dies ist der Versuch der abgeschmackten Debatte ein produktives Leitbild entgegenzustellen.</i></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Vielleicht ist Greta Thunberg derzeit der berühmteste Teenager der Welt<i>. </i>Weltweit füllen Nachrichten über sie Zeitungen, Nachrichtenportale und Twitter-Feeds wichtiger Politikerinnen und Politiker. </div>
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Seit Mitte 2018 streikt sie jeden Freitag vor dem schwedischen Parlament in Stockholm; und mit ihr streiken mittlerweile viele Tausend Schülerinnen und Schüler (und auch Studierende) auf der ganzen Welt. Die so genannten "Fridays for Future", die von Thunberg inspiriert sind und das Ziel haben Politiker zum Handeln in Sachen Klimaschutz zu bewegen, ziehen mittlerweile allein in Deutschland etwa 300 Regionalgruppen an. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Das Engagement von Thunberg und der von ihr Inspirierten ist bemerkenswert - egal, ob man es gutheißt oder verurteilt. </div>
<div style="text-align: justify;">
Jedoch scheint es als liefen die öffentlichen Diskussionen an der eigentlichen Thematik vorbei. Diskussionen darüber wie Politiker konkrete Gesetze verabschieden könnten, die dem Klimaschutz förderlich wären, finden selten statt. Es dominiert die Frage darüber, ob Schüler für das Klima streiken- oder in die Schule gehen sollten. </div>
<div style="text-align: justify;">
Dieses Essay will in drei Punkten versuchen aufzuzeigen wie Politikerinnen und Politiker die Signale, die Schülerinnen und Schüler durch ihre regelmäßigen Ausstände senden, produktiv nutzen könnten. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<b>(1) Schüler und Studierende haben eine eigene Stimme - nehmen wir diese ernst!</b></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Keiner anderen Konvention sind mehr Staaten beigetreten als der UN-Kinderrechtskonvention. Artikel 13 hält fest: "Das Kind hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ungeachtet der Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder (...) durch (...) andere vom Kind gewählte Mittel sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben". </div>
<div style="text-align: justify;">
Vielen scheint es jedoch schwer zu fallen dieses Recht nicht nur <i>de jure</i> zu garantieren, sondern auch <i>de facto</i> ernst zu nehmen. Anders lässt sich nicht erklären wie Diskussionen darüber, ob es Schülern (trotz geltender Schulpflicht) erlaubt sein sollte ihre Stimme zu erheben und ihre Meinung durch Ausstände zu äußern. </div>
<div style="text-align: justify;">
Die Stimmen der Schülerinnen und Schüler wirklich ernst zu nehmen begönne damit Gesprächsangebote zu machen - und zwar nicht nur einmal. Jeden Freitag! Lokal-, Landes-, und Bundespolitiker, Unternehmerinnen und Wissenschaftler sollten sich den drängenden Fragen der Schüler stellen. Die Formate müssten hierbei angemessen sein.</div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Die Stimmen der Schülerinnen und Schüler ernst zu nehmen heißt übrigens auch nicht um jeden Preis zu versuchen sich mit ihnen gemein zu machen. Lebendige Diskussionen leben von ernstzunehmenden Widersprüchen. Trauen wir Kindern und Heranwachsenden zu diese auszuhalten.</div>
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<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<b>(2) Schülerstreiks sind gut für die Demokratie</b></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Ein Gutteil der politischen Berichterstattung der letzten Jahre befasste sich mit dem Aufkommen populistischer Politiker oder Parteien. Oft wurde über ein Erstarken der Ränder und das "Schweigen der Mitte" geklagt. </div>
<div style="text-align: justify;">
Die Ausstände der Schülerinnen und Schüler sind ein gutes Zeichen. Sie stehen prinzipiell jeder Schulform offen, sind nicht sehr voraussetzungsreich und erschaffen ein Gefühl von Solidarität. Im besten Fall entwickelt sich daraus ein dauerhaftes politisches und/oder soziales Engagement. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Wenn Politikerinnen und Politiker ernste Gesprächsangebote machen kann neues Vertrauen in die Repräsentanten des Staates und seine Institutionen entstehen. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<b>(3) Streiks können den Blickwinkel verändern</b></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Sich der Schulpflicht zu entziehen, indem man einmal in der Woche nicht dorthin geht, sondern streikt, ist eine Provokation. Und das ist gut so! Nur durch diese Form des Protests können Politikerinnen und Politiker gewohnte (vielleicht auch überkommene) Blickwinkel verändern und neue Perspektiven auf ein Thema gewinnen. Sie erfahren nicht nur, dass Kinder sich um ihre Zukunft sorgen, sondern können zum Beispiel auch über Fragen der Bildungspolitik (ein seit vielen Jahren sträflich vernachlässigtes Politikfeld) diskutieren. Einige wichtige Fragen könnten hierbei sein: Wie wollen Schüler lernen?, Was ist ihnen wichtig? und: Wie können wir sie auch auf dieser Ebene mit in den Prozess des Gesetzemachens einbinden? </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
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Diese drei Punkte ließen sich mit Sicherheit beliebig erweitern. Jedoch war dies ein erster Versuch den Umstand der andauernden Ausstände und der doch recht pomadigen, ja abgeschmackten Diskussionen über ihre Sinnhaftigkeit ein produktives Leitbild gegenüberzustellen. Im Übrigen gelten diese drei Punkte nicht nur für Politiker; sie gelten für uns alle.</div>
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<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Die Schülerstreiks sind eine politische Willensäußerung - nehmen wir sie also als eine solche ernst!</div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-3853616574330422492018-10-02T13:30:00.001+02:002023-06-26T08:26:14.406+02:00Essay: Aus unserer Schuld muss die Kraft des Guten erwachsen.<div style="text-align: justify;">
<i>Nicht erst die Ereignisse in Chemnitz Anfang September haben gezeigt, dass die Demokratie derzeit einer deutlichen Verteidigung bedarf. Dieser Essay entstand 2017 und fordert von allen Demokraten radikale Offenheit, Dialog, echte Gespräche, aber auch Hoffnung und Zuversicht. Als Deutsche haben wir die Verantwortung uns der Schuld, die wir im 2. Weltkrieg auf uns geladen haben, jeden Tag bewusst zu bleiben und daraus die Kraft des Guten erwachsen zu lassen, für liberale Werte zu werben und danach zu streben.</i></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;">Der öffentliche Diskurs verwässert in unseren, sich immer diffiziler ausbildenden, digitalen Blasen. Er schrumpft zusammen auf ein paar kümmerliche Wortgefechte - mit blindwütiger Boshaftigkeit geführt -, wenn eine Blase auf die andere trifft. So beschäftigt sind wir mit uns selbst, mit bedeutungslosen Streitereien oder Selbstbestätigung auf unseren digitalen Inseln, dass wir höchsten kurz irritiert aufschauen, wenn aggressive Töne angeschlagen werden. – Sinnbildlich für die Düsternis stehen derzeit rechtsextreme Politiker wie Björn Höcke (AfD). Dieser warf Richard von Weizsäcker – dem Bundespräsidenten, der eine der wichtigsten Reden zur Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1945 gehalten hat – vor sich gegen sein Volk gestellt zu haben und schmähte auch den im Januar 2017 verstorbenen Roman Herzog sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Am Schwersten jedoch wiegt, dass Höcke bei seiner Rede vom 17. Januar 2017 in Dresden das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnete und den Jubel einer Horde aufgepeitschter Nationalisten erntete. Björn Höckes menschenfeindlicher Gesinnung müssen wir <i>radikale Offenheit</i> entgegensetzen! Es bedarf <i>gelebter</i> <i>Toleranz</i> für die vielfältigen Lebensentwürfe, Familienbilder und Minderheiten in Deutschland.