03 Juni 2013

Klagen, Wahn und Witz. – Eine Rezension zu dem Theaterstück. "Die Brüder Karamasow"


Dostojewskijs großer Roman "Die Brüder Karamasow" hat nun eine Bühnenfassung von Luk Perceval am Hamburger Thalia-Theater erhalten, die in erschreckender Weise deutlich macht wie wichtig der Roman für die Weltliteratur und jeden einzelnen Menschen mit. Vielleicht ist Perceval eine der wichtigsten Inszenierungen der nächsten Jahre gelungen. Auf jeden Fall zeigt sie, warum das Theater noch lange nicht redundant ist!

Über einen solch emotionalen Theaterabend wie den 01. Juni 2013 am Thalia Theater in Hamburg zu schreiben, ist in seiner Ganzheit fast unmöglich. Immer wieder sinken die Zuschauer deutlich vernehmbar seufzend in ihre Sessel zurück, verknoten ihre Hände ineinander oder verlassen gar den Theatersaal vor der Pause. Auch der sonst so übliche Parfumduft, der normalerweise in den Theatern hängt, scheint heute Schweiß gewichen zu sein. Abende wie dieser zeigen warum Theater keine redundante, verspießerte Kultureinrichtung ohne Zukunft ist, sondern ein Hort der Begeisterung und des Nachdenkens - ein magischer Bann.
Der großartige und zurecht oftmals hoch gelobte belgische Regisseur Luk Perceval, verarbeitet mit einem kongenialen Ensemble den letzten Roman von Fjodor M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, der 1880 erschien und als eines der wichtigsten Werke der Literaturgeschichte angesehen wird. Der Roman sowie die stellenweise vom originalen Erzählfluss Dostojewskijs abweichende Theaterfassung, erzählt die Geschichte der drei Brüder Dimitrij Karamasow (in vollendeter Form gespielt von Bernd Grawert), Iwan (mutig die Wage zwischen Wahnsinn und Witz, Intellektualität und Verbortheit haltend, Jens Harzer) und Aljoscha (alle Fäden in der Hand haltend, auseinanderdröselnd und neu zusammenführend, Alexander Simon), die allesamt von ihrem gestrengen und geizigen, lieblosen und bloß seinen Lüsten nacheifernden Vater Fjodor (glänzend und nicht mehr zu überbietend gespielt vom Thalia-Theater-Gaststar Burghart Klaußner) unterdrückt werden bis dieser eines Tages ermordet wird. Dostojewskij baut im Vordergrund seiner Geschichte einen spannenden Kriminalfall auf, in der am Anfang ganz offensichtlich Dimitrij aufgrund seines Hasses und des offen verkündeten Wunsches seinen Vater zu töten, als Täter angesehen wird. Dass in Wahrheit Smerdjakow (Rafael Stachowiak), der als "Bastardssohn" bezeichnete Diener von Fjodor den Mord an ihm begangen hat, kümmert weder den Richter noch den Leser beziehungsweise das Publikum besonders. Dostojewskij lässt seine Figuren über Liebe und Hass, den Glauben an Gott, die Welt, das Gute oder Böse, Selbstmord und Lust, Leidenschaft, Rachsucht, Vergeltung und das Morden nachdenken. Auch Eifersucht, die sich sowohl in Dimitrijs Verlobter Katerina Iwanowna (mit Anmut und Bedacht gespielt von Alicia Aumüller) als auch zwischen Vater Fjodor und dem Erstgeborenen Dimitrij, die um dieselbe Dame - Gruschenka (verführerisch-lassziv mit einem Hang fürs Tragische dargeboten von Patrycia Ziolkowska) - buhlen, zeigt, wird thematisiert.
Perceval und sein wirklich bis in die Nebenrollen exquisit besetztes Ensemble schaffen es, eine so geladene, intensive und befremdlich-drückende Atmosphäre zu schaffen, dass jeder Zuschauer nach den vier Stunden, die das Stück dauert, erst einmal laut durchatmen muss. Was hatte man da gerade gesehen? Ohne Zweifel ein herausragendes Stück Theatergeschichte!? Aber was hieß das für den jeweils einzelnen? - Die meisterliche Annährung an Dostojewskijs geschickt konstruierte Figuren und deren Gedankenwelt, stieß in jedem ein Tor in die oftmals verdrängten, selben Gedanken, die die Charaktere der Geschichte quälen, weit auf. Das machte den Abend für viele Zuschauer so unbequem und herausfordernd.
Neben der wirklich brillanten Geschichte, die Perceval mit Susanne Meister kongenial adaptiert hat, war auch das Bühnenbild samt der für das Stück wichtigen Klanginstallation von Annette Kurz eine Säule des Erfolgs dieses Stückes. Unterschiedlich dicke und hohle Metallrohre, hingen von der Decke auf ein sonst karges Bühnenbild herab. Sie waren beweglich und gaben je nach Dicke und Länge unterschiedlich hohe Töne von sich, die durchdringend wie das Läuten einer Kirchturmuhr waren. Ansonsten standen auf dem mit kyrillischen Buchstaben beschriebenen Boden Schemel herum. Auch Bücher lagen wild verteilt im Raum. Das Zentrum der Bühne bildete neben der Klanginstallation jedoch eine Kirchenglocke, die nicht ganz in der Mitte der Bühne stand.
Gedanken über den Glauben an Gott, die Existenz desselben oder Fragen nach dem Sinn des Lebens, der "Kollektivschuld" oder das berühmte Gleichnis vom greisen Großinquisitor, der Jesus, der zurück auf die Erde kehrt einkerkern lässt, werden die Zuschauer eines perfekten Theaterabends noch lange zum Nachdenken anregen. - Nach der Vorstellung konnte man unter vielen Zuschauern Getuschel hören. Viele zeigten sich beeindruckt und begeistert von dem Stück. Nur eine Stimme sagte deutlich vernehmbar: "Dostojewskijs Poesie verträgt keinen Lärm". Damit spielte der Zuschauer auf den oftmals laut brüllenden Dimitrij an. - Man mag diese Kritik ernst nehmen oder nicht - ein schöner Satz bleibt dieser allemal.

Zuerst veröffentlicht auf: livekritik.de