09 Juni 2017

Kommentar: Demokratie als Wettstreit der Ideen

Nicht erst die britische Parlamentswahl hat gezeigt, dass Politikstile, die sich größtenteils an Umfragen ausrichten zum Scheitern verurteilt sind. Politische Entscheidungen bedürfen immer des Weitblicks. Das Tagesgeschäft und die Kurzlebigkeit unserer medial geprägten Welt dürfen den Blick darauf nicht verstellen.

Der 8. Juni hätte für die britische Premierministerin Theresa May ein Freudentag werden sollen. Als sie im April dieses Jahres überraschend Neuwahlen ankündigte, sagten viele Demoskopen einen ungefährdeten Sieg und einen Ausbau der absoluten Mehrheit der Tories, ihrer konservativen Partei, voraus. Die Wahrheit ist: May hat mit den Tories die absolute Mehrheit im britischen Parlament verloren. Ihr Herausforderer Jeremy Corbyn hingegen hat mit seiner Labour-Partei viele Sitze hinzugewonnen. Der von vielen heraufbeschworene Untergang  der Partei Corbyns hat nicht stattgefunden.
Die britische Premierministerin hat sich verspekuliert. Sie wollte durch einen grandiosen Wahlsieg ihre Position in den Austrittsverhandlungen Großbritanniens aus der Europäischen Union ("Brexit") stärken. Das ist nicht gelungen. Stattdessen steht May in der Kritik ohne Not Neuwahlen angesetzt zu haben. Auch Wahlkämpferqualitäten werden ihr abgesprochen.

Doch Analysen, die Mays Versagen in den Mittelpunkt rücken, verkennen ein Muster, das weit über Großbritannien hinaus eine Rolle spielt. Wer sein politisches Schicksal an Umfrageergebnisse knüpft oder gar selbst immer wieder Umfragen in Auftrag gibt um eine Politik zu machen, die möglichst wenigen Menschen wehtut, verkennt, dass hehre politische Ziele nur durch Ausdauer und Langmut erreicht werden können. Beispielhaft für eine Politik, die über den Tag hinaus denkt, ist in Deutschland noch immer der erste SPD-Bundeskanzler Willy Brandt, der in den 1960er-Jahren durch seine, gemeinsam mit Egon Bahr entwickelte Ostpolitik eine langsame Annäherung West-Deutschlands an die gesamte Sowjetunion ermöglichte.

Visionen sind nicht immer populär. Oftmals laufen sie sogar diametral der gegenwärtigen Wahrnehmung oder den Wünschen der Bürger entgegen. Deshalb muss eine langfristig gedachte Politik den schwierigen Doppelschritt vollziehen ein offenes Ohr für die Sorgen und Bedürfnisse, die Wünsche und Gestaltungsideen der Bürger haben, zugleich aber auch immer wieder unabhängig davon agieren. Selbstverständlich müssen Vorstellungen und Pläne immer wieder öffentlich verhandelt und mit Verve diskutiert werden. Doch gerade in einer von Kurzlebigkeit geprägten Welt sind Unabhängigkeit von populären Meinungen, von "Hypes" und einschneidenden Ereignissen entscheidend. Demokratie ist im Idealfall ein lebendiger Wettstreit der Ideen. Er sollte sich nicht von aktuellen Trends korumpieren lassen, die morgen wieder verblasst sind. Vielmehr sollten echte Probleme in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskures gestellt werden.

Begreifen wir Demokratie als eben jenen lebendigen Wettstreit der Ideen, so ist jeder Bürger aufgerufen sich daran zu beteiligen und ihn aktiv mitzugestalten. Das Tagesgeschäft und die Kurzlebigkeit unserer medial geprägten Welt dürfen den Blick darauf nicht verstellen.