</span><span style="mso-tab-count: 1;"> </span><span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;"> </span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;">Gegen die Hasstiraden der Rechtspopulisten, ihre menschenverachtenden, in ihrer Grundüberzeugung anti-demokratischen Parolen, müssen wir den <i>Dialog</i> setzen. Gerade in Zeiten der – alle sozialen Geflechte wandelnden Digitalisierung – sind <i>echte Gespräche außerhalb der digitalen Sphäre</i> ein probates Mittel gegen Stammesbildungen (Tribalisierung) innerhalb einer Gesellschaft. Letztere rüttelt – wie die NZZ 2016 beschrieb – an Karl Poppers Idealbild einer offenen und liberalen Gesellschaft, die auf universellen Normen gründet. Miteinander in den Dialog zu treten ist kraftraubend und ernüchternd. Oftmals kosten Gespräche Mut und Kraft und Zeit. Doch wenn alles ausgesprochen ist, wenn der Zorn verraucht-, wenn die Standpunkte einander deutlich gemacht wurden, können gemeinsam Lösungsansätze entwickelt werden.</span><span style="mso-tab-count: 1;"> </span><span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;"> </span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;">Den Ängsten der Menschen müssen wir positive Emotionen – <i>Hoffnung und Zuversicht</i> – entgegensetzen. Wir können unsere positiven Emotionen auf Reformen gründen, die durchdrungen sind von den Idealen liberaler Demokratien. Sicherheit in Form von einem Mehr an Überwachungskameras oder Geheimdiensten, wird diese Ängste nicht zerstreuen. Die Rhetorik der Rechten zu übernehmen, wird ebenfalls nicht helfen. Rassismus und Hass gehören benannt und angeprangert. Jedem Menschen dieser Welt kommen <i>die gleichen Rechte</i> zu. Wer diese mit Füßen tritt, gehört bestraft. </span><span style="mso-tab-count: 1;"> </span><span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;"> </span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;">Die Rechtspopulisten versuchen die Europäische Union, den Gedanken an ein geeintes Europa niederzubrüllen. Wir dürfen nicht stumm bleiben! Gerade jetzt ist die Zeit gekommen für eine <i>Europäische Verfassung</i> einzutreten sowie den Menschen bewusst zu machen, welche Vorteile eine <i>europäische Identität</i> gegenüber einer nationalen hat. </span><span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;"> </span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;">Deutschland kommt in diesen oben skizzierten Punkten eine entscheidende Rolle zu. Nicht als europäischer „Hegemon wider Willen“, sondern als das Land, das wie kein anderes auf der Welt Schuld auf sich geladen hat. – Das Andenken an all jene im Nationalsozialismus Verfolgten und Ermordeten ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. <b>Aus unserer Schuld, die uns an jedem Tag bewusst bleiben muss, erwächst die Kraft für das Gute zu werben, danach zu streben</b>; Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, Demokratie und Freundschaft unter all unseren Brüdern und Schwestern – allen Menschen dieser Erde – als unsere höchsten Güter anzuerkennen und sie gegen jede Art von Anfeindung zu schützen. </span><span style="mso-tab-count: 1;"> </span><span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;"> </span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;">Der – wie Roman Herzog im Januar 2017 verstorbene – polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman hat in einem seiner letzten Texte darauf aufmerksam gemacht, dass freie und prosperierende Gesellschaften nur durch das Zusammentreffen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als drei sich gegenseitig ermöglichende Elemente entstehen konnten. Wenn unser Ziel eine ebensolche Gesellschaft ist, müssen wir für all die oben beschriebenen Dinge streiten, Einsatz zeigen und <i>neue Formen bürgerlichen Engagements</i> entwickeln. Es bedarf neuer Formen der gesellschaftlichen Teilhabe – wie sie zum Beispiel Claus Leggewie und Patrizia Nanz in ihrem Buch „Die Konsultative“ vorschlagen -, aber auch der Wiederentdeckung des Lobes für idealistische Politikerinnen und Politiker sowie Vertrauen in <i>public intellectuals</i>, Journalistinnen und Journalisten. Bürgerliches Engagement gepaart mit Lob und Vertrauen können wichtige Triebkräfte für eine neue Ära der Demokratie sein (siehe kulturlog-Artikel vom 01. Oktober 2018). </span><span style="mso-tab-count: 1;"> </span><span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;"> </span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;">Unser aller Kraft liegt in der Macht des Wortes. Wir müssen unsere Stimmen erheben und miteinander für eine offene Gesellschaft streiten, deren Grenzen nicht die eines einzelnen Landes sind.</span><span style="mso-tab-count: 1;"> </span><span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;"> </span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: "" "helvetica" "" , serif;">Im Englischen gibt es ein schönes Sprichwort: <i>Every cloud has a silver lining</i>. Diesen Hoffnungsschimmer auch in einem heraufziehenden Sturm zu erkennen und nach dieser Hoffnung zu handeln, ist unser aller Verantwortung. </span></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<br />
<div class="MsoNormal">
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<br />
<div style="margin: 0px;">
<br /></div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-65148278339969117652018-10-01T15:54:00.002+02:002023-09-28T13:26:43.970+02:00Essay: Wir leben nicht in einer Service-Demokratie. – Gedanken über staatsbürgerliche Pflichten.<div style="text-align: justify;">
<i>Demokratie erfordert ein kontinuierliches Bemühen um sie. Die weltweit erstarkenden populistischen Bewegungen sind zum Teil auch Ausdruck eines falschen Demokratieverständnisses. Nicht nur Politiker haben in einer repräsentativen Demokratie die Pflicht sie zu pflegen; auch die Bürger sind hierbei</i> <i>gefragt. </i></div>
<div style="text-align: justify;">
<i><br /></i></div>
<div style="text-align: justify;">
Diesem Essay geht es um eine Annäherung an den Begriff der staatsbürgerlichen Pflichten und die Rolle der Bürger in einer repräsentativen Demokratie. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
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Ganz allgemein erfordert Demokratie ein stetiges Bemühen um sie. Sie kann sich nur fortentwickeln, wenn alle Bürger eines Staates (und auch all jene, die nicht die Staatsangehörigkeit des entsprechenden Landes teilen, aber in ihm leben) diese Aufgabe ebenso wahrnehmen wie Politiker. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Der Gedanke es sei allein Aufgabe der Politik (und noch konkreter der jeweiligen Regierung) die unterschiedlich gelagerten Probleme eines Landes zu lösen, den Bürgern ihre Sorgen abzunehmen oder ihnen - wie auch immer geartete - Wohltaten angedeihen zu lassen, zeugt von einem verqueren Staatsverständnis. Wir leben nicht in einer Service-Demokratie. Der oben genannte Anspruch an alle Bürger erwächst aus der Tatsache, dass in einer Demokratie das Volk der Souverän ist.<br />
Bürger müssen daher bereit sein Verantwortung für die Handlungen ihrer jeweiligen Regierungen im In- und Ausland mit zu übernehmen. Der in Yale lehrende Philosoph Thomas Pogge sieht in seinem 2011 erschienenen Text "Are We Violating the Human Rights of the World's Poor?" hierbei alle Bürger in der Pflicht. Ausgenommen sind bei ihm Kinder und Menschen mit schweren mentalen Behinderungen. Zwar bezieht sich Pogges Text auf das globale Problem der Weltarmut, jedoch erscheint sein Verständnis von Verantwortung, welches Bürgerinnen und Bürger (in Industrieländern) für die von ihren Regierungen betriebene Politik haben, auch auf andere Kontexte übertragbar zu sein. Um eines deutlich zu sagen: Diese (Mit-)Verantwortung entlässt Politiker keineswegs aus der Pflicht zu handeln. Viel eher geht es darum als Staatsbürger Möglichkeiten des aktiven Austauschs mit Politikern wahrzunehmen. Sei es in Form von Briefen an den jeweiligen Abgeordneten, Teilnahmen an Gesprächskreisen oder Veranstaltungen, als Teil einer Bürgerinitiative oder als Demonstrant für oder gegen etwas.<br />
<br />
Der deutsche Politikwissenschaftler Christian Welzel schrieb 2009 in einem Buchkapitel über Demokratisierung: "What matters is not whether people support democracy but <i>for what reasons </i>they do so (...). Only when people support democracy for the freedoms that define it, are they ready to mount pressure on elites to introduce these freedoms when they are denied, to defend them when they are challenged, or to advance them when they stagnate".<br />
Die Rolle des Staatsbürgers ist hierbei eine aktive. Er (oder sie) soll sich für die durch Demokratien zugesicherten Freiheiten einsetzen, sie verteidigen oder erweitern.<br />
<br />
Doch wie sieht diese aktive Rolle eines Staatsbürgers konkret aus? - Ich sehe unsere Rolle (bitte verzeihen Sie mir den auf diesem Blog selten vollzogenen Wechsel in die erste Person Singular) darin Politik um neue Perspektiven zu bereichern. Diese Bereicherung kann konkrete Politik-Vorschläge beinhalten (z.B. die Einführung eines kostenlosen Dauertickets für den ÖPNV und/oder die Fernbahnen und -busse bei freiwilliger Abgabe seines Führerscheins) oder das Bewusstsein darüber, dass man sich in seiner je eigenen Rolle als Facharbeiter, Krankenpfleger, Universitätsprofessor oder Busfahrer usf. immer auch als Wissensvermittler und Dialogpartner für Anders- und Gleichdenkende sieht.<br />
<br />
Jeder Mensch hat eine Fähigkeit, die ihn auszeichnet. Der aktive Staatsbürger nutzt sein Wissen, um seine Mitmenschen zu inspirieren oder zum Nachdenken anzuregen. Er überschätzt sich nicht, mischt sich aber dennoch aktiv ein. Es geht dabei nicht (nur) darum große Politik zu machen. Engagement kann im kleinen Rahmen zum Gelingen einer Nachbarschaft, eines Dorfes oder eines Stadtteils beitragen. <br />
<br />
Von entscheidender Bedeutung sind drei Qualitäten: Zuhören, Handeln und Akzeptieren. Alle Meinungen, die vom demokratischen Meinungsspektrum abgedeckt werden, sollten zunächst Gehör finden. Auf Basis einer kritischen Auseinandersetzung sollte anschließend eine Haltung formuliert werden, die in eine Handlung überführt werden kann. Ist die Handlung dereinst ausgeführt gilt es, dass auch Menschen, die eine andere Handlung bevorzugt hätten die Entscheidung akzeptieren. Zumindest so lange bis ein neues (und besseres) Argument zu einem neuen Prozess des Aushandelns über ein bestimmtes Thema führt. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<br />
<br />
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
</div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-83368409431204635622018-08-04T11:04:00.001+02:002023-09-28T13:26:36.698+02:00"Meine Vorstöße sind anti-nostalgisch". – Robert Pfaller im Interview.<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><i><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Robert
Pfaller, Philosophie-Professor an der Universität für künstlerische und
industrielle Gestaltung Linz, kritisiert in seinem aktuellen Buch
"Erwachsenensprache" den Neoliberalismus von links. Ein Gespräch über
Bürgerlichkeit, politische Korrektheit, den Gender-Diskurs und unsere
nostalgische Gegenwart. </span></i></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Herr
Professor Pfaller, Genuss spielt in Ihren Werken eine zentrale Rolle. Warum? –
Was macht diesen Begriff so zentral für Ihr Denken?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller:</b> An der
Genussfähigkeit - also daran, ob Menschen sich gelegentlich die Frage stellen,
wofür es sich zu leben lohnt - entscheidet sich, ob sie bereit sind, politisch
zu kämpfen oder nicht. So, wie Bertolt Brechts Pariser Kommunarden in ihrer
Resolution sagen: "In Erwägung, dass ihr uns nun eben/ mit Gewehren und
Kanonen droht/ so haben wir beschlossen, von nun an/ schlechtes Leben mehr zu
fürchten als den Tod."<span style="mso-tab-count: 1;"> </span><br />
Wenn die Leute hingegen selbst verlernt haben, zu geniessen oder zufrieden zu
sein, fangen sie auch an, anderen deren vermeintliches Glück zu neiden. Die
derzeitige, für die Postmoderne typische Diffamierung vieler Glücksformen (wie
Trinken, Rauchen, fett Essen, Autofahren, Flirten, Sex etc.) führt also zur
politischen Wehrlosigkeit und zur neidischen Entsolidarisierung in der
Gesellschaft.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Ein weiterer
wichtiger Aspekt Ihres Denkens ist – soweit ich das feststellen kann – Ihre
Überzeugung, dass das Private und das Öffentliche strikt voneinander zu trennen
seien. Was geht verloren, wenn diese Begrifflichkeiten an Trennschärfe
verlieren?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller:</b> Wie Richard
Sennett bereits 1977 richtig erkannte, wird in westlichen Gesellschaften seit
einigen Jahrzehnten die Errungenschaft der öffentlichen Rolle (des "Public
Man", jeglichen Geschlechts) zugunsten der privaten Person aufgelöst. Alle
kommen nun mit ihren persönlichen Empfindlichkeiten und Marotten in die
Öffentlichkeit und verlangen nach "Anerkennung". Dadurch aber geht
das Entscheidende verloren, was uns zu politischen Bürgerinnen und Bürgern
macht. Als solche handeln wir, wenn wir unsere persönlichen Agenden ein Stück
weit im Hintergrund halten - was schon bei elementaren Verhaltensweisen des
öffentlichen Raumes wie zum Beispiel der Höflichkeit beginnt: auf die Frage,
wie es einem geht, antwortet man ja bezeichnenderweise eben nicht mit dem
eigenen Blutbild. Nur wenn wir das fertigbringen - was unsere Eltern- oder
Großelterngeneration übrigens noch sehr gut beherrschte -, sind wir fähig, das
Allgemeine in uns zum Vorschein zu bringen. Und nur dann sind wir in der Lage,
uns mit anderen, ungeachtet von deren kultureller, sexueller, ethnischer oder
religiöser Identität, zu verständigen, unsere gemeinsamen Interessen zu
erkennen und uns mit ihnen zum politischen Handeln zusammenzuschließen. Die
postmoderne Propaganda der Empfindlichkeit und der sogenannten "Sensibilisierung"
hingegen ist eine Waffe der Zerstückelung der Gesellschaft, der Ablenkung auf
unbedeutende Kleinigkeiten und der politischen Lähmung.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Ihr
jüngstes Buch „Erwachsenensprache“ fällt in eine Zeit, da in vielen Ländern
Europas und in den USA Kunstwerke kritisch hinterfragt, abgehängt oder gar
übermalt werden. Wie kann man sich diesem Umstand philosophisch nähern?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller: </b>Überspitzt
würde ich sagen: daran zeigt sich, dass man kein Muslim zu sein braucht, um
sich wie ein Taliban aufzuführen. Die postmoderne Identitätspolitik mit ihrer
Propaganda der Empfindlichkeiten erweist sich hier als Ideologie des
Neoliberalismus: sie bedient das neoliberale Interesse der Privatisierung des
öffentlichen Raumes; und seiner Unterwerfung unter persönliche Ansprüche. </span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Welche
möglichen Probleme entstehen aus der Art wie oben beschriebene Gesellschaften
sich derzeit mit Kunst und Kultur auseinandersetzen?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller: </b>Der
(oder die) vermeintlich Empfindlichste soll heute zum Maßstab dessen werden,
was in der Öffentlichkeit vorkommen darf. Das alte Prinzip bürgerlicher
Öffentlichkeit (im Sinn von <i style="mso-bidi-font-style: normal;">citoyenneté</i>)
hingegen besagte, dass man im öffentlichen Raum Dinge und Meinungen bis zu
einem gewissen Grad dulden muss, auch wenn sie einem nicht zur Gänze passen.
Der Widerstreit von entgegengesetzten Ansichten und Interessen gehört ja zur
Demokratie. Einen Film, den man nicht mag, muss man sich nicht ansehen; und
eine Bar, in der geraucht wird oder in der Musik gespielt wird, die einem
zuwider ist, braucht man ja nicht zu besuchen. Dieses Prinzip der maßvollen
Zumutbarkeit widriger Dinge im öffentlichen Raum würde ich auch als
Erwachsenheit bezeichnen. Diejenigen hingegen, die im Namen ihrer
Empfindlichkeiten heute ständig nach Polizei und Zensur rufen, führen sich auf
wie Kleinkinder. Dass Erwachsenheit heute nicht mehr von jedem Erwachsenen mit
Selbstverständlichkeit erwartet werden kann - genau das macht meines Erachtens
das Neoliberale an der Erosion des öffentlichen Raumes aus.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: „Erwachsenensprache“
geißelt mit markigen Worten den Neoliberalismus. Was lässt Sie vermuten, dass
er die Triebfeder der heftig diskutierten Fragen nach politischer Korrektheit
oder rücksichtsvollem Sprechen ist?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller:</b> Die von
vielen scheinbar emanzipatorischen Akteuren vorangetriebene Infantilisierung
erscheint mir als eine sehr nützliche Stütze des Neoliberalismus. Die Leute
kümmern sich nur noch um Kleinkram und symbolische Kompensationen, während in
der Gesellschaft, wie zum Beispiel an der Banken- und Finanzkrise 2008 deutlich
wurde, eine massive Umverteilung des Reichtums zugunsten der Reichsten
stattfindet, gegen die kaum jemand mehr etwas unternimmt. Die Philosophin Nancy
Fraser hat die Empfindlichkeitspropaganda der <i style="mso-bidi-font-style: normal;">political correctness</i>
des sensiblen Sprechens darum auch als "progressiven Neoliberalismus"
bezeichnet.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Wie
erklären Sie sich, dass die Forderungen nach Binnen-I, Gendersternchen o.ä.
öffentlich derzeit so stark – und oft auch recht einseitig – rezipiert werden?
Inwieweit lassen diese Fragen Ihrer Meinung nach eine differenzierte
Auseinandersetzung zu?</span></b></span></span></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="mso-tab-count: 1;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;"></span> </span></span></span></span></span><br /><div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller: </b>Wie der Philosoph Spinoza bemerkte: Was die Menschen aus Vernunft erkennen, das verteidigen sie auch mit Vernunft. Was sie hingegen aus Leidenschaft erkennen, das verteidigen sie auch mit Leidenschaft. Bezeichnend erscheint mir für unsere gegenwärtige Situation, dass Massnahmen mit umso größerer Heftigkeit verteidigt werden, je weniger sie den betroffenen Gruppen wirklich nützen. Von Binnen-Is oder Gendersternchen kann sich niemand etwas kaufen.</span></span></span></span><br />
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Seit etwa 1980 haben die
Sozialdemokratien und Mitte-Links-Parteien in den westlichen Ländern kaum mehr
etwas gegen die wachsende ökonomische Ungleichheit unternommen. Gegen die
Vorstöße von Thatcher und Reagan waren sie noch ohnmächtiger als die
Bevölkerungen, die ja immerhin das eine oder andere Mal versucht haben, wieder
eine Alternative an die Macht zu wählen. Aufgrund ihrer Ohnmacht haben eben
diese Mitte-Links-Parteien ihre Aufmerksamkeit auf die Kultur und den
symbolischen Raum verlagert - daher zum Beispiel das Augenmerk auf die Sprache.
Aber wenn man Probleme, die auf der Ebene der Ökonomie und der Sozialpolitik
gelöst werden müssen, in die Kultur verlagert, dann löst man diese Probleme
nicht nur nicht; man schafft sogar zusätzliche neue. Man macht dann im Namen
vermeintlicher Emanzipation auch noch reaktionäre Kulturpolitik, zum Beispiel
durch verschärfte Zensur.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Viel
ist derzeit von „Filterblasen“ und dem Verlust einer zivilisierten
Diskussionskultur die Rede. Wie könnten wir Letztere wieder fördern?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller: </b>Indem
wir uns auf der Ebene der Ethik wieder zunehmend wie erwachsene, mündige
politische Bürgerinnen und Bürger verhalten, die in der Lage sind, ihre
gemeinsamen Interessen zu erkennen und sie handelnd wahrzunehmen. Und indem wir
auf der Ebene der Politik beginnen, Probleme ungleicher Einkommen als
ökonomische Probleme, und nicht als kulturelle oder sprachliche, zu behandeln.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: In
Ihrem Buch „Erwachsenensprache“ plädieren Sie für das Prinzip der
Bürgerlichkeit, das persönliche Befindlichkeiten in der Öffentlichkeit
zurückstellt. Welche Fähigkeiten müssen gestärkt werden, damit Bürgerlichkeit
wieder in den Fokus unseres öffentlichen Handelns rücken kann?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller: </b>Man
muss die Leute, anstatt sie in ihren vermeintlichen Identitäten und den
dazugehörigen Empfindlichkeiten zu bestärken, wieder daran erinnern, dass sie
als Erwachsene durchaus in der Lage sind, einiges auszuhalten - ja sogar es als
Bereicherung zu nutzen. Von manchem, was mir gegen den Strich geht, kann ich
bei näherer Betrachtung schließlich auch etwas lernen.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: An
vielen Stellen in „Erwachsenensprache“ plädieren Sie für eine offene
Gesellschaft, die „ohne Inklusion von identitären oder gemeinschaftlichen
Gruppen“ politische und kulturelle Teilhabe ermöglicht. Skizzieren Sie bitte:
Welche Schritte müssen wir unternehmen, um diesen Gesellschaftstypus zu
erreichen?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller: </b>Gerade
den heute um das Sprechen so sehr Besorgten scheint eines nicht aufzufallen:
eine inklusive Gesellschaft ist, genauso wie eine exklusive, eine geschlossene
Gesellschaft. Es geht doch nicht darum, alle einzuschließen, sondern darum,
einen offenen Raum herzustellen, zu dem alle, ungeachtet ihrer Herkünfte oder
Besonderheiten, Zugang haben. Dazu müssen sie auch nicht dauernd drinnen sein -
wie das der irreführende Begriff der "Partizipation" unterstellt hat.
Gerade am aktuellen Kapitalismus kann man lernen, dass oft diejenigen, die
nicht aktiv mitmachen, von manchen Prozessen am meisten haben. Wenn man an dem
Wort "Teilhabe" festhalten will, dann sollte man es darum nicht mit
"Partizipation" übersetzen, sondern vielleicht eher mit
"shareholding".</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Herr
Prof. Pfaller, viele Ihrer Vorschläge erscheinen lohnenswert, allein sie wirken
auch weit entfernt davon derzeit gesellschaftlich zu verfangen. Würden Sie sich
als Nostalgiker bezeichnen? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? </span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller: </b>Ich
glaube, die Gegenwartskultur ist zutiefst nostalgisch. Das kann man zum
Beispiel am Retro-Design sehen, mit dem die Industrie den sehnsüchtigen Wunsch
der Leute nach bestimmten, jüngeren Vergangenheiten bedient: etwa mit dem Mini
oder dem Fiat Cinquecento. Nun kann man sich fragen, wonach sehnen sich die
Leute zurück? - Und eines wird dabei sofort klar: sie sehnen sich nach einer
Vergangenheit, die ihrerseits keine Sehnsucht nach Vergangenheit hatte. In den
60er und 70er Jahren gab es kein Retrodesign. Und zwar deshalb, weil die Leute
damals begründete Hoffnung hatten, dass es ihnen in der Zukunft besser gehen
würde. Wir sehnen uns heute also zurück in eine Vergangenheit, die anders als
wir, noch Hoffnung auf Zukunft hatte. Da ich versuche, mit meinen bescheidenen
philosophischen Mitteln eine Ethik und eine Politik zu befördern, die den
Menschen wieder Aussicht auf eine bessere Zukunft verschafft (so, wie es
derzeit, in nicht unbedeutendem Maß die Bewegungen rund um Bernie Sanders und
Jeremy Corbyn tun), würde ich meinen, dass meine Vorstöße anti-nostalgisch
sind.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Ijoma
Mangold hat in der „Zeit“ 2016 vom „Verlust der Mitte“ gesprochen. Von links
käme „Hypermoral“, von rechts „blanke Gewalt“. Begreifen Sie Ihre Arbeit als
ein Plädoyer für eine neue Form von Bürgerlichkeit aus der Mitte der
Gesellschaft? Wenn ja, warum? Wenn nein, wofür plädieren Ihre Arbeiten dann?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>
</b></span></span></span><br />
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller:</b> Sie
dürfen nicht übersehen, dass ich die aktuelle Pseudolinke von links kritisiere.
Gegen eine kulturelle Symbolpolitik, die letztlich den Neoliberalismus stützt,
fordere ich eine ökonomische Politik, die ihn bekämpft. Ein Einsatz und Terrain
dieses Kampfes ist aber tatsächlich die Frage, ob wir in Zukunft noch so etwas
wie eine bürgerliche Öffentlichkeit haben werden, oder ob es den echauffierten
"Kulturtaliban" westlicher Prägung gelingt, diese zur Gänze zu
zerstören und ein Regime des "betreuten Denkens" einzurichten, wie
die Philosophin Maria-Sibylla Lotter dies treffend genannt hat. Das Wort
"bürgerlich" bezeichnet hier den <i style="mso-bidi-font-style: normal;">citoyen </i>- eine
Anrede, mit der auch Karl Marx seine Freunde und Genossen bedachte -, und nicht
den <i style="mso-bidi-font-style: normal;">bourgeois</i>.
Darum sehe ich meine linke Position in einer Allianz mit jenen bürgerlichen,
liberalen Kräften, die ebenfalls den öffentlichen Raum von der Übernahme durch
gutmeinende Privatinteressen schützen wollen. Bertolt Brechts Satz "der
Kommunismus ist das Mittlere" scheint mir hierin eine mögliche Anwendung
zu finden.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Wie
gehen Sie nach dem Erfolg Ihrer Bücher mit möglicher Kritik von weit links bzw.
Lob von weit rechts um? – Wie nah sind sich diese Extrem-Positionen
argumentativ?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller:</b> Lob von
rechts bekomme ich kaum jemals; und Kritik kommt nie von weit links, sondern
meist von einer bourgeoisen, pseudolinken Mitte. Das ist nicht überraschend.
Aus meiner Sicht sind die Kulturlinke und die extreme Rechte derzeit Komplizen.
Denn alles, was wirklich von links kommt, kann die Kulturlinke bequem als
rechts diffamieren. Und die Rechte profitiert davon, dass der Großteil der
unteren Mittelschichten sich von der pseudolinken Kulturpolitik übergangen
fühlt. Weil Empfindlichkeitspolitiken, Sprachorthodoxie, Museumszensur und
ähnliche Maßnahmen immer nur Distinktionskapital für die Eliten erzeugen,
wählen die durch diese Distinktion Deklassierten eben derzeit zornig rechts.
Das könnte sich bald aber auch wieder ändern.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Wie
sollten Ihrer Meinung nach Universitäten heute aussehen, damit Sie zum Denken
anregen und öffentliche Debatten befruchten?</span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller:</b> Offen
und gegen alle repressiven Empfindlichkeiten am Ideal der Erwachsenheit
orientiert - so, wie das der Dekan der University of Chicago, John Ellison,
einmal mit bewundernswerter Klarheit festgehalten hat: wir geben keine
"trigger warnings" aus; wir laden eingeladene Vortragende nicht
deshalb wieder aus, weil sie unbequeme Ansichten vertreten, und wir kreieren
keine "safe spaces". Dieses Ideal muss auch für die Gesellschaft als
ganze gelten: eine emanzipierte Gesellschaft zeichnet sich nicht dadurch aus,
dass alle Identitäten "sichtbar", und alle Empfindlichkeiten durch
Zensur berücksichtigt sind. Die völlige Sichtbarkeit aller Gruppen hatten wir
doch schon einmal - die haben die Nazis perfekt vorexerziert. Und was die, die
es gut meinen, durch Zensur und Zerstörung anrichten, kann man zum Beispiel
daran sehen, was die islamistischen Fanatiker des Daesh vor kurzem mit
Timbouktou, dieser wunderbaren Stätte islamischer Gelehrsamkeit, gemacht haben.
Eine egalitäre Gesellschaft hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass alle
unbesehen ihrer Identität - entsprechend dem Ideal der "blinden
Justitia" - Zugang zum öffentlichen Raum haben.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><b><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;">Tobias Lentzler: Zuletzt:
Sie sind Professor an der Kunstuniversität in Linz. Welchen Eindruck macht der
(akademische) Nachwuchs auf Sie? Wie blicken Sie auf Basis Ihrer Beobachtungen
in die Zukunft? </span></b></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><b>Robert Pfaller: </b>Linz
ist eine Arbeiterstadt. Der österreichische Bürgerkrieg hat am 11. Februar 1934
durch den Widerstand unbeugsamer Schutzbündler gegen die
katholisch-faschistische Dollfuß-Diktatur hier seinen Ausgang genommen. Diese
Tradition ist auch heute noch spürbar. Auch wenn freilich ein großer Teil der
Studierenden nicht aus Linz kommt, scheint mir unter ihnen doch eine bestimmte
politisierte Vernunft als Grundstimmung zu herrschen, die sie deutlich unempfänglicher
macht für modische pseudolinke Strömungen, wie sie die bürgerlicheren
Studierenden anderer Kunstuniversitäten, wie das Kunstfeld überhaupt, prägen.
Aus dieser mainstream-kritischen Haltung gehen immer wieder grandiose Arbeiten
hervor, wie zuletzt zum Beispiel die aufblasbare Karl-Marx-Monumentalskulptur
von Hannes Langeder. Die intellektuellen und politischen Ressourcen sind also
je nach Standort unterschiedlich. Ein großer Teil dessen allerdings, was die
Universitäten in Europa zu Brutstätten eines kritischen Intellektualismus
machen konnte, scheint mir heute massiv gefährdet durch die Reformen seit den
1990er-Jahren - also die sogenannte Bologna-Reform sowie die damit
zusammenhängende Privatisierung der Universitäten (in Österreich
"Vollrechtsfähigkeit" genannt) und die entsprechende Ökonomisierung
der Bildung. Universitäten sind dadurch weitgehend zu stumpfen Ausbildungs- und
Lernanstalten verkommen. Man kann den Studierenden kaum einen Vorwurf machen,
wenn sie sich entsprechend verhalten. In kleinen Nischen aber kann man, wenn
man Glück hat, sowohl als Student wie als Lehrender, noch vernünftig arbeiten.
Von solchen Nischen kann dann auch mitunter ein kräftiger politischer Impuls
ausgehen - wie zuletzt bei dem in seinem Umfang wie in seiner Qualität äußerst
beachtlichen Streik im Jahr 2009, der, von einer Wiener Kunstakademie
ausgehend, sich quer durch Europa zog und an dem sich Millionen von
Studierenden wie Lehrenden beteiligten. Es verhält sich hier wie überall in der
Gesellschaft: alle Tiger, die man vorübergehend ablenkt oder sediert, könnten
eines Tages zorniger erwachen.</span></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div style="text-align: justify;">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><br /></span></span></span></div>
<div class="MsoNormal">
<span style="font-family: inherit;"><span style="font-family: "helvetica neue" , "arial" , "helvetica" , sans-serif;"><span style="font-family: inherit;"><br /></span></span></span></div>
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</style>Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-77255726389211636752018-05-21T17:48:00.001+02:002023-05-24T16:26:41.594+02:00Beobachtungen: Das Uneindeutige ist ein Opfer unserer Gegenwart.<div style="text-align: justify;">
<i>Subtilität ist ein potenzielles Opfer einer Kultur der Eindeutigkeit, die sich in Bewertungsschemata wie "like"/"dislike" manifestiert. Über kurz oder lang steht zu befürchten, dass sich dadurch Kreativität und Tiefe verlieren könnten. Denn eine Kultur, die Urteile über kulturelle Lebensäußerungen nur anhand von zwei entgegengesetzten Punkten eines Spektrums bewerten kann, wird der Komplexität menschlichen Lebens nicht gerecht. </i></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Unsere digitale Gegenwart ist alles andere als subtil. Ständig werden wir dazu aufgefordert Produkte zu bewerten oder gar Menschen. "Like" und "Dislike", Rankings und Noten gewinnen zunehmend an Bedeutung. Der Soziologe Steffen Mau hat das 2017 in seinem Buch "Das Metrische Wir" als "Quantifizierung des Sozialen" bezeichnet und davor gewarnt, dass die zunehmende Vermessung des Lebens auch zu einer "Spaltbarkeit des Sozialen" führe. </div>
<div style="text-align: justify;">
Eine künstlich erzeugte Vergleichbarkeit all unserer sozialen (Lebens-)Äußerungen scheint in der Tat Maßstäbe zu verschieben. Diese Aussage ist zunächst nicht normativ gemeint. Sie soll lediglich dafür sensibilisieren, mögliche Veränderungen wahrnehmen zu können.</div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Verstehen wir Kultur im weitesten Sinne als die (geistigen) Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, so betreffen Veränderungen des Sozialen selbstverständlich auch die Kultur. Bewertungen in Form von Noten, Punkten, Likes oder Sternchen stellen an der Oberfläche Eindeutigkeit her. Sie lassen es zu, Restaurants, Hotels oder Influencer, aber auch kulturelle Erzeugnisse wie Bücher, Filme, Tonträger in eine Reihenfolge zu bringen. </div>
<div style="text-align: justify;">
Diese Rankings erleichtern auf den ersten Blick das Leben. Sie zeigen an, welche Gaststätten man lieber meiden, um welche Herbergen man besser einen Bogen machen sollte. Auch lässt sich an ihnen ablesen, welche Youtuber oder Musikerinnen gerade hoch im Kurs stehen und augenscheinlich Beachtung verdient haben. </div>
<div style="text-align: justify;">
Bewertungen provozieren eine Kultur der Eindeutigkeit, vielleicht gar der Konformität. Trends nicht aufzunehmen, wird zum Luxus. Sich Bewertungen zu verweigern, wird fast unmöglich. Letztere werden gar zu einer Waffe, die Enttäuschte gegen Hotelbetreiber, Restaurantbesitzer oder Kulturschaffende einsetzen können. Sind die schlechten Noten für einen Gasthof zum Beispiel Ausdruck einer persönlichen Kränkung oder einer ernsthaften Warnung vor ungenießbaren Speisen? Oder: Ist die miserable Bewertung eines neuen Buches auf die stümperhafte Komposition der Charaktere oder umstrittene Äußerungen des Autors zurückzuführen?</div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
An diesem Punkt werden Bewertungen bzw. Rankings paradoxer Ausdruck einer Kultur der Eindeutigkeit, die zugleich Uneindeutigkeiten hervorbringt. Ist ein "Like" immer auch ein "Dislike" seines Gegenteils? </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Erst dort, wo sich diese Frage stellt, wird es spannend. Erst hier setzen Diskurse an, wird Kultur lebhaft. Doch die Paradoxie der Kultur der Eindeutigkeit lebt davon, dass diese Debatten – wenn sie denn überhaupt geführt werden – ausgelagert, d.h. unabhängig von der ursprünglichen Lebensäußerung, geführt werden. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Über kurz oder lang steht zu befürchten, dass die Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit der massenhaften Bewertung einer Lebensäußerung zu einem Verlust an Kreativität und Tiefe von Werken führt. Zugänglichkeit, d.h. Massentauglichkeit könnte einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Natürlich ist diese Sorge nicht neu. Sie stellt sich ob der immer weiter zunehmenden Bedeutung von Rangfolgen allerdings mit immer größerer Dringlichkeit. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Kultur bedarf eines subtilen Elements. Vorhersehbarkeit lässt dem Betrachter eines Werkes, der Leserin eines Romans keinen Raum, sich eigene Gedanken zu machen. Dabei besteht die Absorptions-Kraft eines Textes oder eines filmischen Epos ja gerade darin, Leerstellen selbst füllen zu können. Eine raumgreifende Kultur der Eindeutigkeit bedroht diesen Zustand des Denkens. </div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
</div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-34493075590310563652018-04-17T22:27:00.000+02:002018-10-02T22:28:04.359+02:00Essay: Schafft die Lehrpläne ab!<div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<i><span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;"><span>Digitalisierung - es ist das
Schlagwort der Stunde. Auch und gerade, wenn es um unser Schulsystem geht. Aber
wie genau sollten Schulen auf sie reagieren? Es wird jedenfalls kaum genügen
mehr Whiteboards oder Computer anzuschaffen. Es braucht einen Wandel des
Lernens. Der erste Schritt dahin wäre es, die starren Lehrpläne
abzuschaffen. </span></span></span></i></div>
<div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<br /></div>
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;">
</span></span><div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;"><span>Als der Filmemacher Werner
Herzog vor zwei Jahren auszog, um in der Dokumentation „Wovon träumt das
Internet?“ aus einer neuen Welt zu berichten, traf er auf buddhistische Mönche,
die nicht meditierten, sondern twitterten, Menschen, die vor Handystrahlen in
die Wildnis flohen und Computerexperten, die an Fußball-Robotern arbeiteten,
die dereinst Nationalmannschaften schlagen können sollten. All diese Beispiele
waren Ausdruck einer Welt im Übergang vom Analogen ins Digitale. Diese Welt der
zwei Geschwindigkeiten ist mittlerweile allerorten mit Händen zu greifen. Es
gibt kaum noch einen Lebensbereich, der nicht von diesem Wandel betroffen ist.
Das so allgegenwärtige Schlagwort „Digitalisierung“ ist aus keiner Debatte mehr
wegzudenken. Auch und gerade dann nicht, wenn es um das zukünftige
Rollenverständnis von Schulen oder das Schulsystem im Allgemeinen geht.</span></span></span></div>
<div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<br /></div>
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;">
</span></span><div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;"><span>Klar ist, dass die derzeit
föderal erstellten Lehrpläne nicht mehr zeitgemäß sind. Sie sind starr und
gehören in ihrer jetzigen Form abgeschafft. Um den tiefgreifenden Veränderungen
unserer Zeit Rechnung zu tragen, müssen Schulsysteme den Spagat zwischen alter
und neuer Welt meistern. Allein mit mehr Whiteboards, Smartphones in
Klassenzimmern oder digitalen Klassenbüchern wird dies nicht gelingen. Vielmehr
braucht es eine grundlegend neue Herangehensweise an die Vermittlung von
Wissen. Moderne Lehrpläne sollten auf zwei Säulen ruhen. Die erste trägt der
analogen Welt Rechnung. Ziel hierbei sollte es sein den Unterricht auf einem
Bildungskanon aufzubauen, der Schülern hilft eine Art Landkarte des Wissens in
verschiedenen Gebieten zu erwerben. Neben den naturwissenschaftlichen Fächern,
der jeweiligen Landessprache und Fremdsprachen, sollten auch Fächer wie
Geschichte oder Philosophie darin aufgenommen werden. Im Idealfall ist dieser
Bildungskanon der Ausgangspunkt dafür sich auf der Basis erworbenen Wissens
eigene Gedanken zu machen und diese für eine Welt im Wandel fruchtbar
einzusetzen. Der Bildungskanon sollte sich zuvorderst nicht darum kümmern
Schülern bloß „skills“ für einen späteren Arbeitsplatz zu vermitteln, sondern
unabhängig davon Freude am Lernen und am „gebildet sein“ wachrufen. Gerade in
Anbetracht einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt erscheint dies weit
wertvoller als Fähigkeiten zu erwerben, die nach einer Weile nicht mehr gefragt
sind. </span></span></span></div>
<div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<br /></div>
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;">
</span></span><div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;"><span>Neben der analogen Säule
entfernt sich die zweite, digitale Säule von den starren Lehrplänen der
Gegenwart. Vorstellbar wäre eine regelmäßige Zusammenkunft von Lehrern,
Schülern und Politikern auf Ebene der Bundesländer, um aktuelle Entwicklungen
des Schulsystems zu diskutieren. Die Konferenzen, die in regelmäßigem,
mehrjährigem Abstand stattfinden sollten, stellen hierbei folgende Frage in den
Mittelpunkt: „Was und wie wollen wir lernen?“ – Auf dieser Basis diskutieren
die beteiligten Akteure Bildungsfragen und beschließen am Ende in gemeinsamer
Abstimmung Lehrpläne für die kommenden Jahre. Die Schwerpunkte des Plans
könnten hierbei zum Beispiel aktuell debattierte technische Innovationen oder
gesellschaftliche Entwicklungen reflektieren. </span></span></span></div>
<div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<br /></div>
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;">
</span></span><div style="text-align: justify; text-justify: inter-ideograph;">
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;"><span>Deutlich wird in diesem
Vorschlag, dass es nicht nur darum geht Schüler mit besserem Internet in
Schulen auszustatten oder sie im Programmieren zu unterrichten. Schüler sollten
nicht nur Konsumenten digitaler Produkte sein, sondern mündige Staatsbürger,
die schon früh die geistige Flexibilität erlernen, die eine Welt im Übergang
verlangt. </span></span></span></div>
<span style="font-size: small;"><span style="font-family: "Helvetica Neue", Arial, Helvetica, sans-serif;"></span></span>Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-79826656667083072652018-02-17T21:31:00.001+01:002023-09-28T13:26:24.386+02:00Beobachtungen: Zukunft ohne Menschen. – Digitale Visionen und ihr Einfluss auf Gesellschaften. <div style="text-align: justify;">
<i>Der Begriff "Zukunft" klang lange verheißungsvoll. Er stand für gesellschaftliche Visionen, Aufstieg, Wandel; kurzum für bessere Zeiten. Zugleich hatte er auch immer schon ein bedrohliches Element. Wenn wir heute von Zukunft reden, ist dieser Begriff stark an die Digitalisierung und die Vorstellungen einiger weniger Technologie-Unternehmen geknüpft. Menschen kommen darin - so scheint es mir - nur noch als Platzhalter vor.</i></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Roger Willemsens letztes Buch, das ein Fragment geblieben ist, stellt eine scheinbar einfache Frage: "Wer waren wir?". Er unternimmt darin das Gedankenexperiment aus der Zukunft auf unsere Gegenwart zurückzuschauen und stellt fest: "(...) da die großen Zukunftsträume ausgeträumt oder wahr geworden sind, stellen sich die Menschen die Zukunft oft nur noch unscharf vor. Nur Zeiten, die vieles zu wünschen übriglassen, sind auch stark im Visionären." Wir stellten uns die Zukunft "(...) als die Wiederkehr des Vergangenen oder schlicht als Erlösung" vor, schreibt er weiter.<br />
<br />
"Erlösung" erscheint mir ein treffender Begriff für viele Ideen zu sein, die aus dem Herzen des 21. Jahrhunderts, dem Silicon Valley in Kalifornien, kommen. Dort arbeitet man an Künstlicher Intelligenz, die das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen weit übersteigen soll, oder an Möglichkeiten den bis dato unvermeidlichen Tod zu überwinden. "Zukunft" geht hierbei immer einher mit Selbstoptimierung oder der Übersteigung des Menschlichen.<br />
<br />
Die Technikgläubigkeit der Gegenwart und eine beinahe manische Fixiertheit auf die "Zukunft", die hierbei synonym gesetzt werden könnte mit dem so allgegenwärtigen wie undeutlichen Schlagwort "Digitalisierung", sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass keine dieser "Visionen" eine
ernsthafte Programmatik entwickelt, die das Leben aller Mitglieder einer
Gesellschaft verbessert.<br />
Selbstverständlich lässt sich nicht von der Hand weisen, dass z.B. die Digitalisierung der Medizin das Leben vieler Patienten verlängern und ihre Lebensqualität verbessern kann oder dass die sich stetig erhöhenden Rechenkapazitäten von Computern Vorhersagen von Erdbeben, Orkanen o.ä. durch die Auswertung enormer Datenmengen präziser machen können. Dennoch scheint vielen Ideen ein Sinn für das Gemeinwohl zu fehlen. Elemente, die Gesellschaften einen können, entdeckt man nicht. Alle gehen konsequent vom Individuum und der Optimierung des jeweiligen Lebens aus. Materielle Unterschiede, verschiedene Ansichten, variierende intellektuelle Kapazitäten oder gesellschaftliche Gegebenheiten, werden dabei jedoch oftmals ausgeblendet. <br />
<br />
Das Versprechen, dass die Zukunft für die eigenen Kinder dereinst (noch) besser würde, erfüllt sich für viele heute nicht mehr. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk sieht dadurch die Staatsform der <a href="http://www.sueddeutsche.de/politik/populismus-demokratie-bricht-auseinander-1.3860653" target="_blank">liberale Demokratie bedroht</a>.<br />
Doch anstatt das öffentlich echte Ideen entworfen würden, die Gemeinwohl und Bürgersinn in den Mittelpunkt des (politischen) Denkens stellen und die Visionen vom Menschen aus denken, wird die Leerstelle "Zukunft" durch immer enger geschnittene Räume, in denen Freiheitsgewinne für einzelne Gruppen erlebbar sind bzw. sein sollen, besetzt. So lässt sich auf Dauer keine gesamtgesellschaftliche Vision entwickeln.<br />
<br />
Die Zukunft, die sich das Silicon Valley und viele Unternehmer aus der Technologie-Branche vorstellen, geht über den Menschen hinaus. Er ist - so meine ich - nicht der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Die Zukunft gilt somit nicht jedem unbedingt als ein Synonym für bessere Zeiten.</div>
<div style="text-align: justify;">
Begreifen wir die Zukunft als eine Denkfigur bzw. als Teil der "breiten Gegenwart", die Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt, und stellen uns immer wieder Roger Willemsens Frage "Wer waren wir?", oder besser: "Wer werden wir gewesen sein?", können wir möglicherweise grundsätzliche Thesen formulieren, die Gemeinwohl und Bürgersinn immer mitdenken. <br />
<br />
Arno Schmidt schrieb schon 1955 in "Seelandschaft mit Pocahontas": "der
Grundirrtum liegt immer darin, daß die Zeit nur als Zahlengerade gesehen
wird, auf der nichts als ein Nacheinander statthaben kann. <In
Wahrheit> wäre sie durch eine Fläche zu veranschaulichen, auf der
Alles <gleichzeitig> vorhanden ist; denn auch die Zukunft ist
längst <da> (die Vergangenheit <noch>) und in den erwähnten
Ausnahmezuständen (die nichtsdestoweniger <natürlich> sind!) eben
durchaus schon wahrnehmbar." <br />
<br />
<br />
<br /></div>
Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-28082980284904792082018-01-04T20:46:00.003+01:002023-11-30T10:11:21.592+01:00Essay: Jenseits von Tempo und Flexibilität. – Digitales Denken und Bildung.<div style="text-align: justify;">
<i>Deutschland braucht ein neues Bildungssystem; besser heute als morgen! - So fordern es Journalisten, Politiker und Unternehmer gleichermaßen. Getrieben wird diese Forderung nach einer umfassenden Reform von zwei entgegengesetzten Polen. Einer erstaunlichen Digitalisierungseuphorie einerseits und der Angst vor Robotern, die unterschiedlichen Schätzungen nach zufolge zu mehr oder minder massiven Arbeitsplatzeinbußen führen könnten, andererseits. Erstaunlich dabei: Ein Großteil der Forderungen verlangt nach Flexibilität und Tempo. Kaum einmal steht Bildung an sich im Mittelpunkt. </i></div>
<div style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div style="text-align: justify;">
Erst kürzlich kommentierte <a href="http://www.sueddeutsche.de/bildung/digitalisierung-deutschland-braucht-dringend-ein-neues-bildungssystem-1.3804449" target="_blank">Alexander Hagelüken in der SZ</a>: "Arbeitnehmer (...) müssen Fähigkeiten erwerben, die sie ganz allgemein beruflich mobiler werden lassen, für den Wechsel in eine andere Stelle oder Firma. (...) Die Digitalisierung verlangt nach Tempo." </div>
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Selbst wenn Hagelükens Kommentar viele kluge Gedanken enthielt - die Warnung beispielsweise, dass ob des Hypes um die so genannte "Industrie 4.0" viele wichtige Fragen, die Arbeitnehmer betreffen, ausgeblendet würden - stimmt er doch ein in den vielstimmigen Chor derer, die den mannigfaltigen Veränderungen unserer Lebenswelt durch die Digitalisierung mit Tempo und Flexibilität begegnen wollen. Stichworte hierbei sind oftmals "Weiterbildung", "lebenslanges Lernen" oder der Erwerb von bestimmten Fähigkeiten, die Schülern oder Studenten auf dem Arbeitsmarkt weiterhelfen sollen.</div>
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Selten steht Bildung selbst im Mittelpunkt des Interesses der Reformvorschläge. Welch ein Fehler! - Es bedarf - bevor Politiker, Journalisten oder Unternehmer mit unausgegorenen Ideen vorpreschen - neben einer Annäherung an den Begriff der Bildung, einer Charakterisierung des Einflusses der Digitalisierung auf unser Denken. Daraus lassen sich für eine Bildungssystem-Reform einige grundlegende Einsichten ableiten. </div>
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Andreas Rödder schreibt in seinem Buch "21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart": "(...) wer einen Text im Internet liest, neigt dazu, über die Hyperlinks den Querverweisen zu folgen - zu "surfen" -, statt ihn linear von vorn nach hinten zu erfassen". - Prägten "(...) Hierarchisierung und Priorisierung, Ursache und Folge, Kausalität und Genealogie" unser Denken in der Moderne seit der Aufklärung, könnte die Digitalisierung dazu führen, dass sich unsere Art zu denken grundlegend wandelt. </div>
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Nehmen wir Rödders These ernst, so muss unser Bildungssystem uns dazu befähigen beide Arten des Denkens nachzuvollziehen und sich in ihnen zu bewegen. Nur weil Online-Lexika wie Wikipedia oder Suchmaschinen immer in greifbarer Nähe sind, verlieren Fakten- sowie Allgemeinwissen nicht zwangsläufig an Bedeutung. Ohne diese Arten von Wissen herrschten Orientierungs- und Rastlosigkeit vor. Beständig würden wir die einfachsten Kausalzusammenhänge nachprüfen, kurz registrieren und in der nächsten Sekunde wieder vergessen. </div>
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Gleichzeitig sollten wir schon in der Schule durch den Ausbau von Fächern oder Übungen wie Kreatives Schreiben lernen unseren Gedanken freien Lauf zu lassen und sie schriftlich niederzulegen. Diese Übungen würden dazu beitragen der Linearität des Denkens der Moderne eine neue Art des Denkens hinzuzufügen.</div>
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Neben der Befähigung zum Denken, sollten Bildungssysteme dazu beitragen, dass Schüler und Studenten in der Lage sind einen Wahrheitsbegriff zu bilden. Sie müssen in Zeiten ständig expandierender, immer griffbereiter Informationen in der Lage sein Fakten zu prüfen und Falschmeldungen erkennen zu können. Quellen einordnen und bewerten zu können, erscheint heute besonders wichtig. </div>
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Darüber hinaus erscheint es - auch wenn dies anachronistisch klingen mag - wichtig, Schülern und Studenten Freude an Bildung und am gebildet sein mitzugeben. Ganz ohne Hintergedanken an den Arbeitsmarkt oder zukünftige Jobaussichten.</div>
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Bloß Fähigkeiten ("skills") zu vermitteln, erscheint angesichts der Digitalisierung, die viele als eine grundlegende Umwälzung begreifen, allzu kurz gegriffen.</div>
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Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-2270805909757184583.post-17262442702557958132017-10-29T16:16:00.001+01:002023-09-28T13:26:15.787+02:00Intellektuelle Streifzüge. – Persönliche Annäherungen an das Denken von Hans Ulrich Gumbrecht.<div style="text-align: justify;">
<i>Der Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht ist eine Inspiration für das eigene Denken. Dieser Text ist eine persönliche Annäherung. </i></div>
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Ein Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht ist wie der Gang durch eine weite, verwinkelte Bibliothek. Jede Regalreihe hält neue Überraschungen bereit. Man möchte permanent stehen bleiben, einen alten Folianten oder ein neues, noch druckfrisch duftendes Buch aus einem der vielen Regale ziehen und sich darin versenken. Am Ende eines jeden Streifzuges durch diese Bibliothek ist man ausgestattet mit einem erklecklichen Stapel neuer Bücher, die zu lesen es sich lohnt, und hat einen Notizblock voll neuer Denkansätze und Fragen. </div>
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Ich treffe Hans Ulrich Gumbrecht zu einem frühen Frühstück an einem kalten Oktobertag in Mainz. Es ist noch dunkel als wir unser Gespräch beginnen, doch Sepp, wie er sich mir vorstellt, ist hellwach. - Edmund Husserl hat einmal geschrieben, dass der Philosoph immer neuer Beginner sei. Diese Beschreibung scheint mir auf Hans Ulrich Gumbrecht gut zuzutreffen. Es gibt - bemerke ich bei meiner Vorrecherche - kaum ein Thema über das er nicht schon publiziert hat. Er schreibt über Fußball, den Typus neuer Intellektueller im Silicon Valley oder über "unseren Ethik-Hype". Über zweitausend Texte hat er in den letzten vierzig Jahren publiziert; darunter gewichtige Bücher wie "Production of Presence. What Meaning Cannot Convey" oder den phänomenologischen Versuch "In 1926. Living On The Edge Of Time", welches den Leser direkt in das Jahr 1926 entführen soll. - Sepp ruht sich nicht darauf aus originelle Gedanken, die er einst gehabt hat in einem Gespräch zu reproduzieren, sondern lässt sich darauf ein dem Gespräch seinen Lauf zu lassen. Möglich macht dies seine ungeheure Belesenheit. Er ist jederzeit in der Lage Autoren geschickt miteinander zu verknüpfen, Ideen aufzugreifen und so den Denkrahmen abzustecken, in dem wir uns bewegen. Die persönlichen Erfahrungen als Professor in Stanford, dem Ursprung des Silicon Valley, lässt er ebenfalls einfließen und macht seine Gedanken so lebendig. In den anderthalb Stunden, die wir sprechen ist er voll und ganz im Gespräch. Es existiert nur die Gegenwart, alle anderen Termine, die er hat - Seminare, Reisen zu weiteren Vorträgen überall auf der Welt - spielen in dieser Sekunde keine Rolle. </div>
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Großen Raum nimmt in unserem Gespräch die Digitalisierung ein. Sepp hat einmal gesagt er lebe dort, wo sich das 21. Jahrhundert ereignet. Liest man diesen Satz einfach so, könnte man schnell auf die Idee kommen er sei - wie im Silicon Valley üblich - mit Überschwang und Euphorie gesagt worden. Doch spricht man mit Gumbrecht, liest seine Texte und vernimmt die Zwischentöne, ist dies zunächst eine bloße Feststellung. Natürlich schwingt eine gewisse Faszination mit, wenn er über Studenten spricht, die binnen weniger Stunden viele Millionen für ein Start-Up einsammeln und am Nachmittag mit Verve und Verstand über Nietzsche oder Heidegger diskutieren, aber gleichzeitig gilt, dass er mit der Digitalisierung weder Hoffnung noch Pessimismus verbindet. "Die Digitalisierung ist so wenig abstellbar wie eine Sonnenfinsternis", sagt er. - Sepp ist, so lese ich seine Bücher und nehme ihn in unserem Gespräch war, ein feiner Beobachter unserer Zeit. Er ist kein Chronist, vielmehr ein Phänomenologe, der Beobachtungen für andere erlebbar macht und ihnen einen intellektuellen Rahmen gibt. Er denkt weit über die ausgetretenen Denkpfade hinaus und erlegt sich keine intellektuellen Scheuklappen auf. Er nennt das "riskantes Denken". - Intellektuelle Provokationen sind fruchtbar. So erzählt er von einem Kollegen, der unter anderem behaupte, George W. Bush sei einer der größten Präsidenten der US-Historie gewesen. Selbst, wenn er kaum glaube, dass dieser Kollege es ernst meine, löse er damit im Idealfall aus, dass andere sich über den Satz Gedanken machen, sagt Gumbrecht. </div>
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Dieser Text ist nicht der Ort alle Themen wiederzugeben, die wir miteinander besprochen haben. Diese müssen erst systematisch durchgedacht werden. Der Text ist vielmehr ein persönlicher Versuch sich an das Denken von Hans Ulrich Gumbrecht anzunähern. Basis für seine intellektuellen Gedankenspiele sind - so ist mein Eindruck - eine tiefe Faszination für eine Vielzahl an Themen und vor allem eine tiefgreifende Belesenheit. Gerade in heutigen Zeiten verhindert der Mangel an Belesenheit bei vielen in meinen Augen fruchtbare Diskurse, die über das Austauschen bloßer Befindlichkeiten hinausgehen. Sepps Denken ist mir eine große Inspiration. </div>
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<i></i><br />Tobias Lentzlerhttp://www.blogger.com/profile/02609491490522487505noreply@blogger.com